Wissenschaft und Religion. Ein Versuch mit Pablo Picasso

8. Juni 2011


Für Claudia.

Weil es doch einige Missverständnisse im Hinblick auf den Beitrag Gerade heute gab, möchte ich noch einmal klarstellen, dass es nicht mein Anliegen ist, Wissenschaft und Religion („Fortschritt“ und „Glauben“) gegeneinander auszuspielen, sondern als aufeinander bezogen und voneinander abhängig zu begreifen. Wissenschaft und Religion – das zeigt vor allem die Geschichte, aber auch die Gegenwart – gehören als gleichberechtigte Formen der menschlichen Suche nach Wahrheit und Sinn untrennbar zusammen. Man muss „jedem Feld seine eigenen Errungenschaften zugestehen, ohne daß aus den Errungenschaften im einen Feld automatisch Unzulänglichkeiten im anderen abgeleitet werden“ (Alipius Müller). Ich will das Thema in diesem Sinne noch mal aufgreifen.

Wissenschaft und Religion. Allgemeine Vorbemerkungen

Jeder Mensch hat zwei Grundbedürfnisse. Zum einen den Selbsterhalt. Das schließt die Versorgung mit dem, was zum Überleben nötig ist, ebenso ein wie den Schutz vor Gefahren, kommen sie nun aus der Natur oder aus der Gesellschaft. Zum anderen die aktive Bezugnahme auf diese ihn umgebende Natur und Gesellschaft, einerseits, um sich eben möglichst gut und lange selbst erhalten zu können, andererseits aber auch, um über das biologische Dasein hinaus eine Ebene von Existenz zu erreichen, die wir mit dem „Sinn des Lebens“ identifizieren, häufig etwas spöttisch, in Grenzsituationen (zu denen auch Krankheiten gehören) aber oft sehr ernsthaft.

Die aktive Bezugnahme zum Zweck der Überlebenssicherung können wir „Wissenschaft“ nennen (insbes. sind hier die Naturwissenschaften gemeint), die aktive Bezugnahme zum Zweck der Sinnstiftung „Weltanschauung“ (wobei ich hier vor allem an Religion denke). Geht es jener um das „Erforschen“ des Unbekannten, geht es dieser um dessen „Erahnen“, geht es jener um das „Wissen“, geht es dieser um den „Glauben“. Neuerdings machen es sich einige sehr einfach und sehen hier zugleich eine Trennung von „Vernunft“ und „Unvernunft.“ Doch jenseits der experimentellen Forschung beginnt nicht ein Reich der Beliebigkeit, sondern eine andere Form der Selbstvergewisserung, die ebenfalls auf unser Reflexionsvermögen angewiesen bleibt, um nicht instrumentalisiert oder gar korrumpiert zu werden. Treffender ist daher wohl die Differenzierung zwischen Verfügungs- und Orientierungswissen (Mittelstraß). Tendenziell ist es eher so, dass Wissenschaft auf Verfügungswissen abzielt und kulturelle, insbesondere religiöse Betätigung auf Orientierungswissen.

Doch damit ist keine klare Grenze markiert, denn selbst in den Naturwissenschaften geht es nicht immer nur um den Anwendungsbezug, also technische Verfügungsgewalt über die Natur (man denke an die Grundlagenforschung!) und selbst Orientierungssysteme wie Religionen haben technische Wissensbestände (Liturgie!). Als Katholik weiß man das am besten. Wenn mal das Gloria vor dem Kyrie gesungen würde, führte das zu echten Irritationen. Das betrifft zwar nicht den Glauben als Form der Lebensorientierung, sondern die Konvention im Ritus, aber die muss eben auch stimmen, denn schließlich ist sie Ausdruck des Glaubens. (So, das war jetzt mein Beitrag zum „Ritenstreit“!)

Zunächst einmal sollte man die Bereiche streng trennen, soweit es um die Sicherung der Validität von Denkresultaten und damit um die Ernsthaftigkeit von Antwortversuchen in beiden Sphären geht. Wir machen das ja auch. Auf die Frage „Wer war Paulus?“ würde uns eine naturwissenschaftliche Antwort (etwa: „Eine Ansammlung von Sauerstoff, Wasserstoff und Kohlenstoff in einem bestimmten Fenster unserer Raumzeit.“) ebenso verfehlt vorkommen wie ein Arzt im Krankenhaus, der bei seiner Visite jeden Patienten nur an Psalm 23 erinnern würde („Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen.“).

