Nachgefragt: Wie ist das eigentlich?

20. Juli 2012


Was genau will man nicht: Beschneidungen oder rituelle Beschneidungen?

Es wird ja im Zusammenhang mit der Beschneidung viel über das „Kindeswohl“ geschrieben und gesprochen, wobei immer behauptet wird, dieses sei durch jene gefährdet. Könnte es sein, nur mal angenommen und mit etwas Phantasie, dass es in der ganzen Debatte nicht nur um das Wohl der Kinder geht, soweit sie einfach Kinder sind? Könnte es sein, dass man auf diese Debatte gewartet hat, um mal so richtig und mit aller Kraft auf das Wohl ganz bestimmter Kinder hinzuweisen, während einem das Wohl von Kindern, deren Eltern nicht ins Feindbild passen, ich will jetzt nicht sagen „egal“ ist, aber doch eher „weniger wichtig“? Ich irre mich bestimmt, aber irgendwie… Also, ich weiß nicht!

Nachfrage an die „Kinderrechtler“: Gilt das mit dem Kindeswohl auch für Beschneidungen in den USA, wo ein Drittel der Jungen gleich nach der Geburt routinemäßig beschnitten wird? Seit Jahrzehnten. Also, geht uns das Wohl des Kindes auch etwas an, wenn es sich um männliche Nachkommen mehrheitlich aus christlicher Tradition stammender Menschen handelt? Oder soll nur das sprichwörtliche Juden-Baby vor seinen grausamen Eltern in Schutz genommen werden? Ich meine, das wäre ja immerhin ein erster Schritt auf dem Weg zu weniger Leid in der Welt, aber gemessen daran, dass die Zahl beschnittener Männer etwa hundertmal höher liegt als die beschnittener Juden ein am Ende doch recht kleiner. Oder? Wird man sich denn, wenn – nur mal angenommen – alle Juden und Moslems Deutschland verlassen haben und das Beschneidungsproblem damit hierzulande vom Tisch ist, mit der gleichen Vehemenz um die „Beschneidungsopfer“ in den USA kümmern? Hm, „Kinderschützer“? Wie ist das? Wovor wollen Sie Kinder schützen, weil es als „Körperverletzung“ ihr Wohl gefährdet: vor Beschneidungen oder vor rituellen Beschneidungen? Nein, Sie müssen nicht antworten. Nicht jetzt sofort.

Interessant ist in dem Zusammenhang ein Blick in die neutrale Schweiz. Dort hat ein Spital (zu deutsch: Krankenhaus) ein „Beschneidungsmoratorium“ verkündet, aus Gründen der Rechtsunsicherheit, die aus dem Kölner Urteil resultiere. Die 350 Kommentare unterhalb der eher unscheinbaren Meldung im Tagesanzeiger sind für den Diskursanalytiker eine Art Elfmeter ohne Torwart. Für den Satiriker übrigens auch. Selten zuvor wurden allgemein akzeptierte Argumentationsstereotype so rasch und reibungslos in religionsaversive Deutungsmuster eingebaut. Man kann es knistern hören: „Endlich haben wir was in der Hand! Endlich!“

In der Tat: Am meisten Applaus erhalten Kommentare, die offen religionsfeindlich und / oder gezielt antisemitisch sind. „Um seine Verbundenheit mit Gott zu zeigen muss kein Kleinkind beschnitten werden“, weiß Joachim Schippers. Begründung: „Das ist absurd.“ Schlussfolgerung: „Ich hoffe, dass hier in Zukunft vor Gerichten ganz hart geurteilt wird, auch wenn die Familie es im Ausland durchführen lässt und in der CH lebt.“ Der Mann fordert also allen Ernstes eine Art Ausreiseverbot für Beschneidungswillige bzw. ein Niederlassungsverbot für Beschnittene. Also: rituell Beschnittene. Ami, go home! – soweit geht es dann doch nicht. Ergebnis: 176mal „Daumen hoch“. Das reicht zu Bronze.

