Der Niederrhein. Kultur und Sprache

3. März 2011


Karneval ist ja vor allem eine Angelegenheit des Rheinlands, also Köln, Venedig oder Rio. Ich komme ja ursprünglich aus dem Rheinland, genauer: vom Niederrhein. Der Niederrhein ist eine ganz besondere Region mit einer hohen Lebensqualität. Das liegt vor allem an der Moral des Niederrheiners, die sich nicht nur im Karneval zeigt.

Am Niederrhein werden die Kinder von ihren Omas nicht gefragt „Na, warst Du auch schön brav?“, bevor es Schokolade oder Sauerbraten gibt, sondern: „War die Maxime Deines Willens jederzeit so, dass sie zur Grundlage eines allgemeinen Gesetzes hätte werden können?“

Ja, die Oma. Eine moralische Instanz. Wichtigste moralische Instanz am Niederrhein, gewissermaßen der Sicherheitsrat, das sind jedoch „die Leute“. Bevor ein Diktator in Dinslaken Giftgas gegen die Zivilbevölkerung einsetzt, stellt er sich die Frage: „Wat sagen die Leute?“

Die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats am Niederrhein sind „die Nachbarn“. Die Nachbarn haben ein Veto-Recht in allen Fragen, die das Leben des Niederrheiners betreffen. „So kannst Du nicht rumlaufen, wat sollen die Leute denken? Und ers’ ma’ die Nachbarn!“

Den Niederrheiner an sich zu beschreiben bzw. das, was Oma, Leute und Nachbarn von ihm übrig lassen, ist im Grunde nicht möglich. Man kann sich dem Niederrheiner und seiner Lebensart nur kleinschrittig annähern. Am besten ist es in diesem Zusammenhang, wir schauen uns mal an, wie die berühmte Gretchenfrage aus Goethes „Faust“ gestellt und beantwortet worden wäre, wenn Goethe Niederrheiner gewesen wäre. Die Situation ist klar, oder? Ich frag nur, vielleicht lesen hier Bologna-Studenten mit. Also.

Gretchen: Hömma, wie ist dat mit de Religion?
Faust: Wie, Religion?

Der Niederrheiner fragt immer noch mal nach. Zur Sicherheit.

Gretchen: Ja, Religion! Wat is damit?
Faust: Wat soll damit sein?

Damit ist das Präludium des Dialogs abgeschlossen. Jedes Gespräch am Niederrhein beginnt mit dem in sich abgeschlossenen Vierzeiler: Ausgangsfrage, Rückfrage, Bestätigungsfrage, Abschlussfrage. Ausgangsfrage: Hömma, wie is dat? – Rückfrage: Wie, dat? – Bestätigungsfrage: Wat is damit? – Abschlussfrage: Wat soll damit sein?

Jetzt tritt der Dialog in die entscheidende Phase.

Gretchen: Ja, dat frag ich Dich!
Faust: Ja, wat weiß ich?!

Und mit der manchmal etwas unwirsch vorgetragenen finalen Endfrage ist das Gespräch beendet und beide sind zufrieden. Manchmal schließt sich noch ein beschwichtigendes „Und, sons’?“ an oder ein „Zuhause alles klar?“. „Zuhause“ ist dabei nicht räumlich gemeint, sondern meint die Gesamtheit der Lebensumstände.

Sie können das jetzt mal üben.

Beispiel 1 (Niederrheinisch – Grundstufe): Umsatzsteuererklärung.

Hömma, wie ist datt mit de Umsatzsteuererklärung?
Wie, Umsatzsteuererklärung?
Ja, Umsatzsteuererklärung! Wat is damit?
Wat soll damit sein?
Ja, dat frag ich Dich!
Ja, wat weiß ich?!
Und, sons’? Zuhause alles klar?

Beispiel 2 (Niederrheinisch – Mittelstufe): Störfall im Atomkraftwerk Hamm-Uentrop.

Hömma, wie ist dat mit de Störfall im Atomkraftwerk Hamm-Uentrop?
Wie, Störfall im Atomkraftwerk Hamm-Uentrop?
Ja, Störfall im Atomkraftwerk Hamm-Uentrop! Wat is damit?
Wat soll damit sein?
Ja, dat frag ich Dich!
Ja, wat weiß ich?!
Und, sons’? Zuhause alles klar?

Nur der unermesslichen Gnade und dem unendlichen Langmut Gottes ist es zu verdanken, dass das Bundesland Nordrhein-Westfalen immer noch existiert.

Noch etwas: Niederrheiner beginnen Gespräche nicht mit einer Information, auf die sie sich nachfolgend stützen wollen, sondern mit „Pass ma auf!“ oder „Hömma, hasse schon gehört?“ – „Wie, was, warum?!“ könnte man zurückfragen, der Niederrheiner antwortet aber kurz mit: „Sach!“ – „Hasse schon gehört?“, „Sach!“, „Dat mit dem Störfall im Atomkraftwerk Hamm-Uentrop?“, „Wie…“ usw.

Als Übungsaufgabe schreiben Sie einen Dialog der Oma mit Gretchen über die Nachbarn, in dem die Begriffe „Karneval“, „Sauerbraten“ und „zu Guttenberg“ vorkommen.

In diesem Sinne: Tolle Tage!

Ihr

Josef Bordat

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