Wunder

31. Januar 2017


In jener Zeit fuhr Jesus im Boot wieder ans andere Ufer hinüber, und eine große Menschenmenge versammelte sich um ihn. Während er noch am See war, kam ein Synagogenvorsteher namens Jaïrus zu ihm. Als er Jesus sah, fiel er ihm zu Füßenund flehte ihn um Hilfe an; er sagte: Meine Tochter liegt im Sterben. Komm und leg ihr die Hände auf, damit sie wieder gesund wird und am Leben bleibt.Da ging Jesus mit ihm. Viele Menschen folgten ihm und drängten sich um ihn. Darunter war eine Frau, die schon zwölf Jahre an Blutungen litt. Sie war von vielen Ärzten behandelt worden und hatte dabei sehr zu leiden; ihr ganzes Vermögen hatte sie ausgegeben, aber es hatte ihr nichts genutzt, sondern ihr Zustand war immer schlimmer geworden. Sie hatte von Jesus gehört. Nun drängte sie sich in der Menge von hinten an ihn heran und berührte sein Gewand.Denn sie sagte sich: Wenn ich auch nur sein Gewand berühre, werde ich geheilt.Sofort hörte die Blutung auf, und sie spürte deutlich, dass sie von ihrem Leiden geheilt war. Im selben Augenblick fühlte Jesus, dass eine Kraft von ihm ausströmte, und er wandte sich in dem Gedränge um und fragte: Wer hat mein Gewand berührt? Seine Jünger sagten zu ihm: Du siehst doch, wie sich die Leute um dich drängen, und da fragst du: Wer hat mich berührt? Er blickte umher, um zu sehen, wer es getan hatte. Da kam die Frau, zitternd vor Furcht, weil sie wusste, was mit ihr geschehen war; sie fiel vor ihm nieder und sagte ihm die ganze Wahrheit. Er aber sagte zu ihr: Meine Tochter, dein Glaube hat dir geholfen. Geh in Frieden! Du sollst von deinem Leiden geheilt sein.Während Jesus noch redete, kamen Leute, die zum Haus des Synagogenvorstehers gehörten, und sagten (zu Jaïrus): Deine Tochter ist gestorben. Warum bemühst du den Meister noch länger? Jesus, der diese Worte gehört hatte, sagte zu dem Synagogenvorsteher: Sei ohne Furcht; glaube nur!Und er ließ keinen mitkommen außer Petrus, Jakobus und Johannes, den Bruder des Jakobus. Sie gingen zum Haus des Synagogenvorstehers. Als Jesus den Lärm bemerkte und hörte, wie die Leute laut weinten und jammerten, trat er ein und sagte zu ihnen: Warum schreit und weint ihr? Das Kind ist nicht gestorben, es schläft nur. Da lachten sie ihn aus. Er aber schickte alle hinaus und nahm außer seinen Begleitern nur die Eltern mit in den Raum, in dem das Kind lag. Er fasste das Kind an der Hand und sagte zu ihm: Talita kum!, das heißt übersetzt: Mädchen, ich sage dir, steh auf!Sofort stand das Mädchen auf und ging umher. Es war zwölf Jahre alt. Die Leute gerieten außer sich vor Entsetzen. Doch er schärfte ihnen ein, niemand dürfe etwas davon erfahren; dann sagte er, man solle dem Mädchen etwas zu essen geben. (Markus 5, 21-43)

1. Medizinische Wunder im Doppelpack. Eine Frau und ein junges Mädchen. Jene schwer krank, diese schon tot. Die Ärzte sind machtlos, die Wissenschaft ratlos, alles scheint zu spät. Dann das Wunder. Es kann geschehen, weil die Menschen glauben. Weil sie Vertrauen in Jesus setzen, in Seine Liebe zu den Menschen. Die Wunder, die Jesus im Gegenzug wirkt, sind „Ausdruck seiner Liebe zu den Menschen, die er auf seinem Weg trifft“ (Chiara Lubich). Diese Liebe setzt sich in der Kirche fort. Die Apostel erben und vererben ihrerseits die wunderbare Liebe.

