Tolerantes Christentum

28. Mai 2010


Kirchennähe und Toleranz sind nicht unbedingt Begriffe, die man in einem Kontext denkt. Doch entgegen mancher tiefsitzenden Vorurteile fördert die religiöse Überzeugung von Christen das Erdulden des Anderen. Eine Umfrage zeigt: Je kirchennäher Menschen sind, desto toleranter sind sie.

In dem Text zur Mission hatte ich die These aufgestellt, dass nur (oder zumindest: in besonderem Maße) derjenige, welcher selbst mit Überzeugung eine weltanschauliche Position vertritt, die ihm wertvoll erscheint, bereit und in der Lage ist, andere weltanschauliche Positionen zu tolerieren und in der Praxis mit Menschen, die diese anderen Positionen vertreten, gut auskommt und friedlich zusammenleben kann und will. Ich hatte behauptet, überzeugte Christen seien nicht schon deswegen intolerant, weil sie Andere zu überzeugen suchen. Damit hatte ich der landläufigen Meinung widersprochen, dass Mission als Resultat von religiösen Überzeugungen ein Ausdruck von Intoleranz gegenüber den zu Missionierenden ist. In Wahrheit geht es bei Mission um Liebe und das Annehmen, nicht um Verachtung und das Abwerben von Menschen.

In einem Aufsatz des Politologen Andreas Püttmann („Verantwortung für die Schöpfung und christliche Bürgertugenden: Demoskopische Schlaglichter“, in: Unitas. Zeitschrift des Verbandes der wissenschaftlichen katholischen Studentenvereine Unitas, Nr. 2/2010, S. 98-105) fand ich nun empirisches Material aus einer Allensbach-Studie (2008), das diese qualitative Vermutung erhärtet und den Toleranzvorsprung überzeugter Christen quantifiziert.

Die Gruppe „überzeugte Christen“ wurde in der Studie zur Gruppe mit „regelmäßigem Gottesdienstbesuch“ operationalisiert; die Kontrollgruppe der „überzeugten Konfessionslosen“ bestand aus Personen, die das Merkmal „selten/kein Kirchgang“ tragen. Bei aller methodologischen Einschränkung durch die Reduktion von Christlichkeit auf Kirchgangsfrequenz, lassen sich auf diese Weise doch Verbindungen ausmachen: Wer regelmäßig zur Kirche geht, um dort einen Gottesdienst zu besuchen, ist sicher grundsätzlich von seiner christlichen Religiosität stärker überzeugt als der, der nie zur Kirche geht, schon deshalb, weil jener die Überzeugung lebt, dieser aber nicht. Wer eine Idee verwirklicht, ist zumeist auch von der Wahrheit und Bedeutung dieser Idee stärker überzeugt als der, der die Idee vielleicht hat, aber nicht lebt. Die Reduktion auf das Merkmal „Kirchgang“ (A) ist also nicht völlig falsch, denn das Merkmal ist nicht losgelöst vom Merkmal „mit Überzeugung Christ sein und als Christ leben“ (B). Es gibt, soziologisch gesprochen, sogar eine starke Korrelation zwischen der Häufigkeit von Merkmal A und B. Merkmal B wäre zwar der direkte Weg, doch kann man schlecht den „Christlichkeitsgrad“ abfragen. Was man aber fragen kann: „Wie oft besuchen Sie einen Gottesdienst?“ – Das als Vorbemerkung zur Methodik und Begrifflichkeit.

Das Institut befragte also Menschen, die entweder regelmäßig zur Kirche gehen oder aber selten bzw. nie. Es wollte wissen, aus welchen Personengruppen diese Menschen nicht so gerne Vertreter als Nachbarn hätten (als Maß für Intoleranz). Bei vielen „Minderheiten“ sind die Aversionen der Konfessionslosen/Nicht-Kirchgänger größer. Am deutlichsten sind die Unterschiede bei Moslems (17 Prozent der Christen/Kirchgänger haben mit Moslems als Nachbarn ein Problem, 29 Prozent der Konfessionslosen/Nicht-Kirchgänger), bei Migranten (5 zu 13 Prozent), bei Menschen mit anderer Hautfarbe (1 zu 6 Prozent), bei Juden (2 zu 7 Prozent) und bei Hindus (6 zu 10 Prozent). Was auffällt: Gerade gegenüber anderen Religionen sind Christen/Kirchgänger toleranter als Nichtchristen/Konfessionslose. Das deckt sich mit der Erkenntnis, dass Religionskonflikte so gut wie nie von Christen ausgehen.

Aber auch gegenüber psychisch Kranken haben kirchennahe Menschen weniger Vorbehalte als kirchenferne (38 zu 44 Prozent). Richtig überraschend dürfte allerdings der Befund sein, dass Christen mit ausgeprägter Religiosität auch Homosexuelle in der Nachbarschaft eher dulden als Konfessionslose (8 zu 11 Prozent). Weniger überraschend ist dagegen, dass Christen gegen Kinderreiche – traurig genug, dass sie hier als „Minderheit“ auftauchen! – weniger einzuwenden haben als Konfessionslose (7 zu 12 Prozent).

Es gibt allerdings auch Menschengruppen, mit denen die Kirchgänger weniger gerne etwas zu tun haben als die Nicht-Kirchgänger: Rechts- (85 zu 83 Prozent) und Linksextremisten (56 zu 51 Prozent),  Vorbestrafte (43 zu 38 Prozent), Trinker (78 zu 72 Prozent), Drogenabhängige (78 zu 77 Prozent) und AIDS-Kranke (18 zu 17 Prozent). Sieht man von diesen ab, wo der Unterschied ohnehin so gering ist, dass er keine Aussagekraft besitzt, werden von den Christen/Kirchgängern Menschen tendentiell eher für ihr Tun kritisch beäugt als für ihr Sein. Bei den Konfessionslosen/Nicht-Kirchgängern ist das umgekehrt: Hier ist das Sein als Moslem, Jude oder Schwarzer eher „Grund“ für die Ablehnung. „Bestraft“ der Christ also die unangenehmen Eigenschaften bei größerer Vorbehaltlosigkeit gegenüber dem Wesen des Menschen, ist das bei Konfessionslosen gerade anders herum.

Es geht sicher zu weit, wenn ich nun folgere: Der Christ liebt den Menschen und hasst die Sünde, beim Konfessionslosen ist das umgekehrt. Doch die Zahlen stimmen nachdenklich und sollten auch diejenigen nachdenklich stimmen, die meinen, aufgrund selbstangehefteter Labels mit den Aufschriften „Vernunft“, „Aufklärung“, „Bekenntnislosigkeit“ ihre Toleranz gar nicht mehr unter Beweis stellen zu müssen, weil die bei Areligiosität quasi im Preis inbegriffen ist. Dem ist nicht so. Im Gegenteil – die Studie zeigt eindrucksvoll: Es sind die altmodischen Kirchgänger, die die Toleranz hoch halten, nicht die modernen Konfessionslosen.

Püttmann nennt in seinem hervorragenden Beitrag noch andere Zahlen. Darauf wird gelegentlich einzugehen sein.

(Josef Bordat)

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