Den Konstruktionsfehler der Vereinten Nationen beheben

26. Juni 2015


Die Weltgemeinschaft auf dem langen Weg vom Souveränitäts- zum Humanitätsparadigma internationaler Beziehungen

Heute vor 70 Jahren wurden die Vereinten Nationen gegründet. In ihrer Charta betont die Weltgemeinschaft das geteilte Ziel: „künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren“. Das ist leider nicht gelungen. Dennoch: Der Versuch, die Welt friedlicher zu machen, ist aller Ehre wert. Im Zentrum steht dabei der souveräne Staat – ein Paradigma des Völkerrechts seit der Westfälischen Ordnung von 1648. Drei Jahre nach der Gründung legt die Weltgemeinschaft mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte nach: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“

Erkennen Sie das Problem, die Spannung, die zwischen Charta (1945) und Allgemeiner Erklärung der Menschenrechte (1948) besteht? Entdecken Sie den Konstruktionsfehler? Menschenrechte sollen immer und überall gelten, zugleich sollen Staaten souverän sein und Nichteinmischung ein Grundprinzip internationaler Beziehungen. Man will ja die Gefahr des Krieges bannen (denn nichts anderes als Krieg bedeutet „Einmischung“, wenn es hart auf hart kommt). Innerhalb ihrer Grenzen können diese Staaten dann quasi machen, was sie wollen, Menschenrechtsverletzungen inklusive.

Ein gegenwartshistorisches Phänomen lässt den Konstruktionsfehler nur noch stärker hervortreten: Nach dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung (Mauerfall 1989, Ende der Sowjetunion 1991) hat sich der Begriff des Krieges gewandelt, von der gewaltsamen Auseinandersetzung souveräner Staaten hin zur Gewalt, die von nicht-staatlichen Gruppen bzw. gegen diese verübt wird. Eine besondere Rolle spielen dabei genozidale ethnische Konflikte wie etwa in Ruanda (1994). Es braucht heute keine offizielle Kriegserklärung mehr für Völkermord, Verfolgung und Vertreibung.

Ethnische Konflikte können dabei nur dort gewaltsam ausgetragen werden, wo der Staat nicht mehr als Ordnungsmacht präsent ist, weil er dies nicht mehr kann (failed state) oder will (rogue state). Es gibt keine Regelung in der Charta für Fälle dieser Art, geht diese doch – immer noch – von souveränen Staaten aus, die nicht nur willens, sondern auch in der Lage sind, selbstbestimmt die Staatsgeschäfte zu verrichten. Allerdings weisen die Resolutionen der Zeit nach 1989/91 darauf hin, dass der UN-Sicherheitsrat eine Bedrohung des Weltfriedens auch in Menschenrechtsverletzungen durch Staaten (besser: durch das Versagen von Staaten) erkennt und nicht nur in Kriegen zwischen zwei souveränen Staaten.

Dennoch bleibt die Spannung zwischen Souveränitätsgarantie und Menschenrechtsschutz bestehen. Sie soll – daran arbeiten die Vereinten Nationen seit über 20 Jahren – zugunsten einer Interventionspolitik aufgelöst werden, bei der die Geltung der Menschenrechte im Vordergrund steht. Tenor ist, dass ein Staat seinen Anspruch auf Nichteinmischung verliert, wenn er seiner Verantwortung für die Menschenrechte nicht nach kommt. Dann geht diese Verantwortung auf die Weltgemeinschaft über, als eine Schutzverantwortung, englisch: responsibility to protect. Souveränität muss im Sinne einer Achtung und eines Schutzes der Menschenrechte verwirklicht werden und soll vor allem kein Schutzschild sein, hinter dem sich ein Staat verstecken, hinter dem er unbehelligt Menschenrechte verletzen kann.

Interventionen in eindeutigen Fällen von gerechtfertigtem Eingriff, also bei ethnischen Säuberungen und Völkermord, brauchen eine entsprechend unzweideutige Rechtsgrundlage. Bei allen skeptischen Vorbehalten gegen einen „Weltstaat“, eine „Weltregierung“ und eine „Weltpolizei“ denke ich an eine verbindliche Pflicht der Weltgemeinschaft, über den Sicherheitsrat klare Kriterien für Gründe, Verlauf, Ziel und Nachbereitung einer Intervention zu erarbeiten und in geeignete Rechtsform zu bringen, die auch zu Verfahrensfragen Regelungen trifft, damit die Graubereiche klarere Konturen bekommen und Unilateralismen wie die Nationale Sicherheitsstrategie der USA (2002) obsolet werden. Hier ist der Reformbedarf unverkennbar. Ein Vorschlag aus dem Jahre 2001, das Gutachten „The Responsibility To Protect“ der International Commission on Intervention and State Sovereignty, trägt dem Rechnung.

Hinzu kommt das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (1998), das den bisher jüngsten institutionellen Schritt einer grundlegenden Transformation des modernen Völkerrechts im 21. Jahrhundert darstellt. Mit der strafrechtlichen Verantwortlichkeit natürlicher Personen und der – wenn auch zögerlichen – tatbestandlichen Berücksichtigung innerstaatlicher Konflikte wird an einem grundlegenden Prinzip des Völkerrechts gerüttelt: einer ausschließlich auf Nationalstaaten als souveräner Völkerrechtssubjekte basierenden Weltordnung, zugunsten eines klaren Bekenntnissen zum Schutz der Menschenrechte.

(Josef Bordat)

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