Töten, um zu sparen

12. Oktober 2017


Dass die utilitaristische Ethik letztlich eine ökonomistische ist, die den Nutzen quantifiziert und in Geldeinheiten ausdrückt, um danach zu bestimmen, was moralisch geboten ist und was nicht, diesen Verdacht konnte man schon länger haben. Denn in einer Welt des Marktes, auf dem rationale Individuen ihre Partikularinteressen aushandeln, muss, was einen Nutzen haben will, zugleich einen objektivierbaren Wert haben, also: bewertbar sein. Bewerten wiederum heißt vergleichen. Und den Wert eines zweiwöchigen Badeurlaubs kann man nur dann mit dem Wert einer Schrankwand vergleichen, wenn man in der Lage ist, beides mit dem gleichen Maß zu messen. Und das Maß aller Dinge ist das Geld.

Erfrischend deutlich wird man in diesem Zusammenhang nun in den Niederlanden. Da ist zunächst der Bioethiker Marcel Zuijderland. In einem Beitrag für das NRC Handelsblad vom 6. September 2017 träumt er von einem Trisomie 21-freien Holland nach isländischem Vorbild, Titel des Textes: „Beter af zonder Down“ (etwa: „Besser dran ohne Down“). Es geht um die Vorzüge des Pränataltests auf Trisomie 21, der seit April des Jahres in den Niederlanden eingesetzt wird.

Zuijderland geht ethisch – wie etwa auch Peter Singer – von der Unterscheidung zwischen Mensch und Person bzw. Fötus und Mensch aus, mit Auswirkungen auf das Lebensrecht: Das käme grundsätzlich nur dem Menschen nach seiner Geburt uneingeschränkt zu, denn nur dieser zähle zu den „wezens die voelend, denkend en handelend bij de wereld betrokken zijn“ („Wesen, die fühlend, denkend und handelnd in die Welt verwickelt sind“).

Also: Abtreibung ist generell schon moralisch kein (großes) Problem, dann noch die Indikation „Behinderung“, die schon intuitiv nach Nichtexistenz schreie („Een aantal sterke morele intuïties pleit voor het voorkomen van de geboorte van kinderen met Down. Bijvoorbeeld wanneer een vrouw binnen een ivf-traject keuze zou hebben tussen twee embryo’s waarvan één het syndroom heeft, zal iedereen vinden dat ze het andere moet kiezen.“ – „Einige starke moralische Intuitionen sprechen dafür, die Geburt von Kindern mit Down zu vermeiden. Wenn beispielsweise eine Frau im Rahmen einer künstlichen Befruchtung zwischen zwei Embryos entscheiden kann, von denen einer das Syndrom hat, dann wird jeder meinen, sie sollte das andere wählen.“) – das müsste also insgesamt für eine allgemeine Tendenz zum Abtreibungsgebot im Falle der Down-Diagnose reichen.

Schier zur Verzweiflung bringen den Philosophen aber diejenigen, die trotz der allgemeinen (kein richtiger Mensch) und besonderen (kein gesunder Mensch) Wertlosigkeit des behinderten Kindes vor dessen Geburt einfach nicht rechtzeitig den Notaus-Knopf drücken wollen, um „hun kind zo’n bestaan te besparen“ („ihrem Kind die Existenz zu ersparen“). Solche verantwortungslosen Egomanen erkennen einfach nicht, dass mit der vorgeburtlichen Tötung „wordt een foetus uiteindelijk minder onrecht aangedaan, dan het toekomstige kind met een bestaan“ („wird einem Fötus schlussendlich weniger Unrecht angetan als dem künftigen Kind, wenn man es leben lässt“).

Der Niet Invasieve Prenatale Test (NIPT), mit dem man die Gefahr rechtzeitig erkennen und bannen kann, müsse daher für alle Frauen kostenfrei zugänglich sein. Dabei ginge es ihm, Zuijderland, gar nicht um das „uitroeien“ („Ausradieren“) der Seu… des Syndroms, sondern nur um Chancengleichheit. Es wäre schlechterdings nicht fair, die Armen mit ihrer natürlichen Chance auf behinderte Kinder alleinzulassen. Und die gäbe es schließlich, wenn man es nicht NIPT-Ergebnissen, sondern dem Zufall überließe, wie das Kind später mal gesundheitlich so drauf sein wird.

