Asyl in der Kirche

25. Februar 2015


Einige Gedanken zur Sache und zum öffentlichen Umgang mit der Sache

Es ist eine anrührende Szene: Glöckner Quasimodo nimmt die zum Tode verurteilte Zigeunerin Esmeralda in „seine“ Kathedrale Notre-Dame auf, um sie vor der Hinrichtung zu bewahren. Als sie mit Gewalt aus der Kirche entfernt werden soll, ruft er in seiner Liebe und seiner Verzweiflung vom Turm herab: „Asyl! Asyl!“ Soweit Victor Hugos vielfach verfilmter Roman Der Glöckner von Notre-Dame aus dem Jahre 1831, dessen Geschichte im Jahre 1482 spielt. Es handelt sich um eine Romantik längst vergangener Tage, in der die Glocken noch nicht elektronisch gesteuert wurden, in der die Kirche noch Macht hatte. Heute ist das anders. Außerdem leben wir nicht in den Hirngespinsten eines französischen Romanciers, sondern in der harten deutschen Realität.

Dass das Thema Kirchenasyl dennoch in diesen Tagen die Debatten in Deutschland erreicht – trotz Ukraine, IS und Griechenland – liegt an der gestiegenden Fallzahl. Wie die „Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche“ mitteilt, gibt es derzeit 226 Kirchenasyle mit 411 Personen, darunter 125 Kinder. Im Vergleich zum Vormonat bedeutet dies ein Plus von 13 Prozent. Die Steigerung seit Anfang 2014, als die Arbeitsgemeinschaft 34 Kirchenasyle zählte, beträgt rund 500 Prozent. Das hört sich dramatisch an, ist aber gemessen an der Gesamtzahl der im vergangenen Jahr nach Deutschland geflohenen Menschen (etwa 200.000) nur ein Anteil von 0,2 Prozent. Doch seitdem diese Zahlen bekannt sind, geht es hoch her: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sowie Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) kritisieren die Kirchen, die jedoch am Kirchenasyl festhalten wollen, sowohl die katholische als auch die evangelische. Sie bekommen dafür Rückendeckung von SPD und Grünen sowie von der CDU-nahen Konrad Adenauer-Stiftung. Und von Spiegel Online. Und von Neues Deutschland. Ungewöhnliche Koalitionen.

Auch in den Kommentarbereichen einschlägiger Online-Medien bilden sich ganz neue Allianzen insbesondere gegen das Kirchenasyl, so dass man nach der Recherche gar nicht mehr weiß, ob man eine Äußerung nun bei Kath.net oder Spiegel Online gelesen hat, weil sich die Ablehnungen des Kirchenasyls bis auf die Formulierung gleichen. Es entsteht eine bemerkenswert stabile Front aus rechten „Das Boot ist (auch ohne Kirchenasyl schon) voll“-Stammtischlern und linken Laizisten, deren Abneigung gegen die „RKK“ offenbar noch größer ist als gegen die CDU. Da staunt der Diskursanalytiker.

Derweil gerät mancher Kirchenkritiker durch das Kirchenasyl geradewegs in ein Dilemma, schließlich kommt in „Kirchenasyl“ sowohl „Asyl“ als auch „Kirche“ vor. Frage: Wie halte ich in Sachen Kirchenasyl meine Kirchenkritik aufrecht, ohne gleich als Pegida-Anhänger durchzugehen? Klar, die Feindbildlogik weist den Ausweg: Die Kirche, soweit sie Asyl gewährt, tut das nur aus unlauteren Motiven, aus Eigennutz, aus Machtbessenheit, um es der Moderne mal so richtig zu zeigen, mit ihrem ewigen „Mittelalter“. Das Unterstellen nimmt bisweilen ganz ulkige Formen an: „Sieht so aus, als ob die Kirche wieder in den Sklavenhandel einsteigt und sich schon mal Handelsware sichert. Nachdem so viele Menschen austreten und man nicht mehr genug Gläubige ausplündern kann, muss man sich wohl alte Geschäftsfelder zurückerobern. Was kommt als nächstes? Werden wieder Kreuzzüge von der Kirche finanziert? Schluss mit den Sonderrechten für religiöse Fundamentalisten! Sonst brennen hier demnächst wieder die Rothaarigen auf dem Marktplatz.“ Es geht – immer noch – um Kirchenasyl.

