Debatte um Stammzellgesetz. Anmerkungen zum Begriff der menschlichen Existenz als Diskurshintergrund

22. Februar 2008


I.
Im März entscheidet der Deutsche Bundestag über die Änderung des Stammzellgesetzes.

Die Debatte dazu lief bereits, mit erstaunlichen Positionen und ungewöhnlichen überparteilichen „Koalitionen“. Ingesamt liegen den Abgeordneten vier fraktionsübergreifende Gruppenanträge zur Änderung des Stammzellgesetzes vor:

16/7981 (Gesetzentwurf Abgeordnete: Änderung des Stammzellgesetzes): Es geht im Kern um die Stichtagsverschiebung vom 1. Januar 2002 auf den 1. Mai 2007.

16/7982 (Gesetzentwurf Abgeordnete: Menschenfreundliche Medizin – Änderung des Stammzellgesetzes): Es geht im Kern um die Abschaffung des Stichtages und die Liberalisierung der Stammzellforschung.

16/7983 (Gesetzentwurf Abgeordnete: Stammzellgesetz): Es geht um ein Verbot der embryonalen Stammzellforschung.

16/7984 (Gesetzentwurf Abgeordnete: Änderung des Stammzellgesetzes) bzw. 16/7985 (inhaltsgleicher Antrag Abgeordnete: Keine Änderung des Stichtages im Stammzellgesetz – Adulte Stammzellforschung fördern): Es geht im Kern um die Beibehaltung des Status quo: Forschung soll nur an Stammzellen aus dem Ausland, die vor dem 1. Januar 2002 gewonnen wurden, stattfinden dürfen.

II.
Die Position der katholischen Kirche zum Thema Stammzellforschung ist bekannt: Embryonen müssen als menschliches Leben geschützt werden – ohne Wenn und Aber –, daher muss die „verbrauchende Forschung“ verboten werden. Dem entspricht im Wesentlichen Antrag 16/7983. Im übrigen wird aber im Antrag nicht ethisch bzw. theologisch-anthropologisch argumentiert, sondern medizinisch-forschungspragmatisch (erhöhte Gefahr von Tumorbildung nach Organentwicklung aus Stammzellen; Reprogrammierbarkeit adulter Stammzellen zu pluripotenten Stammzellen, ethisch unproblematische und medizinisch leicht mögliche Entnahme pluripotenter Stammzellen aus Nabelschnurblut und Fruchtwasser).

Diese Argumente kann ich in der Sache nicht nachvollziehen, da mir die medizinischen Kenntnisse fehlen. Mir geht es auch um grundsätzliche Fragen, also eher um die ethischen bzw. theologisch-anthropologischen Argumente. Der Schlüsselbegriff ist dabei die Potentialität menschlichen Lebens.

III.
Es gibt, philosophisch betrachtet, keinen sinnvolleren Ursprungszeitpunkt als den Ursprung selbst – und der liegt nun einmal in der Zeugung. Alle anderen Zeitpunkte sind willkürliche Fristenlösungen, die auch anderes liegen könnten, ohne Verschlechterung der Argumentationslage. Dabei ist der Beginn des menschlichen Lebens kein akademischer Denksport, der abgehoben von der Wirklichkeit stattfindet. Was eine Ausweitung der Fristen betrifft, mag das unter den Punkten IV. und V. Angeführte genügen, die praktische Relevanz klarzustellen.

Wir wissen, dass der gerade gezeugte Mensch alles hat, was es braucht, um ein Mensch zu werden, und der Mensch hat alles, um Person zu werden. Dabei sagt das nicht nur die katholische Kirche vom vermeintlich hohen Ross ewiger religiöser Wahrheiten. Gerade die Genforschung, die den Nachweis erbrachte, dass bereits zum Zeitpunkt der Zeugung das gesamte Genmaterial vorliegt und sich dieses danach lediglich phänotypisch entfaltet, gibt der Kirche in einer ihrer uralten Vermutungen Recht: Der Mensch/die Person ist von Beginn an in potentia angelegt.

