Denken und Glauben

23. Mai 2008


Die Philosophin und Ordensfrau Edith Stein als Mystikerin des Sühneleids – und was das für ihre Beziehung zu Peter Wust bedeutet. Ein Beitrag zum Patronatsfest der Katholischen Studierendengemeinde Edith Stein Berlin am 31.5./1.6. 2008

Eine Streitfrage in der Forschung zu Edith Stein ist, ob man die zum Katholizismus konvertierte Jüdin zu Recht eine „Mystikerin“ nennen kann – ihrem Glaubensvorbild Teresa von Avila entsprechend – und woran dies festzustellen ist. Das Urteil steht und fällt freilich mit den jeweiligen Ansprüchen an einen Mystiker respektive eine Mystikerin. Ich für meinen Teil vertrete einen sehr weiten Mystikbegriff, unter den auch ihre Spiritualität des Sühneleids, insbesondere angesichts der Gelassenheit, die die Karmeliterin gerade in den letzten Tagen ihres Lebens offenbarte, zweifelsohne einzuordnen ist.

Schon Ihre „Kreuzeswissenschaft“[1] kann ohne die Annahme einer tiefen, inneren Berührtheit von Gott kaum verstanden werden. Erwägt man dazu Edith Steins spirituelles Grundmotiv, das positiv gewendete Leid, gedacht als „stellvertretendes Leid“, „gelebte Sühne“, „Mitwirkung am Erlösungswerk“, und fernerhin die Erfüllung dieses karmelitischen Glaubensweges im persönlichen Leid, das sie als praktische Chance begriff, die tiefen Erfahrungen umsetzen zu können, so geht dies nur dann auf, wenn man dazu eine innige Verbindung mit Christus bedenkt, die über das normale Maß an Religiosität hinausgeht. Edith Steins Wort zu ihrer Schwester Rosa in der Stunde ihrer Verhaftung – „Komm, wir gehen für unser Volk!“ – ist somit kein pathetischer Heroismus, sondern die logische Konsequenz des Denkens und Glaubens einer Frau, die sich auch im Akt der „Stellvertretung“ ganz in die Nachfolge Christi begibt: So wie Christus den Weg nach Golgatha geht „für sein Volk“, so geht Edith Stein nach Auschwitz „für ihr Volk“, um durch stellvertretendes Leiden Anteil am Erlösungswerk zu erhalten.

Die Leid-Sühne-Rhetorik Edith Steins kann man vor diesem Hintergrund entweder masochistisch nennen – oder mystisch. Eine Masochistin wäre Edith Stein, wenn sie das Leid suchte wie die mittelalterlichen Asketen den Schmerz der körperlichen Abtötungspraxis. Das tut sie aber nicht. Sie lehnt die Instrumentalisierung, die Verzweckung des Leidens ab.[2] Denn das Leid hat keinen Zweck, gleichwohl aber einen Sinn. Diese Erkenntnis, die ihren zweiten Lebensabschnitt und insbesondere ihre Ermordung überstrahlt, ist für die Vernunft der Philosophin unzugänglichen. Sie wird ihr erst in der Spiritualität der Ordensfrau offenbar. Ihre letzten aufgezeichneten Worten waren: „Es geht nach dem Osten.“[3] Es ist dies nicht nur eine geographische Angabe. Der Osten als Ort der Sonne eines neuen Morgens gibt auch eine Ahnung von der tiefen, unerschütterlichen Heilshoffnung, die in Gott selbst verankert ist.

„Wenn Edith Stein von einer solchen Sicherheit mitten in der Absurdität ihres nahenden Endes getragen ist, so weist dies den Resonanzboden bestimmter Erfahrung auf.“[4] Man darf, denke ich, ruhig deutlicher werden. Wenn man bedenkt, dass ihr Glaube an die Erlösung so stark ist, dass sie durch das Kreuz hindurch nur die Auferstehung Christi im Blick hat und im persönlichen Leid das persönliche Heil schaut, dass die Rede von der „gelebten Sühne“ nicht zur Lebensaufgabe, sondern zur Lebenssteigerung geführt hat – davon geben ihre Schriften bis zuletzt kraftvoll Zeugnis –, dann kommt man nicht umhin, diese Erfahrung „mystisch“ zu nennen.

Wenn es noch eines Beweises bedarf, dass Edith Stein bis zuletzt aus der subjektiven Gewissheit mystischer Erfahrung lebte, dann mag dazu jene Notiz dienen, die in einem kleinen Brief vom 6. August 1942 stand, den sie aus dem Durchgangslager nach Echt sandte, um für ihre Schwester und sich einige Gebrauchsgegenstände zu erbitten. Sie lautet: „Konnte bisher herrlich beten.“ Wer in dieser grauenhaften, gottfernen Umgebung solche Sätze zu Papier bringt, ist erfüllt vom Heiligen Geist und greift auf Erfahrungen zurück, die unmittelbar die eigene Finsternis zu erhellen vermögen. Und ein solcher Mensch ist dann auch noch in der Lage, das Licht des Herrn weiterzugeben. Ein Augenzeuge berichtet: „Unter den Gefangenen fiel Schwester Benedicta auf durch ihre große Ruhe und Gelassenheit. Der Jammer und die Aufregung waren unbeschreiblich. Schwester Benedicta ging unter den Frauen umher, tröstend, helfend, beruhigend wie ein Engel.“[5]