Und noch etwas weiß man nach der Kommentarlektüre nicht: Was an der Debatte eigentlich abstoßender ist – die Reduktion des Themas Kirchenasyl auf „Kosten“ oder der naive Glaube an die Unfehlbarkeit des Rechtsstaats. Das grenzenlose Vertrauen in den Rechtsstaat kompensiert offenbar den grenzenlosen Verlust an Vertrauen in die Kirchen. Doch wäre der Rechtsstaat unfehlbar, gäbe es nicht in über 80 Prozent aller Fälle nach dem Kirchenasyl eine andere Entscheidung als zuvor. Es geht also bei den Menschen, die nach dem Kirchenasyl bleiben dürfen, um Menschen, die von vorne herein ein Recht darauf hatten, ohne dass dies vom Rechtsstaat erkannt wurde. Die revidierte Entscheidung wiederum trifft nicht die Kirche, sondern abermals der Rechtsstaat. Die „zusätzlichen“ Kosten durch den doch noch anerkannten Asylbewerber wären bei einem korrekten Verfahren schon viel früher angefallen. Also: Der Ärger über die durch das Kirchenasyl nun doch noch anfallenden Kosten ist ein Ärger darüber, dass die unrechtmäßige Ablehnung als solche erkannt und im Ergebnis korrigiert wird – und das ist nicht nur mit den Prinzipien des Rechtsstaats unvereinbar, das ist schlicht perfide.

Ebenso, wie die Einlassungen des Bundesinnenministers, der vorträgt, die Kirche etabliere eine Art Paralleljustiz, stelle sich damit neben (oder: über) den Rechtsstaat, unterwandere diesen selbstherrlich und sei damit auch nicht viel besser als die Islamisten mit ihrer Scharia. Das zündet freilich in den Kommentarbereichen und allenthalben ist dort nun zu lesen, wie unverfroren die Kirche doch sei, mit ihrem Pochen auf „Sonderrechte“ und „rechtsfreie Räume“. Dabei ist der Gedanke de Maizières grundfalsch: Islamisten wollen den Rechtsstaat abschaffen, die Kirche will mit dem Kirchenasyl die Mängel des Rechtsstaats abschaffen, die in der Praxis der Verwaltungstätigkeit und in der Überlastung der Gerichte begründet sind. Überall dort sind Menschen tätig, die – siehe oben – nicht unfehlbar sind.

Doch worum geht es eigentlich? Was ist das für eine Instanz, die die gängige politische Lagerordnung so empfindlich stört? Es geht um Kirchenasyl, also um eine vorübergehende Aufnahme von Flüchtlingen in Räumen der Kirche, mit der eine Abschiebung verhindert werden soll, weil diese eine Bedrohung für Leib und Leben darstellt. Beispiele führt Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung auf: „Eine evangelikal-konservative Kirchengemeinde gewährte einem verletzten Peschmerga-Offizier Kirchenasyl und schützte ihn vor der Abschiebung ins Lager nach Bulgarien. Eine andere Kirchengemeinde bewahrte einen schwulen jungen Mann aus Tansania vor der Rückschiebung ins Gefängnis – wo ihn wegen seiner Homosexualität 14 Jahre Haft erwartet hätten.“ Über solche Fälle sprechen wir, wenn wir über Kirchenasyl sprechen.

Dabei ist Kirchenasyl gegen den Anschein der Begriffsverwendung gar keine eigene Rechtsfigur. Es geht beim Kirchenasyl nicht um „Kirche“. Auch ein – ich sag jetzt mal – Kaninchenzuchtverein kann Asyl gewähren. Die rechtlichen Möglichkeiten des Staates sind in beiden Fällen gleich: Die Polizei darf (in Deutschland) sowohl Pfarrhäuser und Kirchen als auch Vereinsheime von Kaninchenzüchtern betreten, um Normen durchzusetzen. Der Kirchenvorstandsvorsitzende hat ebenso lediglich das Hausrecht wie auch der Kaninchenzuchtvereinsvorsitzende dies bei sich hat. Der Eindruck, der erweckt wird, dass die Kirche ein „Sonderrecht“ habe, ein Recht, das der Kaninchenzuchtverein nicht hat, ist falsch. „Über dem Recht“ oder „im rechtfreien Raum“ findet das Kirchenasyl also nicht statt – der Staat behält die Fäden immer in der Hand und kann jedes Kirchenasyl jederzeit beenden. Vielleicht sollte man statt von Kirchenasyl besser von „Asyl in der Kirche“ sprechen.

