Werte und so

17. Oktober 2015


Gelegentlich bekommen meine Nachbarn den Tagesspiegel. Woher auch immer, jedenfalls haben sie ihn dann. Da sie Morgenpost-Leser sind, fragen sie mich in diesen Fällen, ob ich Interesse habe. Habe ich. Immerhin gibt es in jeder Ausgabe gleich zwei Sudokus. Der Inhalt ist dagegen eher zu vernachlässigen. Ab und an rege ich mich auch darüber auf. So wie gestern, als der Verfasser eines Kommentars auf der ersten Seite mit dem süffisant-witzig(gemeint)en Titel „Gott sei Dank bin ich Atheist“ tatsächlich meint, irgendeine Stellungnahme irgendeiner CSU-Politikerin zum Anlass nehmen zu können, der Katholischen Kirche ans Bein – Sie wissen schon.

Zunächst zählt der Kommentator brav die Werte des Christentums („C-Werte“) auf (also, die, die er kennt bzw. von denen er meint, sie seien dies), also: „Liebe, Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, zum Beispiel“, um dann festzustellen: „Nun ist nicht neu, dass der Katholizismus, der Hauptvertreter des Christentums, heftigst an den C-Werten rüttelt. Das macht er seit Jahrtausenden und eben jetzt auch wieder. Was zum einen der Brandbrief gegen den Reformpapst Franziskus belegt, zum anderen die Attacken sowohl der bayrischen C-Schwester als auch der bundesweiten C-Partei zeigen.“ Zitat Ende.

Also: Die Katholische Kirche verrät die Werte des Christentums. Beleg: die deutsche Innenpolitik A.D. 2015. Und ein „Brandbrief“. Ich hab ja schon einiges gelesen, aber noch keine so dämliche Variante des Versuchs, einen Keil zwischen katholisch und christlich zu treiben. Da sind selbst Jack Chick-Comics anspruchsvoller. Jedenfalls wird da nicht in einem Atemzug von „Jahrtausenden“ und „Reformpapst“ gefaselt, wenn es gegen die Katholische Kirche geht. Da heißt es „Hure Babylon“. Feierabend.

Es ist ja schon schlimm genug, dass mehr und mehr in Vergessenheit gerät, wer überhaupt die historische Errungenschaft der sozialen Gerechtigkeit auf die gesellschaftliche Agenda gebracht hat, wer den Weg zwischen Liberalismus und Sozialismus bahnte, um Freiheit und Verantwortung gleichermmaßen zu Säulen des Umgangs zu machen, wenn wir miteinander handeln und arbeiten, kaufen und verkaufen. Dass verdrängt wurde, dass insbesondere die Soziale Marktwirtschaft (Sie erinnern sich vielleicht) aus nichts anderem hervorging als aus der Katholischen Soziallehre. Nein: Jetzt auch noch „Brandbriefe“!

„Brandbriefe“ an die Adresse von Reform- und anderen Päpsten haben im übrigen auch im System der „C-Werte“ ihren Platz, was auch der Kommentator gemerkt hätte, wäre in seiner axiologischen Liste nicht einfach das vielleicht – neben der Liebe – wichtigste Exemplar aus taktischen Gründen unter den Tisch gefallen: Wahrheit. Und die konziliare Suche nach ihr. Auch das sind zentrale christliche Werte. Und das hat auch etwas mit Gerechtigkeit zu tun. Am Ende sogar mit Liebe.

Der eigentliche Irrtum liegt jedoch eine Etage tiefer, bei den Grundlagen der Ekklesiologie, denn: Die Kirche ist ihrem Wesen nach kein Sozialwerk, dessen gesellschaftliche Nützlichkeit in Krisenzeiten den alleinigen Ausschlag über das Urteil gibt, welche Werte nun welche Rolle spielen sollten. Aber das muss man nicht wissen, wenn man über die Kirche sinniert. So als Tagesspiegel-Kommentator. Dafür reicht es, Atheist zu sein. Nur ist es dann leider so: Wenn man gar keine Ahnung hat, wovon man spricht, steht am Ende keine polemische Zuspitzung, die irgendetwas offenlegte, wie das für einen satirischen Kommentar üblich ist, sondern schlicht und einfach dummes Geschwätz.

Wie gesagt: Ich lese den Tagesspiegel nur, wenn meine Nachbarn ihn geschenkt bekommen. Und das ist nicht allzu oft der Fall. Gott sei Dank.

(Josef Bordat)

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