Dennoch lassen sich die Bereiche auch nicht strikt voneinander lösen. Es gibt eine berechtigte Zusammenschau der Sphären, schon allein damit die Missbrauchsgefahr des einen wie des anderen geschwächt wird. So wie die Theologie als Wissenschaft die Religiosität reflektiert und kritisiert, so muss die Wissenschaft, die vorgibt, dem Wohl des Menschen zu dienen, diesen auch in den Mittelpunkt stellen und sich Grenzen auferlegen lassen. Und ein Arzt, der nach der kompetenten Diagnose Psalm 23 zitiert, ist mir als Grenzgänger nicht suspekt, sondern sympathisch.

Wissenschaft und Barmherzigkeit. Ein Bild von Picasso

Im Picasso-Museum von Barcelona – in dem vor allem Werke aus der Jugendzeit des berühmten Künstlers ausgestellt sind – hängt ein frühes Bild Picassos, das der damals gerade 15jährige Maler Ciencia y caridad („Wissenschaft und Barmherzigkeit“) nannte. Es zeigt eine kranke Frau, der ein im Vordergrund sitzender Arzt den Puls fühlt, während ihr eine im Hintergrund stehende Ordensschwester mit einem Kind auf dem Arm einen Becher reicht.

 Pablo Ruiz Picasso: Ciencia y caridad (1897), Öl auf Leinwand, 197 x 246,5 cm – Museu Picasso de Barcelona

Der Wissenschaftler misst, erhebt exakte Daten, die Rückschlüsse auf Zustände und Befindlichkeiten einschließlich nötiger Prognosen – auf der Basis theoretischer Modelle –ermöglichen. Der Arzt im Vordergrund misst den Puls. Er wirkt konzentriert und sachlich. Die Ordensschwester sorgt unterdessen für Erfrischung. Gleichzeitig kümmert sie sich um ein Kind. Die liebende Sorge für jung und alt, für gesund und krank, gegenüber Menschen in gleich welcher Verfassung ist Kern der Barmherzigkeit. Auch sie wirkt konzentriert, fast streng: caritas ist nicht amor, Liebe kein Gefühl. Die Ordensschwester steht für die christliche Religion und ihre Werte, von denen die tätige Nächstenliebe der wichtigste ist.

Für die kranke Frau ist beides gut: Ohne das Wissen um die Krankheit lässt sich die Patientin nicht heilen, doch ohne Nahrung und liebevolle Zuwendung wird sie auch nicht gesund.

Ich glaube nicht, das Bild wäre so zu verstehen, dass Picasso etwa meinte, man sei entweder Wissenschaftler (hier: Arzt) oder barmherzig (hier: Ordensschwester), dass es mithin keine liebevollen Ärzte und keine kompetenten Ordensschwestern gäbe, sondern er spricht wohl allegorisch die beiden Seiten gelungener Daseins- und eben auch Leidensbewältigung an. Das heißt: Um die Krankheit zu besiegen, braucht es beides – Expertise und liebevolle Betreuung. Allgemein gesprochen: Um das Leben und das Leiden zu bewältigen, braucht es beides – Wissenschaft und Religion.

Ich hoffe, jetzt ist klar(er), dass es mir nicht an einem Gegeneinander ausspielen, sondern vielmehr an einem Zusammenführen gelegen ist und sich mein Beitrag vor allem gegen die Position der Fragesteller richtet, die ja doch durchblicken lassen, dass sie Religion angesichts des wissenschaftlich-technischen Fortschritts für obsolet halten, die meinen, wie es Alipus Müller so treffend sagt: „Weil Penicilin mich gesund gemacht hat, gibt es keinen Gott.“ Das ist eine Haltung, die ich nicht verstehe. Gegen sie richten sich meine Bedenken, sie lässt mich (gegen)fragen, was Fortschritt denn austrägt für das Glück des Menschen und für den Sinn des Lebens. Und für den Glauben an Gott.

(Josef Bordat)

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