Nichts Besonderes

28. März 2015


Ethiker neigen oft zu drastischen Beispielen, um ein Dilemma zu illustrieren. Da ist schnell mal von Leben und Tod die Rede. Man muss aber nichts Besonderes zu entscheiden haben, um moralisch herausgefordert zu werden. So wie ich, vorhin.

Im Rahmen der Wochenendeinkäufe besuche ich einen Laden, wähle Waren aus, bekomme einen Preis genannt, bezahle – und bin etwas irritiert. Ich schaue – schon im Hinausgehen – auf den Kassenzettel und stelle fest, dass ich einen anderen Betrag bezahlt habe. Zu wenig. Etwas zu wenig.

Meine erste Reaktion ist Freude über den unerwarteten und in gewisser Hinsicht unverdienten Vorteil. Dass er unerwartet ist, lässt die Stimmung steigen, dass er unverdient ist, kommt mir erst danach in den Sinn. Ich versuche es mit Rationalisierung: Die Waren sind ohnehin überteuert, man könnte den Fehlbetrag als eine Art Schicksalsdiscount betrachten. Es trifft sicher nicht die Falschen, denn der Laden geht gut.

Dann kommen andere Gedanken auf: Die Verkäuferin wird am Ende abrechnen und den Fehlbetrag unter Umständen aus eigener Tasche ausgleichen müssen. Andererseits: Die Sache könnte als Schwund behandelt werden und hätte dem Eigentümer lediglich den Vorsteuergewinn geringfügig geschmälert. Wie gesagt: Es trifft nicht den Falschen.

Wenn denn der Laden überhaupt Gewinn abwirft. Woher weiß ich das? Ich muss es nicht wissen, um zu wissen, dass der Inhaber und seine Verrichtungsgehilfen verantwortlich für die Korrektheit der Geschäftsprozesse sind. Sie machen die Preise, sie bieten bestimmte Waren an und sorgen dafür, dass das eine zum anderen passt. Das ist ihr Job.

Dabei gibt es Fehler. Immer. Das ist menschlich. Richtig. Aber trotzdem: Nicht mein Problem! Dann müssen sie eben besser aufpassen! Ich meine, die Verkäuferin hat den Fehler gemacht, nicht ich. Ich bin nicht verpflichtet, ihre Arbeit zu prüfen. Das wäre ja noch schöner! Und wie oft wird sie in ihrer Schludrigkeit den Kunden schon zu deren Nachteil einen falschen Preis genannt haben? Am Ende gewinnen immer die Großen!

Eben – und der Laden ist klein. Abgesehen davon ist es nicht richtig, etwas zu nehmen, das einem nicht gehört. Es ist nicht richtig. Es ist nicht nur nicht gut, sondern nicht richtig. Es ist ein Fehler. Einer, der nicht versehentlich, sondern absichtlich gemacht wird. Im vollen Bewusstsein der moralischen Mangelhaftigkeit des Verhaltens.

Ich bin schon auf dem Weg hinaus (der Laden befindet sich in einem der neuen Einkaufszentren, die trotz der sprichwörtlichen Berliner Armut überall wie Pilze aus dem Boden schießen), als ich umkehre und zurückgehe. Die Sache muss aus der Welt, damit diese – zumindest hier, zumindest jetzt – einigermaßen in Ordnung ist. Und mein Gewissen auch.

„Noch was vergessen?“ Die Verkäuferin lächelt. „Nein, nein. Sie haben mir nur einen falschen Preis genannt.“ – „Das kann nicht…“ – „Ich bin Ihnen noch was schuldig. Hier.“ – „Oh, Danke. Das ist… ach, ich hatte… ja, stimmt… Danke nochmal!“ Jetzt strahlt sie. Und ich mit ihr. Ich habe zu danken. Denke ich. Es breitet sich eine tiefe innere Freude darüber aus, das Richtige getan zu haben. Eine Freude, die mehr wert ist als ein Euro zwanzig. Nichts Besonderes, aber das sagte ich ja bereits.

(Josef Bordat)