Und wir heute, wie stehen wir zu den Wunderberichten im Markusevangelium? Wie zu den Wundern in der Geschichte der Kirche? Nun: Sie fordern uns heraus. Unser Denken. Sie erfordern ein Umdenken. Wir müssen fragen: Ist es wahr? Und nicht, wie sonst: Ist es wahrnehmbar? Dennoch: Wunder spielen auch in unserer Kultur eine große Rolle, zumindest die Sehnsucht nach ihnen. Allem wissenschaftlichen Fortschritt zum Trotz findet sich die Wundermetapher in Filmtiteln („Das Wunder von Lengede“), Liedern („Wunder gibt es immer wieder“, Katja Ebstein; „Wunder gescheh’n, ich hab’s geseh’n“, Nena) oder auch in den großen Erzählungen, die unser kollektives Gedächtnis bilden („Das Wunder von Bern“).

2. Doch angesichts konkreter Wunderberichte breitet sich vor allem eines aus: Skepsis. Gerade die Kirche selbst ist vorsichtig, wenn es um Fälle angeblicher Wunderheilungen geht. Die Kirche sucht keine Wunder für den Reputationsgewinn ihres Glaubens, sie prüft gerade aus diesem Grund sehr sorgfältig. Zur Illustration der Sorgfalt wird gerne folgende eindrückliche Begebenheit geschildert: Ein Journalisten habe sich 1960 gegenüber dem im Vatikan mit der Wunderuntersuchung beauftragten Sekretär abfällig über Wunderberichte geäußerte. Wenige Tage später überreichte dieser Sekretär dem Journalisten wortlos einen Stapel von Berichten und Zeugenaussagen. Nachdem der Journalist wochenlang diese Schriften studiert hatte, musste er dem Sekretär gegenüber eingestehen, dass es nach menschlichem Ermessen an der Tatsächlichkeit der dort beschriebenen Ereignisse keinen Zweifel mehr geben könne. Der Sekretär erwiderte ihm mit einem Lächeln: „Und dabei sind die Akten, die ich Ihnen gab, doch nur die, die wir als mangelhaft abgelehnt haben.“ Also: Die Kirche ist hinsichtlich der Wunderfrage skeptisch und zurückhaltend.

Das wundert wiederum nur den, der die Zeichen der Kirche nicht erkannt hat. Denn die Kirche hat es gar nicht nötig, um jeden Preis nach Zeichen und Wundern zu fahnden, denn sie verkündet eine Wahrheit, die die Spurensuche obsolet macht: Christus selbst ist das Zeichen, die Welt ist das Wunder. Nicht der partikulare Effekt entscheidet, sondern die Holistik einer guten Schöpfung, die in Christus ihre Vollendung findet. Das ist der christliche Glaube.

3. Was aber gilt der Kirche als „Wunder“? Ein Wunder ist „ein Geschehen, das Aufsehen erregt, weil es unerwartet eintritt, im allgemeinen innerweltlich unerklärlich ist und als Hinweis auf Gottes Wirken in der Welt (auch wenn es durch geschöpfliche Zweitursachen vermittelt ist) gewertet werden kann“, so lässt es sich im Lexikon der katholischen Dogmatik nachlesen. Und weiter: Wunder haben, wie schon erwähnt, einen „dialogischen Charakter, d. h., sie offenbaren die personale Liebe Gottes“. Sie stellen, so meint Marcus Sieger in Die Heiligsprechung. Geschichte und heutige Rechtslage, „ein übernatürliches Eingreifen der Heilsmacht Gottes‚ in Vorausnahme der eschatologischen Vollendungsgestalt der Schöpfung’“ dar, d. h., sie zeigen uns, worauf Gottes Schöpfung, die wir für gewöhnlich als unvollendet ansehen, hinausläuft, sie geben einen Vorgeschmack auf das wunderbare Ziel unseres Daseins, an dem uns das Wunder der Vollendung als Dauerzustand erwartet.