Diesen Trost konnte sie zuvor schon Peter Wust spenden, dessen Kehlkopfkrebs sie als eine „außerordentliche Gnade“[6] bezeichnete, weil sie dem Leid des geschätzten Kollegen, den sie in ihrer Münsteraner Zeit (1932/33) kennen gelernt hatte, „sühnende Kraft“ beimaß. Nach Edith Stein gilt, dass nur aus der Vereinigung mit Gott menschliches Leiden sühnende Kraft bekommt, dass Sühneleid nur bei Menschen möglich ist, in denen der Geist Christi lebt, von dem sie ihr Leben empfangen und der sie orientiert. Unter diesen Bedingungen konnte sie das Sühneleid in der Tat bei kaum jemandem eher vermuten als bei Wust, der immer wieder die Abhängigkeit seines Denkens von seinem Glauben betont hat, der die Reflexion des homo philosophicus in letzter Konsequenz der Devotion des homo religiosus unterordnete.

Das verbindet schließlich Edith Stein mit Peter Wust: Die beiden tief gläubigen katholischen Philosophierenden standen zwischen der Erkenntnis des glaubend Denkenden und dem Bekenntnis des denkend Glaubenden. Und taten den Sprung von der Ungewissheit menschlicher Erkenntnis ins Wagnis der göttlichen Weisheit. Beide auf ihre je eigene Art, Peter Wust in seiner Arbeit als Professor und Autor, Edith Stein als Ordensfrau und Mystikerin, als Teresia Benedicta a Cruce – Teresia vom Kreuz gesegnet.

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Anmerkungen:

[1] Edith Stein (1942): Kreuzeswissenschaft. Studie über Joannes a Cruce. In: Edith Stein Gesamtausgabe, Bd. 18, Freiburg i. Br. 2003.

[2] Einige Bemerkungen dazu finden sich bei Beate Beckmann-Zöller: Zugänge zum Leib-Seele-Problem bei Edith Stein im Hinblick auf das Ereignis des religiösen Erlebnisses, in: Catrin Nielsen, Michael Steinmann, Frank Töpfer (Hg.): Das Leib-Seele-Problem und die Phänomenologie. Würzburg 2007, S. 155-170. Beckmann-Zöller zeigt, wie sich bei Edith Stein Leib und Seele in einer „Lebenskraft“ verbinden, die durch Erlebnisse gestärkt oder gemindert wird. Zentral ist in ihrer Vorstellung das religiöse Erlebnis, zu dem es neben den seelischen auch leibliche Zugänge gibt. Hinsichtlich der Seele erinnert ihre Darstellung an die mystische Rede von der Einheit mit Gott oder Gottesgeburt in der Seele bzw. dem „Seelengrund“ (Meister Eckhart; Edith Stein spricht ganz ähnlich von der „Tiefe der Seele“ oder dem „Innersten der Seele“), bezüglich des Leibes sieht sie zwar in der Askese eine Ausdrucksform körperlich wirkender Gotteserfahrung, doch die Realisierung der „leiblich-sakramentalen Dimension“ des Glaubens sei nur dann sinnvoll, wenn sich über sie ein neuer Zugang zum Geistigen entfalte, aus dem der Seele „Kraft-Erneuerung und Gnadenwirkung“ begegnen kann. Askese werde zu oft als bloßer Befreiungsakt der Seele vom Leib-Gefängnis missverstanden und nur im negativen Modus der „Abtötung des Körpers“ geübt. Beckmann-Zöller macht deutlich, dass Edith Stein damit wichtige „Anregungen sowohl für eine nicht leibvergessene Philosophie als auch Theologie“ (S. 169) gibt.

[3] Am späten Nachmittag des 7. August 1942 wird Edith Stein in Schifferstadt bei Speyer zum letzten mal von überlebenden Zeugen gesehen. Sie ließ Grüße an die Schwestern in St. Magdalena in Speyer bestellen. Bei dieser Gelegenheit fiel der bedeutungsvolle Satz, zitiert nach: Hirtenwort der deutschen Bischöfe zur Heiligsprechung von Edith Stein am 11.Oktober 1998.

[4] Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: Edith Stein (1891-1942), eine Mystikerin? Hervorhebung von mir.

[5] Zitiert nach: Hirtenwort der deutschen Bischöfe zur Heiligsprechung von Edith Stein am 11.Oktober 1998.

[6] In einem Brief an Peter Wust vom 28. August 1939; Wust erlag dem Krebs am 3. April 1940.

Weiterführende Literatur:

Alois Huning: Edith Stein und Peter Wust. Von der Philosophie zum Glaubenszeugnis. Münster 1969.

Peter Wust: Briefe an Edith Stein, in: Peter Wust. Briefe an Freunde, hrsg. von Wilhelm Vernekohl. München 1955, S. 93-99.

(Josef Bordat)

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