David Ricardo. Eine erste Orientierung zu Leben und Werk

19. Februar 2013


Editorischer Hinweis: Dieser Artikel erschien 2007 auf philosophieren.de, einer inzwischen eingestellten Seite mit einführenden Texten zur Philosophiegeschichte und einem Philosophenlexikon.

David Ricardo wurde am 19. April 1772 als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie in London geboren. Sein Vater war Bankier und galt als einer der reichsten Männer Europas. Die Familie Ricardo war ursprünglich portugiesisch – um 1490 erfolgte die Vertreibung der Juden von der iberischen Halbinsel. Ricardo erhielt eine kaufmännische Ausbildung und trat bereits mit 14 Jahren als Börsenmakler ins Erwerbsleben ein. Mit der Zeit wuchs der Gegensatz zwischen dem konservativ gesinnten Vater und dem liberalen und fortschrittlichen Sohn. Die endgültige Trennung von Vater und Sohn erfolgte 1793, als der Sohn zum Christentum übertritt und eine Engländerin christlichen Glaubens heiratet. Der Vater enterbt ihn und damit ist Ricardo mit 21 Jahren mittellos. Einige Freunde gewähren ihm jedoch Darlehen. Mit diesen erwirbt sich Ricardo innerhalb weniger Jahre durch geschickte Börsenoperation ein großes Vermögen (man nimmt an, dass er mit 25 Jahren reicher war als sein Vater), welches es ihm erlaubte sich frühzeitig aus dem Geschäftsleben zurückzuziehen und sich der Wissenschaft zuzuwenden, zunächst den Naturwissenschaften (Mathematik, Physik, Mineralogie) und schließlich, nachdem er 1799 mit Smith‘ Hauptwerk Wealth of Nations bekannt geworden war, den Fragen der ökonomischen Theorie. Während der folgenden 10 Jahre hat Ricardo nur gelesen und kritische Aufzeichnungen gemacht. Erst 1809 trat er mit einer aufsehenerregenden Schrift an die Öffentlichkeit: The high price of bullion, a proof of the depreciation of bank notes. Ricardo vertritt darin eine Geldtheorie, die man heute als monetaristisch bezeichnen würde: Mehr Banknoten führen zu höheren Preisen; das Volumen der wirtschaftlichen Aktivität ist gegeben.

1809 wird Ricardo zum Parlamentsabgeordneten gewählt. Er nimmt im Parlament starken Einfluss auf wirtschaftliche Sachfragen, etwa der Zollpolitik. So hat er das Terrain bereitet für die Abschaffung der Getreidezölle im Jahre 1846.

1815 folgt eine weitere grundlegende Schrift: An Essay on the Influence of a Low Price of Corn on the Profits of Stock, in der er sein Kornmodell der Verteilungstheorie darlegt. Zwei Jahre später schließlich veröffentlicht Ricardo sein Hauptwerk: On the Principles of Political Economy and Taxation. Dieses Werk macht Ricardo zum Mitbegründer der klassischen Nationalökonomie. Neben der Wert- und Preistheorie werden v.a. Fragen der Verteilung und des Außenhandels in klarer Art und Weise dargestellt. Die Principles sind aus einer Kritik der Wealth of Nations entstanden. Er selber hatte sich nicht zugetraut, ein Buch zu schreiben, dass seine eigene Theorie zum Inhalt hat. James Mill, John Stuart Mills Vater, hat ihn dazu angehalten, indem er ihm Fragen zu ökonomischen Themen aufgab und die Antworten sprachlich überarbeitete. Daraus sind die 31 Kapitel der Principles entstanden, dass also weniger als geschlossene Theorie konzipiert wurde, sondern vielmehr eine Sammlung von Essays darstellt.

Ohne genauer auf die anderen Aspekte der Weiterentwicklung smith’scher Ideen einzugehen, möchte ich die Außenhandelstheorie Ricardos in den Mittelpunkt meiner kurzen Analyse stellen. Die Kernpunkte der anderen Aspekte seien dennoch kurz erwähnt: 1. die Theorie der Differenzialrente (ricardianische Rententheorie), also die Auffassung, dass die Rente „stets der Ertragsunterschied [ist], welcher sich aus der Anwendung zweier gleicher Mengen an Kapitel und Arbeit ergibt“(1) und dass sie von der „Differenz zwischen dem durch die Verwendung der verschiedenen Teile des Kapitals [auf gleichem oder neuem Boden] erzielt“(2) abhängig ist. 2. die Korntheorie des Profits, also der unterstellte Zusammenhang von Profiten und Löhnen, den De Quincey – in Kontrast zu der „alten überholten Lehre“ Adam Smith‘ – so beschreibt: „[…] er [Ricardo, J.B.] war es, der zuerst ermöglichte, Löhne aus der Rente abzuleiten – und daher Profite aus den Löhnen […], auf eine kurze Formel gebracht, könnte über die Profite gesagt werden – sie sind die Überbleibsel der Löhne“(3). 3. die Arbeitstheorie des Wertes, die gegen die smith’sche Lohntheorie des Wertes gerichtet war: Während Smith behauptet hatte, der Preis einer Ware sei im wesentlichen vom eingesetzten Lohn bestimmt, determiniert bei Ricardo die erforderliche Arbeit den Preis, unabhängig von ihrer Vergütung. De Quincey bringt den Unterschied auf den Punkt: „Aber prädeterminieren nicht im Gegenteil die Löhne […] den Preis? Nein, das ist die alte überholte Lehre. Denn die neue Ökonomie hat gezeigt, daß alle Preise durch die proportionale Menge der produzierenden Arbeit bestimmt sind, und nur dadurch […]“(4). Modifiziert wird dieser Ansatz aber „durch die Anwendung von Maschinen und anderen stehenden und dauerhaften Kapitalien“(5). An Ricardos Arbeitstheorie knüpft später Marx an. 4. die Theorie der technologischen Arbeitslosigkeit, die besagt, dass Arbeiter durch technischen Fortschritt freigesetzt und somit arbeitslos werden. Zentraler Grund für diesen Vorgang ist bei Ricardo die Tatsache, dass die Maschinen direkte Arbeit ersetzen. Die Maschinen müssen zwar auch produziert werden und erfordern indirekte Arbeit, jedoch ist in der Regel die Freisetzung von direkter Arbeit größer als der Mehreinsatz von indirekter. Die Beschäftigung geht deshalb zurück. Hier zeigt sich ein besonders tiefer Graben zu Smith, denn die neue Technik wird aufgrund einzelwirtschaftlicher Rationalität gewählt und nicht aufgrund von sozialer oder gesamtwirtschaftlicher Rationalität. Dies steht im Widerspruch zur liberalen Theorie Smith‘, in welcher der Markt – als die „unsichtbare Hand“ – die individuellen rationalen Handlungen so koordiniert, dass auch gesamtwirtschaftliche Rationalität zustande kommt.