Als paradigmatisch für Wesen und Wirkung der Wunder gelten die Evangelien, insbesondere das Markusevangelium, aus dem die heutige Perikope entnommen ist. Sie sind eine Quelle verschiedener Wunderberichte, deren Überlieferungsbestand einen Anhaltspunkt bei der historischen Beurteilung der Wundertätigkeit Jesu darstellt. Der Duktus der Erzählungen spricht dabei für die Historizität der Wunder, häufig wird sehr nüchtern berichtet, tendenzlos. Auffällig ist ihr Anteil an den vier Beschreibungen des Lebens und Wirkens Christi; allein im Markusevangelium macht der Umfang der Wunderberichte an den Berichten insgesamt etwa ein Drittel aus. Die Bedeutung der Wunder, von denen die Evangelien berichten, liegt in ihrer Verbindung zur Eschatologie, denn in der Wundertätigkeit Jesu „bricht die Gottesherrschaft leibhaft-welthaft an“, wie es im Lexikon der katholischen Dogmatik heißt. Zugleich bringen sie das Geheimnis des Reiches Gottes auf die Erde, das sich zwar in der Wundertat entäußert, aber doch unverstanden bleibt, zumindest solange, bis Tod und Auferstehung den wundertätigen Jesus als den Sohn Gottes erweisen; seine diesbezügliche Selbstauskunft zu Lebzeiten wird noch zu sehr von der Heimlichkeit vieler Wunderhandlungen und dem zumeist folgenden Schweigegebot überlagert, als dass sich schon allein durch Selbstauskunft und Wundertätigkeit seine Gottessohnschaft hätte offenbaren können. So bleibt das Ostergeschehen in seiner Bedeutung unverzichtbar, als das Wunder, das die Urchristen alle anderen Wundertaten als Taten des Gottessohnes anerkennen lässt.

4. Für die katholische Theologie sind in der Wunderfrage – wie auch in vielen anderen Fragen – insbesondere Augustinus und Thomas von Aquin „Konzentrationspunkte theoretischen Nachdenkens“, so noch einmal das Lexikon der katholischen Dogmatik. Bei Augustinus überwiegt der Hinweis- und Zeichencharakter, er sieht in ihnen keinen Sonderstatus hinsichtlich ihrer ontologischen Struktur. Das Wunder als göttliche Tat dient letztendlich dazu, Gott zu erkennen, und zwar aus den sichtbaren Dingen: „Die Wunder, welche unser Herr Jesus Christus getan, sind gewiß göttliche Werke und mahnen den menschlichen Geist, Gott aus den sichtbaren Dingen zu erkennen“, mehr noch: „damit wir den unsichtbaren Gott durch die sichtbaren Werke bewundern“ (Tract. in Io. Ev. 24, 1). Nach Augustinus liegt der Zweck der Wundertätigkeit darin, uns auf das Wunder der Wirklichkeit zu stoßen, also uns nicht nur einen Vorgeschmack auf die vollendete Schöpfung zu geben, die einst als Wunder offenbar wird, sondern eine andere Perspektive auf die nur scheinbar unvollendete Schöpfung anzubieten, die uns erkennen lässt, dass bereits hier und jetzt das in Aussicht gestellte „Dauer-Wunder“ jenseitiger Vollendung zu erleben ist. Augustinus lenkt den Blick, der in die Ferne auf das Wunder jenseits der Schöpfung gerichtet ist, das in kleinen Teilen gelegentlich in ihr manifest wird, auf das Wunder der Schöpfung selbst. Es gehe darum, im ganz Alltäglichen das Wunderbare zu entdecken, auch wenn diese Phänomene – Augustinus nennt als Beispiel das „Samenkorn“ – durch ihre Häufigkeit in der Wertschätzung sinken. Weil dieser Gewöhnungseffekt die Achtung vor dem Wunder der Schöpfung gefährde, habe sich Gott, „nach seiner Barmherzigkeit einige [Wunder] vorbehalten, um sie zu gelegener Zeit gegen den gewöhnlichen Lauf und Gang der Natur zu vollbringen, damit beim Anblick nicht zwar größerer, aber ungewöhnlicher Werke diejenigen staunen sollten, auf welche die alltäglichen keinen Eindruck machten“ (Tract. in Io. Ev. 24, 1). Doch Augustinus richtet nicht nur das Augenmerk vom Schaueffekt des Erhaschens transzendenter Momente in der Immanenz auf die dauerhafte staunende Betrachtung der Welt in ihrer scheinbaren Normalität, sondern auch vom naturwissenschaftlich Außergewöhnlichen auf das Besondere in Ethik und Politik: „Denn ein größeres Wunder ist die Leitung der ganzen Welt als die Sättigung von fünftausend Menschen mit fünf Broten, und doch staunt darüber niemand; dagegen staunen die Menschen über das letztere, nicht weil es größer, sondern weil es selten ist.“ (Tract. in Io. Ev. 24, 1)

