Das Drama des normalen Mannes

17. November 2015


Drei Männer in unterschiedlichem Alter, in unterschiedlicher sozialer Stellung, mit unterschiedlicher beruflicher Laufbahn. Drei Männer mit dem gleichen Problem: Identitätssuche im Spannungsfeld von Leistungsdruck, Vergangenheitsbewältigung und Schuld. Die finnische Autorin Beile Ratut erzählt uns von ihnen. Und ihrem Problem.

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Die gefühlvoll skizzierten Charakterlinien zeigen gebrochene Männer, die krampfhaft versuchen, ein arg ramponiertes Selbstbild aufrecht zu erhalten – und daran dramatisch scheitern. Voller Selbstzweifel und manchmal auch Verzweiflung spielen sie ihre Rolle, stehen ihren Mann. Dabei entfernen sie sich immer mehr von ihrer Umgebung, von sich selbst, von Gott. In der Erzählung Das Schandmal wird das wohl am deutlichsten illustriert: Sein eigenes Spiegelbild zeigt dem Protagonisten die Schwäche gestörter Beziehungen, die Unfähigkeit zu echter Selbstannahme und – zur Liebe.

Aber auch die beiden anderen Erzählungen Heilige Nacht und Flut führen uns an Abgründe falsch gedeuteter Männlichkeit heran, die immer wieder zeigen, wozu gestörte Beziehungen führen: zur Tradierung von Traumata, zur Gewöhnung an Grausamkeit, zur Perpetuierung der Perversion, zu schier ekelerregend irritationsloser Rechtfertigung des eigenen Lebensentwurfs. Doch die Zeichnung der Autorin bleibt nicht ohne Hoffnung: „Ja, es gab Errettung, Errettung aus dem schlimmsten Abgrund, Errettung auch aus dem grenzenlos Bösen.“ Doch aus tiefer Schuld gibt es einen Neuanfang nur in Liebe, nur aus Gnade. Nur mit Gott.

Dafür müssen Männer weiblich denken – und das fällt schwer, macht hilflos und lässt die Protagonisten geradezu aggressiv werden, ein Rückzug in die Männlichkeit: „Ich bin ein Mann wie viele andere auch. ich schweige, doch ich kann im Schweigen nicht leben. Mein Herz ist voller Entschlossenheit, doch ich kann es niemandem öffnen. Mein Körper ist voller Tatendrang, doch ich plage mich mit dem Falschen ab.“ Das Drama des normalen Mannes. Die Autorin nennt es „Verschleiern der Sinnlosigkeit“ und „närrische Verstocktheit“, in der Männer „die Gegenwart Gottes nicht wahrhaben wollen“.

Sie sind verhärtet, Beile Ratuts Männer, unfähig zu echter Liebe. Sie haben ebenso starke wie stille Frauen an ihrer Seite – oft ohne sie zu schätzen und wirklich zu lieben. Doch sie, die Ehefrauen und Mütter, bleiben – über den Tod hinaus. Ihre Söhne und Partner sind in tiefer Schuld verstrickt, gescheiterte Existenzen, emotional und materiell. Sie sind gut abgeschottet von dem, was sie erlösen könnte und zu dem sie folglich nur über einen langen schmerzlichen Umweg einer gebrochenen Biographie gelangen, einen Weg ohne Wahrheit, voller Täuschung und Lebenslügen, voll erlernter Unfähigkeit.

Am Ende stehen „Tyrannen aus Angst“, wie es die Autorin auf den Punkt bringt. Männer, sich unfehlbar wähnend, überlegen, unangreifbar, unantastbar, unnahbar. Ihre Geschichten sind erschütternd, entlarvend, bewegend, bestürzend. Der zweckrationale, kühl planende Mann wird an seine Grenze geführt. Auf der anderen Seite wartet jemand – in Liebe, in Barmherzigkeit. Gott sei Dank.

Die Autorin bedient sich einer blumigen, bildreichen Sprache, in der empathische Beschreibungen und kräftige Metaphern die Szenen vor den Augen des Lesers entwickeln. Sie versteht es, Stimmungen zu erzeugen und den Leser hineinzunehmen in die Welt ihrer Figuren, durch die sie die entscheidenden Fragen stellt. Immer wieder geht es dabei um die in Krise geratene Identität – im Falle der Protagonisten um die als Ehemann, als Vater. Männliche und weibliche Weltdeutung werden nicht gegeneinander ausgespielt, sondern zunächst einmal den Figuren als Formen der Selbstbestimmung zugestanden.

Die Erzählungen sind nicht immer leicht zugänglich, bleiben aber auch in ihrer hohen Abstraktion spannend.Traum und Realität, Aktualität und Rückblende, Wiederholungen – Stilmittel, die aus Erzählungen prosaische Dichtung werden lassen. Doch immer dann, wenn man den Eindruck gewinnt, die Autorin hebt allzu poetisch ab, wird zu philosophisch in den Fragen ihrer Figuren, kommt eine konkrete Wendung in deren Leben hinein, geht es weiter mit einem Ereignis, in dem das zuvor allegorisch Angedeutete äußerlich erkennbar wird: Verfall, Suche, Aufbruch, Rückzug, Flucht.

Welt unter Sechs bietet kein unbeschwertes Lesevergnügen, dafür ist der Stoff zu bedrückend, die Lebenswege der Figuren zu sehr belastet mit tiefer Schuld, mit durchgängigem Versagen. Doch zeigt Beile Ratut einen Ausweg, weist – noch im letzten Satz – über das Gestrüpp aus falschem Stolz, missverstandener Männlichkeit und stummer Gefühlsarmut hinaus. Das Scheitern bietet den Männern Chancen für ein Ausbrechen, für einen Neuanfang – ermöglicht durch verständnis- und liebevolle Frauen an ihrer Seite, durch die Sehnsucht nach Liebe, nach Gott. Es ist ein zutiefst spirituelles Buch, das die Letzten Fragen einwebt in emotional dichte Erzählungen. Lesenswert. Nicht nur für Männer.

Bibliographische Angaben:

Beile Ratut: Welt unter Sechs. Erzählungen.
Bad Soden: Ruhland Verlag 2015.
183 Seiten, € 18,80.
ISBN 978-3-88509-120-2.

(Josef Bordat)

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