Daher sollten wir das menschliche Lebewesen von Anfang an zuerst und vor allem als eine „potentielle Person“ betrachten, die im moraltheoretischen Kontext wie eine Person zu behandeln ist. Also steht die Tatsache, dass das Leben der embryonalen Person beendet wird, gegen die vage Hoffnung, aus dieser Tötung medizinischen Nutzen zu ziehen, um künftig anderen Personen ihr Leben zu erhalten oder zu verbessern.

Das Problem liegt mithin im Vergleich des aktualen Status eines Embryos (als potentiellem Todesopfer der Stammzellforschung) mit dem aktualen Status eines Kranken (als potentiellem Nutznießer der Stammzellforschung) bei gleichzeitiger Ausblendung des potentiellen Vermögens, das menschliches Leben von der Empfängnis an in sich trägt. Abgesehen davon, dass Leben-gegen-Leben-Dilemmata eine ganz eigene Problemstellung mit sich führen, die gesinnungsethisch (Kirche) oder deontologisch (Kant) Unterlassungen gegenüber Handlungen grundsätzlich favorisiert, ist hier selbst bei Einlassung auf das konsequentialistische Argument die Sache eindeutig: der Tod des Embryos ist sicher, der Forschungserfolg nicht.

Es geht mir nicht darum, die Position der Kranken herunterzuspielen. Wer krank ist, hat Anspruch darauf, dass wir uns zu helfen bemühen. Auch durch Forschung. Aber eben nicht um jeden Preis. Die Möglichkeiten der Forschung mit adulten Stammzellen sowie Stammzellen aus Nabelschnurblut und Fruchtwasser sind hier längst noch nicht ausgereizt. Es geht aber offenbar um die „bequemere und kostengünstigere Alternative für die Forschung“. Und die sollte keinen Grund liefern, menschliches Leben potentieller Personen zu töten.

Diese Potentialitätsvorstellung kann man ernst nehmen, wie die Kirche, die hinter dieser Potentialität die Potenz schlechthin (Gott) vermutet, oder man kann sie verwerfen und von der Aktualität des Interesses ausgehen und das Aktualinteresse des Kranken auf Heilung vor das Aktual-Interesse des Embryos auf Erhaltung der Lebensfähigkeit in seinem jetzigen Status stellen. So läuft häufig die Argumentation der „Gegenseite“, deren besondere Pointe ist, dass, wenn der Embryo bereits ein Interesse hätte und dieses äußern könnte, sie oder er sich für den Tod zu Forschungszwecken entschließen würde, damit ihr oder sein Dasein zumindest überhaupt einen Sinn hat. Dahinter steckt die Annahme, dass menschliches Leben per se keinen absoluten Sinn hat, sondern dass sich dieser Sinn im Verhältnis zur Welt erst entwickelt (das ist der feine Unterschied von „Sinn des Lebens“ und „Sinn im Leben“).

IV.
Der australische Philosoph Peter Singer, der eine dazu passende interessenorientierte utilitaristische Ethik vertritt, sagt im Zusammenhang mit dem Thema Abtreibung dazu etwas sehr erhellendes. Für ihn hat die Unfähigkeit von Föten vor der 18. Schwangerschaftswoche „of feeling anything at all, since their nervous system appears to be insufficiently developed to function“[1] die Konsequenz, dass „an abortion up to this point terminates an existance that is of no intrinsic value at all“[2]. Es ist unwahrscheinlich, dass Föten vor der 18. Schwangerschaftswoche fähig sind, etwas zu empfinden, weil ihr Nervensystem noch nicht genug entwickelt ist. Deshalb beendet eine Abtreibung vor der 18. Schwangerschaftswoche eine Existenz, die überhaupt keinen Wert an sich hat. Also: Singer ist der Meinung, werdendes menschliches Leben habe (selbst in diesem Stadium) „no intrinsic value at all“, „keinen Wert an sich“.

Es geht hier um die Unterscheidung von menschlichem Leben und menschlichem Lebewesen („human life“/„human being“, Horst Dreier[3]) oder von Mensch und Person („human being“/„person“, Singer). Wohin das führen kann, möchte ich an Singers Vorstellungen kurz illustrieren.

