Der Politiker und der Heilige. Und Donald Trump
29. Januar 2017
Der Soziologe Max Weber vertrat in einer Rede (Politik als Beruf, 1919) die Auffassung, es gebe eine letzte, argumentativ nicht mehr entscheidbare Alternative zwischen zwei moraltheoretischen Grundtypen, nämlich die Unterteilung in Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. Menschen sind entweder Gesinnungsethiker oder Verantwortungsethiker und können sich für diese Grundentscheidung nicht mehr rechtfertigen.
Als Verantwortungsethiker bezeichnete Weber denjenigen, der bei seinem Handeln die Gesamtheit der Folgen seines Handelns bedenkt und der die Bewertung dieser Folgen zum Maßstab seiner Entscheidung macht, also konsequentialistisch argumentiert, mit Begriffen wie Nutzen, Situation, Abwägung, geringeres Übel und Bezugsrahmen.
Gesinnungsethiker nannte er hingegen denjenigen, der bestimmte Handlungen kontextunabhängig als moralisch oder unmoralisch qualifiziert, also ohne Rücksicht auf die Folgen bestimmter Handlungen oder Unterlassungen das tut, was er für das sittlich Gebotene hält, also deontologisch argumentiert, mit Begriffen wie Prinzip, Pflicht, Absolutheit und Unbedingtheit.
Die Gesinnungsethik nennt Weber auch die Ethik des Heiligen und die Verantwortungsethik die Ethik des Politikers. Robert Spaemann bemerkte dazu, dass es dann bei Thomas Morus ein Klassifizierungsproblem gebe, da er ein heiliger Politiker oder ein politisch tätiger Heiliger gewesen sei, der aus einer bestimmten Gesinnung heraus Verantwortung übernahm.
Jenseits der Weberschen Unterscheidung von Verantwortungs- und Gesinnungsethik muss zunächst konstatiert werden, dass jeder Handlung eine Abwägung vorausgeht, bei der die Verantwortung für die Konsequenzen der Handlung eine Rolle spielt und dass es umgekehrt den Fall geben kann, dass eine Handlung um ihrer selbst willen nicht ausgeführt werden kann, selbst wenn der Abwägungsprozess ein Ergebnis zeitigt, dass für die Handlung spricht, etwa dann, wenn Gewissensnot eine bestimmte Handlungsweise unmöglich macht.
Die Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen, steht und fällt sodann mit der Möglichkeit, sich frei für oder gegen bestimmte Handlungen zu entscheiden. Damit wird ein Begriff angesprochen, der in den letzten Jahren eine wahre Renaissance erfahren hat: die Willensfreiheit.
Eine Auseinandersetzung mit der Kontroverse um die Ergebnisse der Hirnforschung zum Wesen intentionaler Vorgänge des Bewusstseins und ihrer neuronalen Kausalitäten (so die offensive Position einiger Neurobiologen) bzw. Korrelate (so kritische Stimmen aus der Philosophie des Geistes) ist hier nicht am Platz, auch wenn sie – insbesondere methodologisch – interessant wäre.
Ich möchte nur darauf hinweisen, dass sich mir der Verdacht aufdrängt, dass Neurobiologen und kritische Philosophen zum Thema Freiheit geflissentlich aneinander vorbei reden, geleitet von ihrem jeweiligen methodischen Paradigma – „Erklären“ (Naturwissenschaft) versus „Verstehen“ (Geisteswissenschaften). Es ist nicht immer klar auf welcher Ebene der Freiheitsbegriff diskutiert wird, was also jeweils genau gemeint ist mit „Freiheit“.
Es gibt einen Unterschied zwischen Willens-, Wahl-, Entscheidungs- und Handlungsfreiheit. Alltagsentscheidungen (und zu diesen zählen die meisten Entscheidung im Rahmen der Ethik) haben gerade nicht den Willkürcharakter der Libet-Experimente, sondern sind immer Ergebnis einer Prüfung unter rationaler Abwägung von Gründen und unter Berücksichtigung von Gefühlen, die uns im Zweifel auch bei eindeutiger Motivlage von der gewollten Handlung abhalten.
Dabei geht es nicht nur um die Hemmung biologischer Impulse durch die Vernunft, also um Affektkontrolle. Vielmehr werden die Entscheidungsgründe selbst ihrerseits frei entwickelt, so dass sie der Mensch als die eigenen betrachten, sich also mit ihnen identifizieren kann, ohne deterministisch auf sie festgelegt zu sein. Wer hier Phänomene anführt, die außerhalb dessen liegen, was unserem volitionalen Bewusstsein zugänglich ist und die dieses (mit)bestimmen, weist nur darauf hin, dass wir nicht absolut frei oder gar allmächtig sind.
Ohne den Rahmen äußerer oder innerer Bestimmungsgrößen könnte der Mensch gar nicht sinnvoll entscheiden, weil er dann kein autonomes Subjekt bilden würde, das sich als integriert erlebt und dessen Freiheit gerade in der Konvergenz seines Selbst-Bilds mit seinem Selbst-Sein besteht. Harry Frankfurt hat dies in Sich selbst ernst nehmen (2007) überzeugend dargelegt.
Gehen wir also getrost davon aus, dass der Mensch frei ist, zumindest so frei, Verantwortung vor seinen und für seine Entscheidungen zu übernehmen. Wo liegen jetzt die Probleme der Verantwortungsethik als moraltheoretischer Begründungsfigur? Ganz grundsätzliche Einwände gegen die Verantwortungsethik als Typus konsequentialistischer Moralbegründung (nicht gegen die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung als moralische Grundeinstellung!) werden insbesondere von Vertretern einer christlichen Ethik formuliert, etwa von Robert Spaemann (Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, 2001) und Eberhard Schockenhoff (Grundlegung der Ethik. Ein theologischer Entwurf, 2007).