5. Die staunende Betrachtung der Welt in ihrer scheinbaren Normalität – diese Perspektive ist sehr interessant. Ich möchte einen Moment bei ihr verweilen.

Es gibt im Monty Python-Film Das Leben des Brian (GB, 1979) eine Szene, in der eine vermeintliche Selbstverständlichkeit zum Wunder erklärt wird: die Tatsache, dass ein Wacholderbusch Wacholderbeeren trägt. Brian, der sich nicht als wundertätig feiern lassen möchte, entgegnet der hysterischen Menge, die ihn mehr verfolgt als ihm zu folgen, schroff und unmissverständlich: „Natürlich sind da Wacholderbeeren dran, weil es ein Wacholderbusch ist. Was habt ihr denn erwartet?“

Auf den ersten Blick scheint der Fall eindeutig. Eine fanatische Menge deutet in ihrer Sehnsucht nach immer neuen Sensationen jede „Selbstverständlichkeit“ als Wunder. Eine Haltung, die man ablehnen muss, insbesondere dann, wenn darin der direkte Einfluss eines allzu menschlichen Führers – sei er religiöser oder ideologischer Art – zentral ist. „Nur durch sein Wort hat er den Busch Früchte tragen lassen“, sagt einer der Brian-Jünger. Brian tut gut daran, ihm und den anderen dieses Glauben auszureden.

Auf den zweiten Blick scheint aus dieser Szene Augustinus zu sprechen: Das eigentliche Wunder ist die Schöpfung selbst. Und dazu gehört auch der Wacholderbusch. Was erwarten wir von der Natur? Ist die Natur und all das Gute in ihr selbstverständlich? Wenn wir die Natur als wunderbare Schöpfung Gottes betrachten, in der ein Wacholderbusch ein besonderer Teil ist, dann können wir die scheinbare Normalität, dass nämlich der Wacholderbusch Wacholderbeeren trägt, in der Tat als etwas ganz Besonderes betrachten – als Wunder. Eine solche Sicht wird Menschen oft erst dann möglich, wenn sie längere Zeit auf das „Selbstverständliche“, das „Natürliche“ verzichten mussten. Nach Dürren, nach Missernten, aber auch – im individuellen Rahmen – nach einer Krankheit oder einem Unfall. Dann begegnen uns plötzlich die kleinsten Dinge als größte Wunder und nötigen uns ab, was als Haupteffekt alles Wunderbaren angesehen werden kann: Dankbarkeit. Wer den Begriff des Wunders aus seinem Herzen tilgt, dem wird auch Dankbarkeit schwerer fallen. Dankbarkeit für das Wunder des Lebens – das hat als Ausdruck einer Herzenshaltung zum Menschen und zur Welt einen tiefen Sinn. Der Glaube an Wunder hat demnach seinen festen Platz in der Ordnung der Dinge.