Allerdings hat die Kirche im Hinblick auf das Gewähren von Asyl etwas, das der Kaninchenzuchtverein in aller Regel nicht hat: ein Selbstverständnis, das den Fremden als Nächsten betrachtet und im Nächsten Christus sieht (Mt 25, 35) sowie eine jahrhundertelange Tradition, die dieses Selbstverständnis umzusetzen versuchte. Daher respektiert der Staat das Kirchenasyl eher als das Kaninchenzuchtvereinsasyl. Tatsächlich hat das Kirchenasyl eine sehr lange Tradition. Die Idee der Möglichkeit einer Zufluchtnahme zu Gott, zum Heiligen, zum Tempel, zur Tabuzone für Gewalt und Herrschaft ist eine der ältesten Leistungen menschlicher Kultur. Kirchenasyl ist das Erbe dieser Idee. Im Christentum erhält die Idee eine konkrete Rechtfertigung: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5, 29). Der Ort, die Idee zur Tat reifen zu lassen, ist das Gewissen, dessen Freiheit das Grundgesetz hervorhebt (Art. 4, 1 GG). Damit ist für das Verhältnis des Kirchenasyls zum Rechtsstaat klar: Kirchenasyl ist zwar religiös motiviert, steht aber nicht außerhalb des Rechts, sondern ist über die Figur der Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit dessen integraler Bestandteil. Von „Unterwanderung“ des Rechts kann also nur insoweit die Rede sein, als jeder Gebrauch der Gewissensfreiheit das Recht „unterwandert“ – in der Kollision der Gewissensentscheidung mit einer Norm liegt ja gerade ihr Wesen. Ein Staat, der das verhindern will, darf keine Gewissensfreiheit geben.

Christen unterstehen dem Recht eines Staates nur so lange, wie dieses nicht dem Gottes- und Naturrecht widerspricht. Das, was Gottes- und Naturrecht ist, zeigt sich dem Christen in seinem Gewissen, von dem er frei Gebrauch machen kann (bevor jemand „Privileg!“ schreit: Gewissensfreiheit haben alle Menschen). Wenn ein Christ ungerechte Härten erkennt – und die Bedrohung von Leib und Leben ist eine solche – muss er als Christ handeln. Das gebietet ihm Gott durch sein Gewissen. Die Frage ist immer die gleiche: Ist der Gehorsam gegenüber dem Gebot Gottes und gegenüber dem Mandat des Gewissens eine Bedrohung für den Rechtsstaat? Die Antwort auch: Nur dann, wenn dieser zum Unrechtsstaat wird. In einigen Fällen scheint er das geworden zu sein, wenn tatsächlich ein Großteil der durch das Kirchenasyl erwirkten Verfahrensneuaufnahmen zur Anerkennung führen und das Kirchenasyl damit unberechtigte Abschiebungen verhindert. Insoweit stärkt es den Rechtsstaat sogar, soweit es darin nicht nur um formale Gesetzlichkeit, sondern auch um materiale Gerechtigkeit gehen soll. Und das sollte es. Denn ein Blick in unsere Geschichte zeigt, das so etwas wie ein Gerechtigkeitsvorbehalt bei der Anerkennung von Gesetzen nicht der schlechteste Gedanke ist.

Die Katholische Kirche hat während der NS-Diktatur Gemeinden und Einzelpersonen unterstützt, die Menschen versteckt und damit vor der Deportation bewahrt haben. Die Kirche hat sich damit in staatliche Angelegenheiten eingemischt und über staatliche Gesetze erhoben. Das war gut – sagen wir heute. Und es ist gut, dass die Kirche heute am Kirchenasyl fest hält und Gemeinden unterstützt, die Flüchtlinge bei sich aufnehmen und damit vor der Abschiebung bewahren. Diese Aufnahme ist – wie jede Gewissensentscheidung – in Freiheit und mit Vernunft zu verwirklichen. Der Grundsatz lautet: Ein frei und vernünftig erwogenes Kirchenasyl ist manchmal illegal, doch meistens legitim. Es muss jedoch allen Beteiligten klar sein, dass ihr Handeln strafbar sein kann und dass es untrennbar zum Gewissensgebrauch gehört, eine mögliche Strafe anzunehmen. Wie jeder Rechtsbruch aus Gewissensgründen muss auch das Kirchenasyl daher mit Klugheit abgewogen werden, unter Berücksichtigung von Chancen und Risiken für alle Beteiligten. Wenn aber das Gewissen gesprochen hat, dann sollte die Angst vor Strafe schweigen. Und der Bundesinnenminister auch.

(Josef Bordat)

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