Kinderrechte – Elternrechte

19. Juli 2012


Ist eine Beschneidung gegen das Kindeswohl gerichtet?

1. Ich habe in den letzten Tagen mit einigen Jüdinnen und Juden bzw. Judaistinnen und Judaisten korrespondiert, die sich alle insbesondere über die Rahmung der „Beschneidungsdebatte“ als Fall einer Grundrechtskollision erregten, also darüber, dass unterstellt wird, mit der Ausübung der Religionsfreiheit (i.e. der Beschneidung) werde in das Grundrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit eingegriffen und dadurch das Kindeswohl gefährdet. In Wirklichkeit hätten jüdische Eltern mit der körperlichen Versehrung durch die Beschneidung gerade das Kindeswohl im Auge. Das „Recht auf körperliche Unversehrtheit“ stehe also in Wahrheit nicht nur dem „Recht auf freie Religionsausübung“ gegenüber, sondern für den Fall der Versehrung im Zuge der Beschneidung nichts Geringerem als dem Kindeswohl selbst.

Das ist ein interessanter Gedanke. Für Juden gilt: Gerade durch die Wahrung der „körperlichen Unversehrtheit“ gegen den Willen der Eltern werde auch die Religionsfreiheit – nämlich die positive Religionsfreiheit als Möglichkeit, wie ein Jude aufwachsen zu dürfen – erheblich eingeschränkt. Während ein Verlassen der Religionsgemeinschaft „Judentum“ später problemlos möglich sei, da eine Beschneidung ja nicht hinreichend, sondern nur notwendig ist, um Jude zu sein, sei es umgekehrt praktisch unmöglich, später die eigene Religion so anzunehmen, wie das möglich gewesen wäre, hätten die Eltern im Sinne des „Kindeswohls auf Religionszugehörigkeit und Sozialisation“ entschieden und das Kind gemäß den jüdischen Vorschriften beschneiden lassen.

2. Dass ein Aufwachsen in einer religiösen Tradition dem Kindeswohl dient, kann indes nur eine Gesellschaft, die für Religion kein Gespür hat, so systematisch übersehen. Oder übersieht sie es gar nicht? Dieser Verdacht drängt sich immer dann auf, wenn die körperliche Versehrung durch die Beschneidung ins Groteske übersteigert wird und davon die Rede ist, die Jungen würden „verstümmelt“ oder „verkrüppelt“. Und das nach einem Eingriff, der bei vielen männlichen Babys vorgenommen wird, auch ohne religiöse oder medizinische Notwendigkeit, auf ausdrückliche Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Ein Drittel der männlichen Weltbevölkerung soll beschnitten sein – alles „Krüppel“?

Nun, es scheint darum zu gehen, der Keule, die man gegen die Religion schwingt, mehr Gewicht zu verleihen, durch ein wenig Phantasie in Sachen Grausamkeit. Es stellt sich schon die Frage, warum eigentlich in den letzten Jahrzehnten die vielen Beschneidungsgegner geschwiegen haben, die jetzt – aufgeschreckt vom Landgericht Köln – den millionenfachen schweren Missbrauch anprangern? Oder haben sie erst jetzt den „Mut“ dazu? Ganz plötzlich?

3. Ein Blick über den Tellerrand kann auch in diesem Fall wahre Wunder tun. Blicken wir also vom deutschen Grundgesetz auf die UN-Kinderrechtskonvention von 1989. Da finden wir zunächst den Vorrang des Kindeswohls formuliert (Art. 3.1: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“). Doch ist ja gerade strittig, ob eine Beschneidung oder eher die Nicht-Beschneidung regelmäßig dem Kindeswohl männlicher Juden (und Muslime) entspricht. Zum Kindeswohl gehört unzweifelhaft die in Artikel 14 verankerte „Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit“, welche „die Vertragsstaaten achten“ (Absatz 1). Zugleich achten die Vertragsstaaten „die Rechte und Pflichten der Eltern und gegebenenfalls des Vormunds, das Kind bei der Ausübung dieses Rechts in einer seiner Entwicklung entsprechenden Weise zu leiten“ (Absatz 2). In der jüdischen Tradition gehört die Beschneidung zur „Ausübung dieses Rechts in einer seiner Entwicklung entsprechenden Weise“. Ein jüdisches Kind hat das Recht darauf, dass der Vertragsstaat Deutschland seine jüdische Identität achtet und seine Eltern ihm zu einer solchen verhelfen.

Im Fahrwasser der Argumentationsfigur „körperliche Unversehrtheit“ lässt sich dagegen etwa Artikel 19 anführen, in dem jedem Kind „Schutz vor Gewaltanwendung, Misshandlung und Verwahrlosung“ garantiert wird. Absatz 1 lautet: „Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Bildungsmaßnahmen, um das Kind vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Mißhandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung einschließlich des sexuellen Mißbrauchs zu schützen, solange es sich in der Obhut der Eltern oder eines Elternteils, eines Vormunds oder anderen gesetzlichen Vertreters oder einer anderen Person befindet, die das Kind betreut.“ Es ist klar, dass die Dramatisierung der Beschneidung und ihrer Folgen auch dazu dient, sie, die Beschneidung, unter diese Norm subsumierbar zu machen. Ob das verfängt, ist fraglich, da das ja zugleich hieße, die WHO, die die Beschneidung bei männlichen Neugeborenen als Routineoperation empfiehlt (u.a. zum Schutz gegen die Übertragung von Krankheitserregern wie HI-Viren), habe empfohlen, routinemäßig eine Gewalttat an Babys zu verüben. Dass also die Gleichung „Beschneidung ist gleich Gewalt“ so einfach nicht aufgeht, dürfte damit klar sein. Auch ein Verweis auf Artikel 24.3, wonach „die Vertragsstaaten [..] alle wirksamen und geeigneten Maßnahmen [treffen], um überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen“ (Hervorhebung von mir), scheint angesichts der WHO-Beurteilung von Beschneidungen bei Jungen als der Gesundheit förderlich mithin mehr als abwegig.

