Würde und Selbstbestimmung (1). Die philosophische Perspektive

26. Mai 2015


Warum in der Sterbehilfedebatte zu Unrecht mit der Autonomie des Menschen argumentiert wird

In der Debatte um Sterbehilfe rückt sehr schnell ein Begriff in den Mittelpunkt: Selbstbestimmung. Auf diese habe der Mensch ein Recht – immer. Ist es nicht tatsächlich der höchste Ausdruck von Würde, in der Frage nach Leben und Tod selbst eine Entscheidung zu treffen? Wenn nicht da, wo sonst? Schauen wir, was aus Philosophie, Theologie und Kirchenlehre zur Beantwortung dieser Frage entnommen werden kann. Beginnen wir mit der philosophischen Perspektive.

Vertreter der Idee von Suizid und Sterbehilfe aus Selbstbestimmung berufen sich oft auf den Subjektivismus Immanuel Kants, auf sein Konzept der autonomen Selbstgesetzgebung, mit welcher der Mensch in seiner Freiheit beauftragt sei. Sie übersehen dabei, dass sich Kant gegen Selbsttötung ausgesprochen hat. Kant meinte nämlich: „Das Subjekt der Sittlichkeit in seiner eigenen Person vernichten, ist eben so viel, als die Sittlichkeit selbst ihrer Existenz nach, so viel an ihm ist, aus der Welt zu schaffen.“

Zunächst: Jede Selbstbestimmung hat Grenzen – denn Niemand lebt allein. Doch selbst dann, wenn der Mensch allein lebte, gäbe es Grenzen seiner Verfügungsmacht über sich und das in ihm wohnende Menschliche (Kant nennt es Sittlichkeit oder moralisches Gesetz). Es gibt also Pflichten gegen unser Menschsein als solches, die wir auch dann nicht verletzen dürfen, wenn sich alle Menschen, die eine Entscheidung äußerlich etwas angeht, einig sind.

Es handelt sich um Entscheidungen, die gegen das Wesen und die Würde des Menschen gerichtet sind. Hier ist der Autonomie des Menschen eine letzte Grenze gezogen: eben jene Würde, die heute gerade als Grund für ein schrankenloses Selbstbestimmungsrecht herhalten muss. Doch Würde umfasst mehr als das, was einen einzelnen Menschen angeht, mehr als seinen Körper und seine Seele. Es geht um die Würde, die in uns wohnt, uns zugleich aber übersteigt und uns letztlich entzogen ist. Auch die „schafft man aus der Welt“, wenn man sich das Leben nimmt oder nehmen lässt.

Selbsttötung und Sterbehilfe gehören also zu diesen gegen das Wesen und die Würde des Menschen gerichteten Entscheidungen. Es handelt sich um Taten gegen die „natürliche Lebenspflicht“ des Menschen (so Kant), um Handlungen, mit denen sich das empirische Subjekt (der einzelne Mensch) gegen die Transzendentalsubjektivität des Menschen erhebt, gegen die „Menschheit“ (nach Kant das „vernünftige Weltwesen“, das der Mensch als „Urbild seiner Handlungen in seiner Seele trägt“ und das in „moralischer Vollkommenheit“ geschaffen ist), also das über den einzelnen Vertreter der Menschheit hinausgehende Menschsein, die gedankliche Vorstellung davon, was den Menschen wesentlich ausmacht, was ihn zum Menschen macht, kurz: seine Sittlichkeit, seine Würde.

Selbsttötung und Sterbehilfe widersprechen also der Menschenwürde. Immer. Weil ich nicht nur meinen Körper zerstöre, der mir gehört, sondern etwas, das mir nicht gehört: die Würde. Wer das Subjekt vernichtet, „schafft auch das aus der Welt“, was es überhaupt erst zum Subjekt macht – und schadet damit dem Prinzip der Subjektivität. Es ist also ein Missbrauch von Selbstbestimmung, diese so weit zu fassen, dass auch die Vernichtung ihrer Voraussetzung, das Subjektsein des Menschen, darunter fällt. Soweit kommen wir mit Immanuel Kant.

(Josef Bordat)

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