Was schert’s mich?!
20. Juli 2017
Der Kabarettist Gerhard Polt lässt ab und zu die Kunstfigur „Anni“ sprechen. Die Anni habe gesagt, so Polt – und dann kommt eine Stellungnahme zu den kleinen und großen Dingen des Lebens. So habe die Anni mal gesagt, was in China passiert, interessiere sie nicht, denn: „Ich war noch nicht in China und will da auch nicht hin“. Daran – zugegeben – musste ich zuerst denken als ich die Überschrift „Was scherts Dich?!“ las, mit der Philipp Greifenstein in der theologischen Online-Zeitschrift Die Eule Kritik der „konservativen Katholiken“ an der Ehe für alle deligitimieren will. Tenor: Haltet Euch mal schön raus! Es ändert sich schließlich nichts an der Sakramentalität des katholischen Eheverständnisses!
Richtig – und trotzdem ist das Argument grundfalsch. Dieses Argument, nur derjenige sei zur Stellungnahme in einer ethischen Frage befugt, der persönlich betroffen ist, kommt dabei gar nicht so selten vor. Ich kenne es vor allem aus Debatten über Abtreibung und Sterbehilfe. Was kümmert’s dich als Mann, wenn eine Frau abtreibt?! Was hast du mit dem sterbewilligen alten Mann zu tun, du bist schließlich noch jung?! So wichtig eine empathische Perspektivenübernahme ist, so wenig taugt Betroffenheit als Kriterium für die Bewertung von Debattenbeiträgen. Im Gegenteil: Betroffenheit (und damit Interesse) kann sogar den Blick für das, was moralisch geboten ist, arg trüben.
Im übrigen ist man gemeinhin sehr selten persönlich von dem betroffen, was einem Kopfzerbrechen bereitet. Ich befasse mich seit Jahren mit ethischen Debatten um Lebensrecht, Folter, Krieg, Terror, Wirtschaft und Arbeit, Großtechnologien und Klimawandel. Das allerwenigste davon betrifft mich persönlich. Das alles könnte mir also egal sein, solange nicht in Berlin die Folter für (ehemalige) Schwarzfahrer eingeführt wird. Ich lebe, was gehen mich Abtreibungen an?! Was ägyptische Islamisten, solange sie nur auf Kopten Jagd machen und nicht auf Katholiken?! Was interessiert mich der Klimawandel, wenn er sich erst in 50 Jahren spürbar auswirken wird?!
Um das ethische Nachdenken über Dinge, die einen eigentlich nichts angehen, zu motivieren, ist es hilfreich, beim Moralphilosophen Immanuel Kant nachzulesen, wie er das geschafft hat. Folgt man einschlägigen Biographien, war Kant persönlich äußerst desinteressiert an anderen Menschen, solange diese ihn nicht störten. Dennoch hat er sich tiefe Gedanken gemacht, wie das Zusammenleben der Menschen gelingen kann. Es gebe so etwas wie ein Menschsein, meinte Kant, das sich vom Menschen, so, wie er vor mir steht, unterscheide. Dieses Menschsein ginge uns grundsätzlich und immer etwas an, auch, wenn wir von bestimmten moralischen Fragen gar nicht betroffen sind oder gar sein können.
Der Selbstmord eines usbekischen Bauern, den ich nie kennengelernt habe, verletzt insoweit auch das Menschsein allgemein und damit auch das Menschsein in mir. Und geht mich von daher etwas an. Ebenso ein Gesetz, das ab morgen das Erdrosseln von Belgierinnen straffrei stellte – auch dann, wenn ich gar keine Belgierin bin. Auch der Hinweis, dass dieses neue Gesetz keine Pflichten auferlegt (niemand muss Belgierinnen erdrosseln), sondern lediglich zusätzliche Rechte gewährt (als eine Norm, die Handlungsspielräume erweitert) greift mithin zu kurz. „Es nimmt Dir ja niemand etwas weg!“ Doch – ein Stück integers Menschsein. Ich möchte als deutscher Mann nicht, dass die Person, die eine belgische Frau erdrosselt, straffrei bleibt. Ich fühlte mich dann unwohl. Auch, wenn es mich streng genommen nichts angeht.
Kommen wir von methodischen zu inhaltlichen Aspekten. Also: Inwieweit ist nun ein verheirateter Katholik von der „Ehe für alle“ in seinem Menschsein tatsächlich verletzt? Auf begriffliche und systematische Fragen gehe ich hier mal nicht ein, da diese zu meinem Katholischsein oder Vernünftigsein gehören, also nicht zwingend mit dem Menschsein verbunden sind. Was aber damit verbunden ist, sind die Weiterungen der „Ehe für alle“. Diese lassen sich unter dem Schlagwort „Recht auf Kinder“ zusammenfassen. Es droht damit die Gefahr, Kinder zu instrumentalisieren und ihr Wohl zu riskieren, weil und insoweit ihnen das Recht auf ein Wissen um die eigene Herkunft (Artikel 8 der Convention on the Rights of the Child von 1989) und damit das Bewusstsein von Identität genommen wird. Oder, eine Etage tiefer: Ein Kind braucht Vater und Mutter, die es idealerweise auch kennenlernen darf. Das war 20.000 Jahre der Fall. Seit drei Wochen nicht mehr?
Eine weitere quasi-logische Folge der „Ehe für alle“ i. V. m. dem „Recht auf Kinder“ ist die Leihmutterschaft. Entsprechende Vorstöße zur Lockerung des Verbots (in Deutschland) kamen wenige Tage nach dem Bundestagsbeschluss. Ab wann, lieber Philipp Greifenstein, sagen Sie: „Jetzt schert’s mich doch!“
Sie ziehen die Befürchtung, die „Ehe für alle“ böte Raum für weitere Konstellationen (nicht nur sprachlich, sondern auch sachlich), ins Lächerliche. Ich darf Sie daran erinnern, dass die Forderung, polyamore Beziehungen eheähnlich zu behandeln und zu fördern, nicht der Phantasie konservativer katholischer Blogger erwachsen, sondern seit 2010 Bestandteil des Parteiprogramms der „Piraten“ ist. Es sei Zeit, die rechtliche Basis für eine Ehe von mehr als zwei Partnern zu verbessern, so die Partei.
Gut, die spielt keine Rolle mehr. Richtig. Was aber eine Rolle spielt, ist „Wikipedia“. Im äußerst umfangreichen Wikipedia-Artikel „Polyamory“ (mit über 100.000 Zeichen mehr als doppelt so lang wie der Eintrag zu „Christentum“) wird diese Lebensform zunächst in den höchsten Tönen gelobt, um schließlich nur ein einziges wirklich ernsthaftes Hindernis auf dem Weg zur befreiten Gesellschaft zu nennen: „Religion“. Und die ist schließlich Privatsache. Nota bene: Ich wurde schon von der website „Polygamie ist gut für Sie“ affirmativ zitiert.
Ist es also immer noch völlig abwegig, nicht ausschließen zu wollen, dass die erfolgte Öffnung des Ehebegriffs für gleichgeschlechtliche Verbindungen nicht irgendwann auch die gesellschaftliche Forderung nach einer Öffnung des Ehebegriffs für Verbindungen „von mehr als zwei Menschen“ motivieren könnte? Und darf ich mich dann in meinem und im allgemeinen Menschsein adressiert fühlen? Oder schreiben Sie in drei, vier Jahren, wenn es soweit ist, wieder: „Was scherts Dich?!“