Göttliches und natürliches Recht

28. Januar 2012


Zur Entstehung einer philosophischen Idee aus dem religiösen Glauben

Dass Gottes Gebote und das natürliche Gerechtigkeitsempfinden im Spiegel des Gewissens zur Deckung gelangen, ist die wirkmächtige Naturrechtsidee Thomas von Aquins.

Die Natur des Menschen

Dass die menschliche Natur etwas mit der Moralität und dem Rechtsempfinden des Menschen zu tun hat, steht außer Frage. Was seit jeher umstritten ist und – soviel ist klar – auch weiterhin heftig umstritten sein wird, das ist die Frage, was wir denn meinen, wenn wir von der „Natur“ sprechen. Wenn Thomas von Aquin die natura humana anspricht, um den Hang des Menschen zum Guten zu erklären, meint er nicht das gewordene Genmaterial, sondern den seienden Geist Gottes, der das menschliche Gewissen formt, vor dessen Urteilskraft dem Menschen Tugenden und Laster als solche identifizierbar sind. Wenn die Aufklärer von „Vernunftnatur“ sprechen, erscheint ihnen dabei die menschliche Ratio als unbestechlicher „Gerichtshof“ (Kant), der in der Lage ist, Handlungen (eher: handlungsleitende Maxime und Normen) letztgültig als gut oder böse zu qualifizieren.

Die Rolle der Vernunft

Doch schon bei Thomas wird dies zusammengedacht, eingedenk des Umstands, dass er die Vernunft gerade mit dem Geist Gottes identifiziert und die rationale Erkenntnis der Gebote im Sinne einer teilhabenden und teilnehmenden Einsicht des Geschöpfes in den Plan des Schöpfers Prinzip seiner Vorstellungen zur Rechtsgenese ist. Dies gipfelt in der Aussage, dass Normen – also das verstetigte Recht – uns bloß daran erinnern, was uns als Abbildern Gottes ohnehin so tief eingestiftet ist, dass es einerseits von jedem gespürt werden kann und uns andererseits durch bloßen Vernunftgebrauch offenbar wird: die Moral. Thomas antizipiert damit bereits, was später für eine große emanzipatorische Leistung gehalten wird: das Zugeständnis an die Bedeutung der Vernunft als Regulativ der Religion. Die Vernunft verbindet also die Idee des Naturrechts bei Thomas und die des „Vernunftnaturrechts“ der Aufklärung, sie trennt sie nicht. Das Naturrecht – gleich welcher Provenienz – ist also weder ein rein religiöser, noch ein rein rechtswissenschaftlicher Gegenstand. Naturrecht ist Sache der Philosophie.

Göttliches Recht

Die vorphilosophische Etablierung von Recht und Gerechtigkeit ist mit dem Glauben an Götter verbunden, die eben jenes Recht als Akt der Offenbarung stifteten. Diese Vergöttlichung von Recht und Gerechtigkeit ist allen archaischen Kulturen gemein. Sowohl in Ägypten und Alt-Israel, als auch in den Hochkulturen Mesopotamiens und Griechenlands ergibt sich die vorstaatliche Ordnung, welche die Blüte der Kulturen erst möglich machte, aus göttlichen Vorgaben.

Der Gott des Alten Testaments schenkt dem Menschen Recht und Gerechtigkeit und bildet Rechtsquelle und Appellationsinstanz in einem, wie dies in Psalm 7, dem Klagelied Davids, deutlich wird: „Herr, steh auf in deinem Zorn, / erheb dich gegen meine wütenden Feinde! – Wach auf, du mein Gott! / Du hast zum Gericht gerufen. / Der Herr richtet die Völker.“ (Ps 7, 7) Gott erscheint gleichsam als Rechtsstifter und Rechtsprecher, im positiven Sinne der Belohnung – „Herr, weil ich gerecht bin, verschaff mir Recht, / und tu an mir Gutes, weil ich schuldlos bin!“ (Ps 7, 9) – und im negativen Sinn der Sanktion von Gebotsmissachtung: „Gott ist ein gerechter Richter, / ein Gott der täglich strafen kann.“ (Ps 7, 12). In der hebräischen Bibel kommt das Wort „Natur“ nicht vor; die Begriffe „Himmel“ und „Erde“ beschreiben das Verhältnis zwischen Gott und Menschen, das von göttlichen Geboten und dem Befolgen dieser Gebote bestimmt ist. Die Frage nach dem Ursprung von Moral und Recht, gleichsam nach den ersten Dingen, wird mit der rechtsetzenden Autorität selbst beantwortet, die sich wiederum aus sich selbst heraus rechtfertigt, als Singularität sui generis, als causa sui, als nicht weiter hinterfragbare Entität.