Dennoch scheint Zuijderland die Meinung zu vertreten, solche verantwortungslosen Eltern, die trotz Indikation immer noch nicht abtreiben lassen wollen, schadeten nicht nur ihrem Kind, indem sie die Frechheit besitzen, es nicht rechtzeitig zu töten (hinterher, also: nach der Geburt, geht es ja nicht mehr, wie auch der Philosoph einräumt und sich damit implizit vom Kollegen Peter Singer abgrenzt), sondern auch der niederländischen Volksgesundheit. Schließlich vergleicht Zuijderland die Lage in Island mit der in den Niederlanden, und man kann sich des Eindrucks nicht ganz erwehren, dass er den Inselstaat im Atlantik für vorbildlich hält – zugleich die holländischen Gesundheitsbehörden anklagend, mit ihrer zögerlichen Kostenübernahmepolitik den isländischen Verhältnissen im Weg zu stehen.

Dabei könnte das Gesundheitssystem (und damit der Geldbeutel des Steuer- und Abgabenzahlers) erheblich entlastet werden. Folgt man nämlich der Statistik, liegen Menschen mit „Verstandelijke handicap, incl. syndroom van Down“ („Geistiger Behinderung, einschließlich Down-Syndrom“) auf Platz 1 der Kostenverursacherliste im holländischen Gesundheitswesen (Stand: 2011). Und das, obgleich sie eigentlich nichts von ihrem Leben haben, wie die Zuijderlands dieser Welt kontrafaktisch suggerieren.

Hier schließt sich nun der Kreis, Utilitarismus wird zum Ökonomismus: Nicht nur der Nutzen des Daseins für den Einzelnen wird in Abrede gestellt, sondern es werden auch die Kosten angeführt, die für die Allgemeinheit anfallen, wenn man Behinderte leben lässt. Insgesamt ergibt sich so eine „ethische plicht tot abortus bij ernstig gebrek foetus“ („moralische Pflicht zur Abtreibung bei schwerbehindertem Fötus“), wie sie eben jener Marcel Zuijderland bereits vor fünf Jahren erkannte.

Es ist dann wohl nötig, nicht nur die Hemmschwelle für Abtreibungen zu senken, dadurch dass bei dem als „betrouwbaarder“ („zuverlässiger“) geltenden Test im Frühstadium die Frau nicht mehr mit einem gewissensbelastenden Ultraschallbild einer sich schon deutlich zum Baby entwickelnden Leibesfrucht konfrontiert wird, sondern auch den Druck auf Eltern behinderter Kinder (oder Eltern, die ein Kind auch dann bekommen wollen, wenn es behindert ist) zu erhöhen.

Das soll nun wiederum nicht nur moralisch und sozial geschehen („Een expliciete keuze voor het gehandicapte kind zouden we daarom verwerpelijk en absurd vinden.“ – „Eine ausdrückliche Entscheidung für das behinderte Kind sollten wir darum verwerflich und absurd finden.“, Zuijderland 2012), oder dadurch, dass man die Entscheidung für das Leben rechtlich schon mal versuchsweise sanktioniert („Zodra het kind geboren zal worden in een onomkeerbare conditie die hem bij voorbaat zijn rechten ontneemt, kun je de zwangerschap met terugwerkende kracht bestempelen als onrechtmatig. Abortus is dan een legitieme ingreep om dat onrecht ongedaan te maken.“ – „Sobald das Kind in einem irreversiblen Zustand geboren wurde, in dem es von Beginn an seiner Rechte beraubt ist, kann man die Schwangerschaft rückwirkend als unrechtmäßig ansehen. Abtreibung ist dann ein legitimes Verfahren, um dieses Unrecht ungeschehen zu machen.“, Zuijderland 2012; Nicht-Abtreibung wäre in dieser Logik so etwas wie „Unterlassene Hilfeleistung“, § 323c StGB, oder „Beihilfe“, § 27 StGB ), sondern auch, indem eine Entscheidung für das Kind spürbare finanzielle Folgen hat. Die kostenlose oder zumindest preisgünstige Abgabe teurer Tests an alle, die Zuijderland in seiner aktuellen Stellungnahme fordert, lässt sich prima mit Kürzungen im Bereich der Gesundheitsfürsorge (dennoch) geborener Behinderter gegenfinanzieren. Motto: Diejenigen, welche es immer noch nicht kapiert haben, können wir schlecht zwangssterilisieren, aber eben zur Kasse bitten. Das können wir.