V.
Das Interesse, von Schmerzen verschont zu bleiben, ist Ausdruck der Leidensfähigkeit. An diesem Begriff unterscheidet Singer die „Wesen“: „Wenn ein Wesen leidet, kann es keine moralische Rechtfertigung dafür geben, sich zu weigern, dieses Leiden zu berücksichtigen. Es kommt nicht auf die Natur des Wesens an. Ist ein Wesen nicht leidensfähig oder nicht fähig, Freude oder Glück zu erfahren, dann gibt es nichts zu berücksichtigen. Deshalb ist die Grenze der Empfindungsfähigkeit die einzig vertretbare Grenze für die Rücksichtnahme auf die Interessen anderer.“[4]

Wer so denkt, für den ist auch im Umkehrschluss kein Unterschied zu machen zwischen Mensch und Tier: „Weit davon entfernt, sich für jedes Leben einzusetzen, […] zeigen diejenigen, die gegen Abtreibung protestieren, jedoch regelmäßig das Fleisch von Hühnern, Schweinen und Kälbern verspeisen, nur ein vordergründiges Interesse am Leben von Wesen, die zu unserer Spezies gehören. Denn bei jedem fairen Vergleich moralisch relevanter Eigenschaften wie Rationalität, Selbstbewußtsein, Bewußtsein, Autonomie, Lust und Schmerzempfindung und so weiter haben das Kalb, das Schwein und das viel verspottete Huhn einen guten Vorsprung vor dem Fötus in jedem Stadium der Schwangerschaft und wenn wir einen weniger als drei Monate alten Fötus nehmen, so würde sogar ein Fisch, ja eine Garnele mehr Anzeichen von Bewußtsein zeigen. Ich schlage daher vor, dem Leben eines Fötus keinen größeren Wert zuzubilligen als dem Leben eines nichtmenschlichen Lebewesens auf einer ähnlichen Stufe der Rationalität, des Selbstbewußtseins, der Wahrnehmungsfähigkeit, der Sensibilität etc.“[5]

Als eine Folge der Orientierung an Empfindungsfähigkeit bzw. an dem utilitaristischen Interessebegriff trennt Singer, wie aus dem Zitat deutlich wird, nicht Menschen von Tieren, sondern Personen (Wesen, mit der Fähigkeit, Interessen zu entwickeln) von „Nicht-Personen“ (Wesen, die diese Fähigkeit nicht haben). Dabei gehören „some nonhuman animals“[6] in die erste Gruppe (etwa Affen), jeder menschliche Fötus jedoch in die zweite, denn: „no fetus is a person“[7].

Wer aufgrund des Prinzips der Interessenerwägung alle Wesen unterschiedslos auf Präferenzbildungsfähigkeit hin untersucht, muss auch die letzte Konsequenz aus dieser Argumentation ziehen: „Tötet man eine Schnecke oder einen 24 Stunden alten Säugling, so vereitelt man keine Wünsche […], weil Schnecken und Neugeborene unfähig sind, solche Wünsche zu haben.“[8] Nicht das Leben des Embryo, nicht das des Fötus, sondern dass des Neugeborenen, also – das ist wohl unstreitig – eines Menschen, wird hier von Singer mit Hilfe eines utilitaristischen Konzepts, welches das Lebensrecht an die Fähigkeit bindet, Wünsche, Interessen und Präferenzen zu haben, in einer Weise degradiert, die ich für unerträglich halte!