Spaemann sieht in der folgenfixierten Verantwortungsethik einen Akt der Selbstvergötterung des Menschen: „Eine atheistische Zivilisation neigt schon deshalb zum totalen Konsequentialismus in der Moral, weil dort, wo Gott nicht als Herr der Geschichte verstanden wird, Menschen versucht sind, die Totalverantwortung für das, was geschieht, zu übernehmen und so die Differenz zwischen Moral und Geschichtsphilosophie aufzuheben“ (2001: 237).
Dabei sei sich die utilitaristische Ethik nicht der Beweislast bewusst, die sie übernimmt, und über das Ausmaß der Last, die sie dem Menschen aufbürdet, wenn sie die universalteleologische Orientierung ihres Konzepts, die in der theologischen Tradition immer als göttliche Prärogative gedacht ist, unmittelbar auf den handelnden Menschen überträgt (2001: 212).
Spaemann sieht weiterhin einen Hauptkritikpunkt an der Verantwortungsethik im Übergang von der verbindlichen Einzel- zur unverbindlichen Gesamtverantwortung im ethischen Kalkül des Utilitarismus: „Das konsequentialistische Ethikverständnis, das sich selbst als verantwortungsethisch versteht, zerstört den Begriff der sittlichen Verantwortung durch Überdehnung. Die konkrete Verantwortung handelnder Menschen wird zu einer bloß instrumentellen Funktion im Rahmen einer stets fiktiv bleibenden Gesamtverantwortung“ (2001: 223).
Ferner besteht das Grundproblem der konsequentialistischen Ethiken darin, dass ich aus der Position des Handelnden heraus ja gar nicht wissen kann, ob ich der Maxime Nutzenmaximierung mit einem bestimmten Handeln gerecht geworden bin. Daran erinnert Schockenhoff: „Konsequentialistische Ethikansätze wie der Utilitarismus oder die teleologische Ethik schreiben dem Menschen die Verantwortung für sämtliche vorhersehbaren Folgen seiner Handlungen zu. […] Wenn dem Menschen die grenzenlose Optimierung seiner Handlungsfolgen aufgetragen ist […] stellt dies […] in vielen Fällen eine rigoristische Überforderung der Handelnden dar“ (Schockenhoff 2007: 459 f.).
Nutzenmaximierung im Hinblick auf die Folgen als Richtschnur für das Handeln, also „the greatest happiness of the greatest number“ (Bentham), führe, so Schockenhoff, zur „Überdehnung des Verantwortungsbegriffs“ (2007: 460), woraus er die Schlussfolgerung zieht:„Eine Moraltheorie, die den Verantwortungsspielraum, innerhalb dessen ein Mensch sein Handeln bedenken soll, nicht differenzierter umschreiben kann als es durch die Zuschreibung sämtlicher Handlungsfolgen geschieht, wird im Ergebnis hypertroph; sie scheitert an der Endlichkeit des Menschen, der nicht für die Optimierung von Weltläufen, sondern für das verantwortlich ist, was er innerhalb seiner Grenzen vernünftigerweise tun oder unterlassen kann“ (2007: 460).
Und hier ist eben die Frage, was das bedeutet, etwa für einen US-amerikanischen Präsidenten. Wofür hat Donald Trump Verantwortung? Und wofür nicht? Welche Folge kann und soll er sinnvollerweise berücksichtigen? Und welche sind zu spekulativ, um entscheidungsleitend zu werden? Will Trump ein guter Politiker sein? Oder will er ein Heiliger werden? Geht beides? Ja, wie das Beispiel des Thomas Morus zeigt. Für den Anfang würde es aber schon reichen, wären die Entscheidungen des US-Präsidenten rational nachvollziehbar, ganz ohne jeden Anspruch auf Heiligkeit.
Methodisch folgt Trump der Ethik des Heiligen – radikal, prinzipienorientiert, ohne Kompromisse. Inhaltlich verfehlt er – zumindest im christlichen Horizont – so ziemlich alles, was Heiligkeit ausmacht (sieht man von den richtigen Maßnahmen zur Verbesserung des Lebensschutzes ab, wobei sich jedoch angesichts anderer Maßnahmen vermuten lässt, dass ihre Begründung keine biophile ist – eine ganzheitliche Ethik des Lebens lässt nicht zu, dass Menschen regelmäßig abgewiesen werden, nicht an der Grenze, nicht beim Arzt).
Das Missverständnis liegt wohl darin, dass sich die Radikalität und Prinzipientreue beim Heiligen an die eigene Adresse richtet, nicht jedoch Anderen etwas abverlangt wird, was für sie eine Härte darstellt (genau diese Ausrichtung auf Andere im negativen Modus scheint das radikale Prinzip der Ethik Trumps zu sein). Und zur Ethik des Politikers reicht es bei Trump schließlich auch nicht, weil und soweit nicht zu erkennen ist, dass den getroffenen Maßnahmen ein vernünftiger Abwägungsprozess mit dem Ziel größtmöglicher Verantwortungsübernahme zugrunde liegt.
Pauschale Einreiseverbote für Menschen aus bestimmten Ländern, eine Mauer zum Schutz des Eigenen, die Andere bezahlen sollen, die Wiedereinführung der Folter, aller berechtigten Kritik, nicht nur moralischer, sondern vor allem auch juristischer Provenienz zum Trotz – all das lässt Zweifel aufkommen, ob es jenseits von Macht und Stärke, jenseits des Great America, von dem Trump träumt, überhaupt eine ethische Leitlinie für diese Maßnahmen gibt. Für einen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika ist das entschieden zu wenig.