Unterdessen informiert Walter Krauer: „Schandtaten gehörten schon immer zu den Religionen. Dazu auch der Krieg!“ (Wirklich: Ich hab mir das nicht ausgedacht. Die „Zwerchfell“-Robusta ist zwar so etwas wie mein kurzfristiges Lebensziel, aber das geht nicht auf meine Kappe. Der Ruhm gehört Krauer.). Den Silberplatz teilen muss er sich mit Ritva Laaksonen: „Die schlimmsten Dinge passieren ohnehin im Namen der Religionen, die viel zu viel Macht bekommen haben. Käme man auch durch, als Feueranbeter, wenn man als frommer solcher, Häuser anzündet?“ Silber für diesen Vergleich an Finnland, ein Verdachtsmoment für mich: Könnte es sein (also wirklich: Konjunktiv!), dass jemand, der eine Beschneidung unter die „schlimmsten Dinge“ subsumiert – freilich nur, soweit sie „im Namen der Religionen“ vorgenommen wird (wie gehabt) – neben der Wahrung des Kindeswohls auch ein klitzekleines Interesse daran hat, en passant – und weil die Sterne grade günstig stehen – eben jenen „Religionen“ mal ordentlich eins über zu braten?

Menschen, die sich fragen, ob es nicht sinnvoll sein könnte, Beschneidungen nicht nur unter dem Label „Grausamkeit“ zu verhandeln, sondern sie entweder – der WHO bzw. den USA folgend – als Maßnahme zur Krankheitsvorbeugung oder aber – dem Judentum folgend – als Konsequenz eines göttlichen Gebots zu betrachten und daher, wenn man schon dieses selbst nicht ernst nehmen kann, zumindest ernst zu nehmen, dass bestimmte Mitbürger es ernst nehmen, solche Menschen sind schlicht „Verstümmelungsbefürworter“ (Luca Sieber). War kurz Favorit auf Gold, dann aber wegen Dopings disqualifiziert.

Die Goldmedaille für Debattenkultur und alles andere geht statt dessen an Bruno Müller, für eine der elegantesten Begründungen seit Einführung der aristotelischen Aussagenlogik: „Irreversible, schmerzhafte und unnötige Eingriffe an wehrlosen Babies gehören verboten, fertig.“ Kurzer Prozess – immer gut! Aber es geht ja noch weiter (einige beschnittene Debattenteilnehmer hatten es gewagt, über positive Erfahrungen zu berichten): „Der Eingriff wirkt traumatisierend, das Gefühlsempfinden ist reduziert. Die Meinung der Beschnittenen zählt hier nicht, weil sie es gar nicht beurteilen können, wie es ist, nicht beschnitten zu sein.“ Also, das muss ich mir merken: Ein Mensch mit der Eigenschaft A kann über A nichts aussagen, weil er nicht weiß, wie nonA ist. Umgehrt kann ein Mensch mit der Eigenschaft nonA über A ein abschließendes Urteil fällen. Das ist so gut, das rahme ich mir ein.

Zurück nach Deutschland, zurück zum Kindeswohl. An alle, die plötzlich – Besser jetzt als nie, NPD*! – ihr Herz für jüdische Kinder entdeckt haben: Wäre es nicht an der Zeit, auch die 99 Prozent der kleinen, wehrlosen Jungs zu schützen, bei denen die Beschneidung weder aus religiösen noch aus medizinisch-indizierten, sondern aus hygienischen bzw. medizinisch-prophylaktischen Gründen vorgenommen wird, auf ausdrückliche Empfehlung der WHO?

WH… wie, bitte? Lässt sich weder anti-religiös noch antisemitisch instrumentalisieren und ist daher irrelevant? Ach, so. Na, dann!

(Josef Bordat)

* Zum besseren Verständnis: Ich beziehe mich auf eine Pressemitteilung der NPD, in der für das Kindeswohl und gegen Beschneidungen argumentiert wird, eigenartigerweise aber nicht grundsätzlich, sondern nur, soweit es die Kinder in Deutschland lebender Juden betrifft, denen man – wohl zu Beschneidungzwecken – eine „gute Heimreise“ wünscht. Alles zum Wohl des Kindes. – Wenn Sie danach suchen, werden Sie den Text finden; verweisen möchte ich darauf nicht.

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