Dies wird in der Offenbarungsbotschaft Jahwes (JHWH) erkennbar: „Ich bin der Ich bin (da).“ (Ex 3, 14). Im Hebräischen geht das Tetragramm JHWH auf die Verben „HWH“ („sein, werden“) und „HJH“ („geschehen, veranlassen, da sein“) zurück. So kann „JHWH“ nicht nur mit „Ich bin“ oder „Ich bin da“ übersetzt werden, sondern auch mit „Ich werde (da) sein“. Der ganze Ausdruck könnte dann im Sinne der Verheißung des Landes, in dem „Milch und Honig fließen“ (Ex 3, 8) und in das Gott sein Volk führen will, gelesen werden als „Ich werde der sein, der da sein wird“, was auch mit der Zusage an Mose übereinstimmt, die der Selbstoffenbarung Gottes unmittelbar voraus geht: „Ich bin mit dir“ (Ex. 3, 12), was angesichts der Tatsache, dass die Aufgabe des Mose ja in der Zukunft liegt, nur als „Ich werde mit dir sein“ gelesen werden kann. Andere Übersetzungsmöglichkeiten in Ex 3, 14 sind „Ich bin der, der ins Dasein setzt“, was den Schöpfergott herausstellt oder „Ich werde mich (hilfreich) erweisen“, was dem Namen Gottes eine noch stärkere soteriologische Konnotation verleiht als die ontologische Zukunftsform „Ich werde (da) sein“.

In Griechenland zeugt die Theogonie des Hesiod aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. von einer göttlichen Rechtsgenese, wobei hier auffällt, dass die Göttin des Rechts und der Gerechtigkeit, Themis, als Tochter der Gaia („Erde“) und des Uranos („Himmel“) der Urgeneration angehört und damit älter ist als der „Götterkönig“ Zeus. Damit wird das göttliche Recht auch den olympischen Göttern vorangestellt, auch die Götter haben sich ihm infolgedessen zu unterwerfen. Es hat eine zeitlose, irreversible Gültigkeit, die auch Sophokles’ Antigone beansprucht, als sie sich über das (positiv-rechtliche) Gebot des Kreon hinwegsetzt und ihren Bruder Polyneikes bestattet: „Auch hielt ich nicht für so stark dein Gebot / Daß Menschenwerk vermöcht zu überholen / Das ungeschriebene, heilige Recht der Götter. / Denn nicht von heute oder gestern, ewig / Lebt dieses ja, und keiner weiß, seit wann.“

Natürliches Recht

Die „zeitlose, irreversible Gültigkeit“ göttlicher Gebote ist zugleich Ausgangspunkt und Kerngedanke einer philosophischen Theorie des natürlichen Rechts und der dem Menschen innewohnenden Moral. Diese Theorie steht grundlegenden Prinzipien des Miteinanders (etwa den Menschenrechten) im Rücken. Sie sind damit einem konventionalistischen Zugriff entzogen. Ihre Geltung ist damit unabhängig vom Willen der Mehrheit. Diesen Unterschied markiert die scharfe Trennung von Rechtsstaat und Demokratie bei Hannah Arendt. Recht ist nicht immer gleichzusetzen mit dem Ergebnis eines Mehrheitsbeschlusses, Recht hat manches Mal einen über- oder vorlegalen Charakter, der sich nur eingedenk der Naturrechtsidee verstehen und anerkennen lässt.

Thomas von Aquin meinte, der Mensch könne aus dem „Ewigen Gesetz“ Gottes das „Natürliche Gesetz“ erkennen (und zwar qua Vernunft), um daraus konkrete Schlüsse zu ziehen für Einzelvorschriften auf den unterschiedlichen Ebenen der, wie wir heute sagen würden, Individual-, Sozial- und Institutionenethik. Dabei wird das Gebot Gottes durch die Natur des Menschen in ein säkulares Rechtssystem überführt, dem alle – unabhängig von ihrer Religion – zustimmen können. Das Naturrecht bleibt aber Ausdruck des inneren menschlichen Gespürs für das Gute und Richtige, weil sich dessen Naturbegriff nicht in der Biologie des Menschen, etwa seinen Instinkten und Trieben, erschöpft, sondern den Menschen als vom Geist der Vernunft durchdrungene leiblich-seelische Einheit sieht, die im Gewissen eine Instanz kennt, vor der sich das göttlich-natürliche Recht nicht nur als richtig, sondern auch als wahr mitteilt – unabhängig davon, was die Mehrheit daraus erkannt hat und in das faktisch geltende Rechtssystem zu überführen in der Lage war. Nach den Erfahrungen von zwei Diktaturen auf deutschem Boden wissen wir, wie wichtig es sein kann, in diesem Sinne zwischen Recht und Gesetz zu unterscheiden – und sich im Zweifel auch illegal zu verhalten.

(Josef Bordat)

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