Singers Engagement für den Tierschutz in Ehren (darum geht es ihm nach eigenem Bekunden mit dem Postulat der Gleichwertigkeit menschlichen und tierischen Lebens), doch hier übersieht [?] er die Folgen seiner engagierten Argumentation. Freilich will kein/e Tierschutzaktivist/in den Tod von Menschen, sie/er will ja gerade das Leben in all seinen Formen gleichermaßen geschützt wissen, doch führt die Argumentation, deren Basis prima facie die Gleichwertigkeit von Tier und Mensch ist, nicht nur zu einer Aufwertung des Tiers (das ist erwünscht), sondern zugleich auch zu einer Abwertung des Menschen (das ist nicht erwünscht), zumindest aber zu einer Relativierung der herausgehobenen Stellung des Menschen („Krone der Schöpfung“ – Singer hält das Sonderstellungspostulat für „Speziezismus“[9]). Diese Relativierung macht es leichter, über menschliches Leben zu verhandeln, da diesem die absolute Würde genommen und statt dessen ein relativer Wert beigemessen wird – als Ergebnis utilitaristischer Erwägungen zu Lebensinteressen.

An die Schlussfolgerungen aus den Überlegungen zur Empfindungsfähigkeit und zum Interesse und der Aufhebung aller prinzipiellen Unterschiede zwischen Mensch und Tier schließt sich die Befürwortung von Euthanasie nahtlos an: „Wir bezweifeln nicht, daß es richtig ist, ein schwerverletztes oder krankes Tier zu erschießen, wenn es Schmerzen hat und seine Chance auf Genesung gering ist. ,Der Natur ihren Lauf lassen’, ihm eine Behandlung vorzuenthalten, aber sich zu weigern, es zu töten, wäre offensichtlich unrecht. […] was bei einem Pferd offensichtlich unrecht ist, [ist] ebenso unrecht [..], wenn wir es mit einem behinderten Säugling zu tun haben.“[10] Und weiter: „Würden behinderte Neugeborene bis etwa einen Woche oder einen Monat nach der Geburt nicht als Wesen betrachtet, die ein Recht auf Leben haben, dann wären die Eltern in der Lage, in gemeinsamer Beratung mit dem Arzt und auf viel breiterer Wissensgrundlage in bezug auf den Gesundheitszustand des Kindes, als dies vor der Geburt möglich ist, ihre Entscheidung zu treffen.“[11] Die „Entscheidung“ geht dabei um Leben oder Tod eines Menschen! Soweit Peter Singer, dem man eines wohl nicht vorwerfen kann: Mit seinen Ansichten hinter’m Berg zu halten!

VI.
Menschen, Tiere, Personen – Was hat das alles mit dem Stammzellgesetz zu tun? Ich glaube, dass dieses Thema des Verhältnisses von Menschen, Tiere und Personen in ihrem Bezugsrahmen Aktualität und Potentialität sehr viel mit der Debatte um das Stammzellgesetz zu tun hat. Die Frage, wann menschliches Leben beginnt liegt dieser im Rücken. Sie ist eng verbunden mit der Kernfrage: Was ist der Mensch? Die Antwort auf diese Frage, das Menschenbild bzw. die Vorstellung von der menschlichen Existenz bestimmt letztlich alles, was in bezug auf den Menschen entschieden wird.

Anmerkungen:

[1] Peter Singer: Practical Ethics. Cambridge 1979, S. 118.

[2] Ebd.

[3] Vgl. dazu Benno Kirschs Einlassungen zu Horst Dreier.

[4] Peter Singer: Praktische Ethik. 2. Aufl., Stuttgart 1994, S. 84 f.

[5] Peter Singer: „Schwangerschaftsabbruch und ethische Güterabwägung“, in: Hans-Martin Sass (Hg.), Medizin und Ethik. 2. Aufl., Stuttgart 1994, S.139-159, hier: S. 154 f.

[6] Singer: Pract. Eth., S. 97.

[7] Singer: Pract. Eth., S. 118.

[8] Singer: Prakt. Ethik, S. 122 f.

[9] Singer stellt „Speziezismus“ auf eine Stufe mit Rassismus: „Dem Leben eines Wesens bloß deshalb den Vorzug zu geben, weil das Lebewesen unserer Spezies angehört, würde uns in dieselbe Position bringen wie die Rassisten, die denen den Vorzug geben, die zu ihrer Rasse gehören.“ (Singer: Prakt. Ethik, S. 121).

[10] Singer: Prakt. Ethik, S. 271.

[11] Singer: Prakt. Ethik, S.243.

(Josef Bordat)

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