Atheismus und Moral

8. August 2017


In der Süddeutschen Zeitung wird von einem psychologischen Experiment berichtet, mit dem Forscher in einer globalen Studie zeigten, dass Menschen dazu neigen, Atheisten eher unmoralisches Handeln zuzutrauen. Der Befund gelte kulturübergreifend und auch in säkular geprägten Ländern wie Australien, China, Tschechien, den Niederlanden oder Neuseeland.

Soweit zur Einschätzung der Probanden. Was aber ist der Sache nach von der These zu halten, Moral erfordere Religiosität? Ganz kurz: Es wäre schlimm, wenn der Glaube an Gott notwendig wäre, um überhaupt ein moralisches Leben führen zu können.

Freilich ist es einem Menschen, der an nichts Absolutes glaubt, nicht möglich, die Existenz absoluter, unveräußerlicher Moralbegriffe (wie etwa den der Menschenwürde) konsistent zu behaupten, weil er an irgendeiner Stelle der Begründung auf etwas verweisen müsste, das Garant des mit Absolutheit zur Geltung gebrachten Konzepts sein könnte – und was sollte das anderes sein als etwas, das selbst absolut und ewig ist, d.h. dann v.a. auch: dem Menschen entzogen bleibt, also: Gott (und sei es bloß ein rein gedanklicher Gottesbegriff ohne religiöse Konsequenz, eine „regulative Idee“ von etwas „Höherem“).

Daher wird im Rahmen säkularistischer Ethiken konsequenterweise der absolute Geltungsanspruch von Werten zugunsten einer kontextsensitiv wirkenden praktischen Rationalität aufgegeben, was zugleich die Aufgabe moralischer Wahrheit des Guten (und des Bösen) bedeutet, die keine relevante Zielgröße einer „Ethik ohne Gott“ mehr sein kann. An ihre Stelle treten die interpersonell und gesellschaftlich bestätigten Resultate des öffentlichen Diskurses, also ausgehandelte und mehrheitsfähige Positionen, die räumlich und zeitlich relativ sind. Alle Werte tragen hier ein inhärentes Verfallsdatum und bleiben in ihrer Geltungskraft auf einen Kulturraum bezogen; Rechtskraft entfalten sie gar nur in einem definierten Gebiet, meist das eines Nationalstaats.

Ein Beispiel dafür ist die in einigen Ländern veränderte ethische und rechtliche Bewertung der Menschenwürde im Fall des Schwangerschaftsabbruchs (Abtreibung). In einer Ethik bzw. einem Rechtssystem, in dem die Menschenwürde absolut gilt, weil sie sich als Gnadengabe von Gott her bestimmt, kann es keine Kompromisse geben, auch in 100 Jahren nicht. In einem säkularistischen Regime, das die Menschenwürde vom Menschen her bestimmt, kann sie immer wieder neu bestimmt werden – hier hat es der Mensch ja selbst in der Hand, wem er konventionalistisch Würde zubilligt und wem nicht. Und die wechselseitige Anerkennung ist eben das Höchste, das erreichbar ist, wenn es keinen Gott geben soll.

Aber das heißt eben nicht, dass jetzt alles verloren bzw. alles erlaubt ist. Denn es ist falsch zu meinen, dass ohne absolute Werte überhaupt gar keine Moral mehr lebbar sei. Fast alle moralischen Alltagsfragen lassen sich situativ lösen, eingedenk weltanschauungsübergreifender Handlungsmaxime wie der Goldenen Regel oder einfach mit ein wenig Empathie, gutem Willen und einem durchschnittlich scharfen Verstand.

Hier wirkt nämlich unser Gewissen, das man sich durchaus als einen schöpferischen Geniestreich Gottes denken darf, denn im Gewissen wirkt fort, was Gott uns explizit in Gestalt des Liebesgebots als Räume und Kulturen übergreifendes und alle Zeiten überdauerndes Sittlichkeitsprinzip offenbarte. Es wirkt fort im „moralischen Gesetz in uns“, in einer „mahnenden Stimme“, die uns und unsere Handlungen leitet. Das Gewissen wirkt auch in dem, der nicht an Gott glaubt, denn es wirkt durch die menschliche Natur, in die es Gott so eingewoben hat, dass der Mensch das Mandat des Gewissens auch ohne Glauben erkennen kann, allein durch die Vernunft.

Noch einmal ganz kurz: Das Gewissen wirkt, ob wir nun religiös sind oder nicht. Der Glaube kann jedoch diese Wirkung verstärken.

(Josef Bordat)