6. Bei Thomas schließlich überwiegt die Bestimmung des Wunders von der unmittelbaren transzendentalen Kausalität Gottes her, was nichts anderes ist als die „Finalität“ Leibnizens. Das Wunder läuft „vorbei an der Ordnung der Natur“ (Sum Th I, 110, 4) bzw. unter „Übergehung der uns bekannten Ursachen“ (Sum Th I, 105, 7). Es kommt von Gott und – so darf man wohl hinzufügen – wir werden die Ursachen des göttlichen Wirkens nie von Gott trennen können.

Darin steckt wissenschaftstheoretische Brisanz: Jenseits der Ebene empirisch erfahrbarer Naturrealität werden göttliche Wirkkräfte angesiedelt, die mit dem Methodeninventar der Naturerforschung nicht beschrieben werden können, die somit „vorbei an der Ordnung der Natur“ gleichwohl in die Natur einwirken und dort wahrnehmbare Folgen zeitigen. Damit dies denkbar wird, muss – etwa mit Leibniz – zwischen Ursache und Grund sowie zwischen Finalität und Kausalität unterschieden werden. Zur Verdeutlichung: Dass ein Stein zu Boden fällt, hat seinen Kausalgrund in der Gravitation, die durch eine naturwissenschaftliche Theorie beschrieben wird. Worin jedoch die Finalursache der Gravitation besteht, dazu kann und will die naturwissenschaftliche Theorie keine Aussage machen. Hier entsteht Freiraum für philosophische Spekulation und für den religiösen Glauben.

Diese Trennung von materialer Welt (Leibniz nennt diese das „Reich der Natur“) und geistiger Welt (bei ihm das „Reich der Zwecke“ oder der „Gnade“) ist nötig, um mit Thomas eine Einwirkung auf die Natur (bedingt durch die Finalität) „vorbei an der Ordnung der Natur“ (bestimmt durch die Kausalität) überhaupt für möglich halten zu können. Sie bedeutet aber auch, dass Wunder sich nur um den Preis einer Metaphysik der Erkenntnis und des Wissens verstehen und akzeptieren lassen. Dass diese Metaphysik von Naturforschern abgelehnt wird und der Wunderbegriff für die Wissenschaft obsolet ist, mag wiederum nicht wundern; hier wird der Passus von den „uns nicht bekannten Ursachen“ betont und die Hoffnung eines „Noch nicht, aber bald“ genährt. Ob es sich aber bei dem, was wir finden, um Erst- oder Zweitursachen handelt, ob die Antworten der Wissenschaft den Menschen im wittgensteinschen Sinne „zur Ruhe kommen“ lassen, dürfte solange umstritten bleiben, solange wir nicht die Perspektive Gottes einnehmen und von dort den Weltlauf betrachten. Da dies nie der Fall sein wird, verliert die Spekulation über nicht erkennbare Erstursachen einer göttlichen Zwecksetzung und Sinnstiftung, die sich in den nachvollziehbaren Zweitursachen ausdrücken, nie ihre Berechtigung. So bleibt schließlich auch der Glaube an Wunder stets aktuell.

7. Man könnte also sagen: Wunder sind Transzendenzerfahrungen in der Immanenz der Welt. Damals wie heute. Besonders bedeutend sind hierbei Heilungswunder: Die Ärzte wissen keinen Rat, das Bittgebet aber heilt. Man mag sich darüber streiten, ob es in solchen Fällen der Transzendenzbezug im Glaubensakt des Gebets ist, der heilt, oder vielmehr der Glaube an die Heilkräfte dieses Transzendenzbezugs. Das ist selbst eine Glaubensfrage. Im Heilungswunder offenbart sich aber der Zusammenhang von Heiligung und Heilung, den auch Johannes Paul II. auf so vorzügliche Weise repräsentiert hat: Die Heiligung durch das Wunder liegt in der Heilung dessen, an dem sich das Wunder vollzieht. Die eigene Heiligkeit wird abhängig vom Heil anderer.