Interessant ist dann vor allem Artikel 30, welcher lautet: „In Staaten, in denen es ethnische, religiöse oder sprachliche Minderheiten oder Ureinwohner gibt, darf einem Kind, das einer solchen Minderheit angehört oder Ureinwohner ist, nicht das Recht vorenthalten werden, in Gemeinschaft mit anderen Angehörigen seiner Gruppe seine eigene Kultur zu pflegen, sich zu seiner eigenen Religion zu bekennen und sie auszuüben oder seine eigene Sprache zu verwenden.“ Das passt eigentlich ganz gut auf jüdische und muslimische Kinder in Deutschland. Eine Nicht-Beschneidung hinderte sie ja gerade an Kulturpflege und Religionsbekenntnis.

Also: Die UN-Kinderrechtskonvention schützt das Recht auf Beschneidung – aus der Sicht des Kindes und aus Gründen des Kindeswohls.

4. Artikel 19 bietet freilich die Basis dafür, den Eltern jegliche religiöse Interaktion mit dem Kind zu untersagen, so diese als „geistige Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung“ angesehen wird. Es scheint, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil derer, die zu dem Thema Stellung bezogen, genau diese Weiterung vor Augen haben. Da man so schlecht kontrollieren kann, ob Papa nicht doch vor dem Essen betet, ohne dass den Kindern die Ohren verstopft wurden, ist wohl die Entziehung des Sorgerechts der einzig gangbare Weg, die religiöse Neutralität der Formation deutscher Kinder sicherzustellen.

Auf dem Blog eines „Piraten“ heißt es dazu schon mal vorauseilend, Eltern, die ihren Sohn beschneiden ließen („Piraten“-Jargon: „religiöse Straftäter“) sollten „auf eine Stufe wie die Kinderporno-Täter gestellt werden“, hätten ihr „Sorgerecht verwirkt“ und gehörten „in den Bau“. Es folgt der Appell an die eigenen Reihen: „Die zahlreichen Atheisten und Agnostiker in der Piratenpartei müssen endlich Farbe bekennen.“ Was das bedeutet, möchte ich hier nicht weiterdenken. Ich hoffe, Sie, liebe Leserin, lieber Leser, tun das mal ganz für sich.

5. Grundsätzlich ist es problematisch, die Erziehungsrechte der Eltern einzuschränken, schlicht, weil Eltern Eltern sind. Und ihre Kinder sind ihre Kinder. Das gibt ihnen freilich nicht jedes Recht im Umgang mit ihnen – die UN-Kinderrechtskonvention gibt da schon eine sehr gute Orientierung in der Frage, was geht und was nicht. Die Weitergabe der eigenen Kultur, Sprache und Religion geht immer, auch in der Minderheitensituation (Artikel 30).

Eins muss klar sein: Jede Erziehung engt den Raum der Möglichkeiten ein. Anders geht es nicht. Einem Kind alle Optionen offen zu halten, damit es später selbst entscheidet, ist eine Utopie. Auch die Verweigerung einer Option ist Teil einer gelenkten Erziehung. Zudem ist „Neutralität“ in vielen Fragen nicht möglich, gerade im Bereich der Vermittlung von sinnstiftenden Traditionen und der Hilfen zur Lebensorientierung und -bewältigung, in den immer auch Weltanschauliches einfließt, ist „Neutralität“ fehl am Platz – hier geht es um Authentizität, Integrität und Empathie. Bei religiösen Eltern kommt hier die Religion unweigerlich ins Spiel. Wer sein Kind bis zum 14. Lebensjahr strikt vor jeglichem religiösen Einfluss abschirmt, wird auch kein religionsmündiges Kind heranziehen, sondern ein religiös unmusikalisches, was ein Unterschied ist. Will man das? Will es das Kind?

Wir müssen grundsätzlich aufpassen, dass wir mit dem „Soll sie/er später selbst entscheiden!“ nicht zur Lebensuntüchtigkeit erziehen. Sonst bin ich ja auch dafür, dass Mütter nicht mehr mit ihren Kindern sprechen dürfen sollten, denn das legt das Kind unzulässig auf eine Sprache fest! Wenn das nun ausgerechnet ungarisch ist (und nicht englisch oder wenigstens Mandarin), hat das Kind einen bleibenden Bildungsnachteil. Und was, wenn Väter durch ihre Erziehung die Berufswahl ihrer Kinder prädisponieren, und es sich dabei um einen Beruf handelt, in dem man weniger verdient als der Durchschnitt? Hat das Kind dann das Recht, die Differenz einzuklagen? Ja, wie steht es überhaupt mit der eigenen Existenz? Auch diese ist ja der Entscheidung des Kindes entzogen. Zu Recht? – Ich denke, es ist klar, worauf ich hinaus will.

Es könnte aber sein, dass es nicht so kommt. Es scheint nun zumindest in Berlin eine breite fraktionsübergreifende Koalition „Pro Kindeswohl und Religionsfreiheit“ zu geben, die Kinder- und Elternrecht in Sachen Beschneidung zu wahren bereit ist. Gott sei Dank!

(Josef Bordat)

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