Ricardos Außenhandelstheorie bietet eine „überzeugende theoretische Begründung für die Vorteilhaftigkeit des (internationalen) Handels“(6). Entscheidend ist dabei, dass Ricardo nicht nur dann Handel für sinnvoll hält, wenn ein Land ein Gut absolut günstiger herstellen kann als ein anderes Land, das wiederum ein anderes Gut absolut günstiger produziert, sondern auch, wenn ein Land beide Güter günstiger produzieren kann, die Kostenunterschiede aber ungleich sind, denn dann lohnt es sich für das Land, dasjenige Gut, bei dem der Kostenunterschied größer ist, zu importieren und sich zugleich auf Produktion und Export des Gutes zu konzentrieren, wo der Kostenunterschied kleiner ist. Wenn – so Ricardo – in Portugal 400 Arbeitsstunden für eine bestimmte Menge Tuch aufgewendet werden und 100 für eine bestimmte Menge Wein und in England nur 180 bzw. 90 Stunden, dann liegt England zwar bei beiden Waren günstiger, sollte sich aber auf die Tuchherstellung spezialisieren, weil hier die Marge größer ist als beim Wein, den die Portugiesen zu ihrem Hauptexportgut machen sollten.

Es entsteht so ein relativer Kostenvorteil, der in der Theorie der komparativen Kosten entscheidend für die Exportorientierung eines Landes ist. Zusammen mit John Stuart Mills Theorie der Bildung der Terms of Trade im Freihandelsgleichgewicht ist Ricardos Theorie der komparativen Kosten bis heute Grundlage der Handelstheorie und Hauptargument für den freien Welthandel. Forschungsgegenstand während des 20. Jahrhunderts war diesbezüglich v. a. die Frage, welche Ursachen es für das Auftreten absoluter und komparativer Kostenvorteile gibt. Diese Frage wurde zunächst durch das Heckscher-Ohlin-Theorem beantwortet, das die Spezialisierung des Landes auf ein Hauptexportgut mit dem Vorkommen des wesentlichen Produktionsfaktors in dem Land erklärt, wodurch Welthandel zum Ausgleich der Faktorpreise führt. Beschreibt das Heckscher-Ohlin-Theorem die Handelsdeterminanten eines Entwicklungslandes, so verlangt der Handel innerhalb der Industrienationen nach anderen Erklärungsansätzen für die Handelsströme wie „Produktdifferenzierung, Skalenerträge und technischer Fortschritt“(7).

Ricardos Außenhandelstheorie setzt dabei ein ausgeschöpftes Produktionspotential, nationale Flexibilität der Produktionsfaktoren und gleichzeitig internationale Immobilität von Kapital und Arbeit voraus. So ergibt sich dann eine bestimmte Verteilung der Goldmenge unter den handeltreibenden Ländern. Länder mit niedrigen absoluten Preisen realisieren Exportüberschüsse, die in Gold bezahlt werden. Länder mit einem Exportüberschuss erhalten also Gold, umgekehrt fließt Gold aus Defizitländern ab. In den Überschussländern steigen damit die Preise – dies unterstellt zumindest Ricardos monetaristischer Ansatz in der Geldtheorie -, Exportprodukte werden teurer, das Exportvolumen geht zurück, die Importe steigen, die Effekte zeigen sich in umgekehrter Wirkung bei den Defizitländer. Diese Prozesse dauern solange, bis die Außenhandelsbilanzen ausgeglichen sind, wobei sich diese Gleichgewichtskonstellation bei freiem Außenhandel automatisch über kurz oder lang einstellt. Die Theorie der Geldmengen- und Preisanpassung beim Außenhandel beruht auf der Annahme, dass das Beschäftigungsvolumen gegeben ist – in der Regel wird Vollbeschäftigung angenommen. Ungleichgewichte werden also über Preisanpassungen eliminiert, nicht über Überschuss- / Verknappungsstrategien, realisiert durch Produktionsanpassung.

Anmerkungen:

1. Ricardo (1972): Grundsätze der Politischen Ökonomie und der Besteuerung. Frankfurt a.M., S. 64 ff.
2. Ricardo (1972): S. 75.
3. De Quincey (1844): The Logic of Political Economy. Edinburgh / London, S. 203 f.
4. De Quincey (1844): S. 204 f.
5. Ricardo (1972): S. 48.
6. Kruber (2002): Theoriegeschichte der Marktwirtschaft. Münster, S. 19.
7. Neumann (1994): Neoklassik. In: Issing, O. (Hrsg.): Geschichte der Nationalökonomie. 3. Aufl., München, S. 263.

(Josef Bordat)

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