Ähnliches in Sachen Druck von allen Seiten gilt wohl für Angehörige von alten Menschen mit Demenz (Platz 2 der Kostenverursacherliste). Dafür gibt es ja bereits etwas: die Sterbehilfe, die mit ganz ähnlicher Argumentation zur Anwendung kommen soll – das Leben sei nicht (mehr) lebenswert, es sei unvereinbar mit dem ethischen Ideal des „goede leven“, des „guten Lebens“, gedeutet als positives Resultat eines utilitaristischen Kalküls, bei dem „Lebensqualität“ sehr eng ausgelegt wird (im Wesentlichen läuft die Rechnung auf eine Maximierung von Autonomie hinaus – der die erhöhte Hilfsbedürftigkeit des behinderten Menschen entgegensteht). Dass dieses so unnütze Leben auch noch teuer ist, kommt erschwerend hinzu. In Leserbriefen, die holländische Zeitungen veröffentlichen, wird es kühl und deutlich ausgesprochen: Die Entscheidung für eine Abtreibung im Falle einer Down-Diagnose sei gar keine Entscheidung mehr, die die Einzelne allein zu treffen habe, sondern eine zwingende Konsequenz aus der Tatsache, dass das Kind, wenn es denn einmal leben werde, der Gemeinschaft Kosten verursache, denen kein ökonomischer Nutzen gegenüberstehe.

Wenn das keine Kulisse ist, vor der sich gehörig Druck aufbauen lässt, auf alle, die sich den Kostensenkungsplänen widersetzen, als Betroffene oder auch als Angehörige der Lebensschutzbewegung! Auf alle, die sich mehr um den Menschen als um das Geld sorgen. Robert Spaemann meinte einmal, mit jedem Recht, das einem Mensch eingeräumt werde, korrespondiere die Pflicht zur Rechtfertigung, wenn er dieses nicht in Anspruch nehmen will, obwohl alle Voraussetzungen vorliegen. Wie sehr er damit Recht hat, zeigt der Blick in die Niederlande. Dort gilt das Prinzip der Rechtfertigungspflicht für Lebensbeginn und Lebensende, für Entscheidungen gegen das, was geboten ist: Abtreibung und Sterbehilfe.

Am Ende der Recherche im Sumpf der lebensfeindlichen Nutzenkalkulierer und Glücksmaximierer kommt mir eine Szene des Films La vita è bella („Das Leben ist schön“, 1997) in den Sinn. Beim festlichen Mahl schwärmt eine italienische Dorfschullehrerin, offenkundig eine glühende Faschistin, von den Deutschen. Dort lasse man Kinder in der Grundschule komplizierte Textaufgaben rechnen, die sich mit den Kosten für Behinderte befassten. Den eigentlichen Skandal sieht die Lehrerin darin, dass deutsche Kinder so etwas schon berechnen könnten, die italienischen, die sie unterrichte, hingegen nicht („Das ist wirklich eine andere Rasse!“). Die Aktion T4, die am Ende solcher Rechenspiele stand, wurde im Geheimen geplant und durchgeführt. Heute sind wir zivilisatorisch schon einen großen Schritt weiter. Wir können darüber reden. Ganz offen.

(Josef Bordat)