Ein konkretes Wunder-Beispiel wird in Vernünftig glauben. Ein Gespräch über Atheismus von Walter Kardinal Brandmüller dargestellt. Wunder müsse man, so Kardinal Brandmüller, unter einer anderen Prämisse betrachten. Heute fragten wir: „Ist es möglich?“ Doch die richtige Frage laute schlicht: „Ist es passiert?“ Der Nachweis der Gültigkeit einer Kombination aus beiden Fragen („Es kann nicht passiert sein, weil es nicht möglich ist!“) obliegt dem, der sie vornimmt. Keine wissenschaftliche Erklärung zu haben ist zwar nicht hinreichend dafür, von einem Wunder zu sprechen, aber eben auch nicht dafür, die Möglichkeit von Wundern auszuschließen. Im Gespräch mit dem Journalisten Ingo Langner schildert Kardinal Brandmüller einen beeindruckenden Fall: das Wunder von Calanda. Kurzfassung. Einem Unterschenkelamputierten wächst auf die Fürsprache Mariens in der Nacht vom 29. auf den 30. März 1640 ein neues, gesundes Bein. Ein Wunder! Oder was? Eine Ungeheuerlichkeit! Fand man damals auch: „Der Vorgang war so unerhört, dass sofort eine medizinische, juristische und theologische Untersuchung erfolgte, deren Dokumentation lückenlos vorhanden ist und jeder historisch-kritischen Prüfung standhält. Die Zahl und Kompetenz der befragten Zeugen gestatten keinen vernünftigen Zweifel an dem Ereignis.“ Mittlerweile ist das Wunder von Calanda in über 100 meist kritischen Publikationen eingehend untersucht und geprüft worden. Die Akten sind 2006 in einer kritischen Edition erschienen (Tomás Domingo Pérez: El milagro de Calanda y sus fuentes históricas, Zaragoza: CAI).

Es kann „keinen vernünftigen Zweifel“ geben, das heißt: Selbstverständlich bleibt unvernünftiger Zweifel zulässig. Und selbstverständlich muss man nicht an die kausale Wirkung des Fürbittgebets glauben (der Betroffene humpelte zuvor „mehr als 2 Jahre immer wieder mit seinen Schmerzen zu dem Marienheiligtum Santa Maria del Pilar zu Saragossa“). Dass über Nacht ein Bein wächst, könnte sonst welche Gründe haben. Aber der Unglaube rechtfertigt nicht, die kausale Wirkung als „unmöglich“ zu verneinen. Zu sagen „Wir haben ja auch keine Erklärung. Aber auf keinen Fall war es Gott!“, das ist – unvernünftig.

„Und? Glaubst Du das?“ Ganz ehrlich: Es fällt mir schwer. Doch ich sehe bei der vorliegenden Aktenlage keinen Grund, nicht daran zu glauben, dass geschehen ist, was beschrieben wird. Und ich sehe mich nicht in der Lage, eine kausale Wirkung des Gebets auszuschließen. Ich sage stattdessen: „Sein Glaube hat ihm geholfen!“ Andererseits spielt es für meinen Glauben keine tragende Rolle, was wirklich geschah, wie es geschah und wodurch es geschah. Ich glaube nicht an Gott, weil er Beine wachsen lässt, sondern Hoffnung und Liebe. Und ansonsten halte ich es hinsichtlich der Wunder, von denen ich höre, im Zweifel mit David Ben-Gurion: „Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.“

(Josef Bordat)