Der sündige Bruder

10. September 2017


Wenn dein Bruder sündigt, dann geh zu ihm und weise ihn unter vier Augen zurecht. Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder zurückgewonnen. Hört er aber nicht auf dich, dann nimm einen oder zwei Männer mit, denn jede Sache muss durch die Aussage von zwei oder drei Zeugen entschieden werden. Hört er auch auf sie nicht, dann sag es der Gemeinde. Hört er aber auch auf die Gemeinde nicht, dann sei er für dich wie ein Heide oder ein Zöllner. Amen, ich sage euch: Alles, was ihr auf Erden binden werdet, das wird auch im Himmel gebunden sein und alles, was ihr auf Erden lösen werdet, das wird auch im Himmel gelöst sein. Weiter sage ich euch: Alles, was zwei von euch auf Erden gemeinsam erbitten, werden sie von meinem himmlischen Vater erhalten. Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen. (Mt 18, 15-20)

Ja, bin ich denn der Hüter meines Bruders? Mit dieser empörten Gegenfrage auf die Frage Gottes, wo er denn gewesen sei, versucht sich Kain zu rechtfertigen, nachdem er Abel erschlagen hat. Im Urverbrechen, dem Brudermord, der gleich in einer der ersten Menschheitsgenerationen verübt wird, tritt etwas zu Tage, das nur allzu menschlich zu sein scheint: die Verantwortung für den Nächsten erst einmal zurückzuweisen. Wir kennen das: „Wie kann ich mich noch um meinen Nachbarn kümmern, hab ja selbst kaum Zeit für die eigene Familie!“ – „Geld für Afrika? Und was ist mit der Ausstattung unserer Schulen?“ – „Das geht mich nun wirklich nichts an – ich komme ja selbst kaum klar!“

In der heutigen Perikope geht es um die Verantwortung für den geistlichen Bruder, den Mitchristen. In der Gemeinde sollen wir füreinander Verantwortung übernehmen. Wir sollen dabei Hüter – nicht Bevormunder – des Bruders (und der Schwester) sein, dazu sind wir berufen. Das bedeutet auch, den Anderen anzusprechen auf fragwürdige Entscheidungen und unmögliches Verhalten. Zunächst unter vier Augen, nicht vor versammelter Mannschaft, schon gar nicht in aller Öffentlichkeit. Das Evangelium schlägt für das Verfahren eine subsidiäre Eskalation vor: Persönliche Ansprache, Beratung in der Kleingruppe, Einbinden der Gemeinde, Ausschluss (und damit öffentliches Bekanntwerden der Sünde, des „Skandals“).

Heute läuft es oft umgekehrt: Der „Skandal“ wird in die (mediale) Öffentlichkeit getragen, noch ehe klar ist, was überhaupt vorgefallen war. Die Behandlung des Sünders ist keine dialogische, sondern eine diskursive. In dieser wird nicht mehr unterschieden zwischen Sünde und Sünder. Die Person des Sünders wird zum Gegenstand der Ungnade. Christliche Verantwortung hingegen sieht anders aus: Sie macht den Bruder zum Gegenstand der Barmherzigkeit. Und die Schwester auch. Gleichwohl führt diese Verantwortung nur dann zur Versöhnung, wenn der Sünder seine Sünde erkennt und bekennt, sie bereut und sich bessert. Der Neuanfang hängt mit beidem zusammen: mit dem liebevollen Zurechtweisen einerseits und dem demütigen Annehmen andererseits.

(Josef Bordat)