Wir

14. Juli 2014


In den letzten Stunden ist mir verhältnismäßig oft zum Titel eines Fußballweltmeisters gratuliert worden. „Gut gemacht!“ – „Toll gespielt!“ – „Bravo – Glückwunsch!“ waren da nur die harmlosesten Varianten. Nun ja, was soll ich sagen? Ganz einfach: Vielen Dank! Etwas verlegen bin ich aber schon, denn mein Beitrag zu dem großen Erfolg der deutschen Fußballnationalmannschaft in Brasilien ist doch eher überschaubar. Meine Karriere endete irgendwann in der C-Jugend. Mangels Talent musste ich mich der Philosophie zuwenden.

Das wiederum zwingt mich heute morgen gleich wieder (nach dem Spiel ist vor der Analyse), über das unterstellte Wir nachzudenken. Deutschland lebt heute (und vermutlich auch in den nächsten Tagen und Wochen) im Wir des Triumphs. Wir sind Weltmeister. Ausnahmslos. Es scheint, dass Manuel, Mario & Co. es für einen ganz kurzen Moment der Geschichte geschafft haben, die Einheit Deutschlands wirklich zu vollenden: aus der Gesellschaft wurde gestern in der 113. Minute wieder eine Gemeinschaft. Mit links.

Jetzt kommt das Wasser zum Wein: Es gibt kein Zurück mehr zu einem gemeinschaftlichen Wir, das den Augenblick überdauert. Das ist (und diese Erkenntnis ist keineswegs neu) ein Resultat der gewachsenen Komplexität der Welt und der zunehmenden kulturellen Fragmentierung in räumlich abgeschlossenen Gebieten wie dem Europas. Gemeinschaft ist Illusion, soweit sie über die zweckhafte und zeitweilige Bündelung von Einzelinteressen hinausgehen soll. Die Organisation dieser Klammer ist in der Moderne einer Gesellschaft vorbehalten, die sich gerade durch mangelnde Stetigkeit und fehlende Selbstverständlichkeit von der vormodernen Gemeinschaft abhebt.

Gestern Abend verschwamm die Gesellschaft der Minderheiten für einen ganz kurzen Moment zur Gemeinschaft einer überragenden Mehrheit von Menschen mit dem geteilten Merkmal, dabei sein zu wollen, wenn Wir Weltmeister werden. Auf der Fanmeile waren sicherlich zwanzig Religionen und zehn unterschiedliche Präferenzen für politische Parteien vertreten, (mindestens) zwei Geschlechter, vielleicht dreißig oder vierzig Nationalitäten, ebensoviele Sprachen, noch mehr Dialekte. Ob der Nachbar vor der LED-Wand das Siebenfache verdient, spielte keine Rolle. Für diesen Moment.

Wer heute in Deutschland ein Wir schaffen will, muss etwas gründen und dafür einen Antrag stellen. Gestern Abend brauchte es keine Gründe, sich zu umarmen und zu feiern – weil es eine Ursache gab, die von allen als hinreichend akzeptiert wurde. Das Gemeinschaftsprinzip war im fernen Rio gestiftet worden, eine weitere Rechtfertigung unnötig. Zum ersten Mal seit dem Ende des Corpus Christianum gibt es wieder etwas, das uns selbstverständlich verbindet. Heute morgen zum Bäcker zu gehen und laut zu sagen, dass man nicht beeindruckt ist von Bastian Schweinsteiger, bildete das soziokulturelle Pendant zu einem atheistischen Bekenntnis im Bamberg des 13. Jahrhunderts.

Die Mannschaft hat ein Beispiel gegeben, wie Gemeinschaft heute funktionieren kann: Eigenheiten achten und nutzen, Differenzen nicht eskalieren lassen, ein geteiltes Ziel anvisieren – und erreichen. In ihr sind zwei Migrantenkollektive integriert, die Deutschlands Gesellschaft in den letzten 150 Jahren geprägt haben. Es gibt in ihr Angehörige zweier Weltreligionen, die Europa seit 1500 Jahren prägen: Es gibt gläubige Christen und praktizierende Muslime. Sie schaffen gemeinsam etwas, sie bilden eine Gemeinschaft, ein Wir ohne falsches Pathos. Es ist zeitlich begrenzt, dieses Wir, auf vier bis sechs Wochen. Nach dem Urlaub geht es in den Vereinen weiter, auch gegeneinander. Das wissen alle. Doch es spielte für den Moment keine Rolle.

Deutschland ist ein vielschichtiges, facettenreiches Gebilde, das erfolgreich sein kann, wenn es trotz der Verschiedenheiten in der Gesellschaft zusammensteht. Das konnten wir von den 23 Auswahlspielern lernen, gestern und in den 30 Tagen zuvor. Wenn wir diesen Zusammenhalt künftig öfter als zuvor beherzigen könnten, ohne illusorische Sehnsüchte nach unrealistischer Geschlossenheit zu wecken, dann wären wir tatsächlich am Ende das, was die Aktiven und Betreuer der deutschen Fußballnationalmannschaft jetzt schon sind: Gewinner.

(Josef Bordat)