Risiken und Nebenwirkungen der Gewissensnot

4. Dezember 2013


Eine französische Apothekerin lehnt unter Berufung auf ihr Gewissen den Verkauf der „Pille danach“ ab und wird entlassen. Ein Apotheker aus Berlin tut es ihr seit Jahren gleich. Er kann allerdings nicht entlassen werden, da er der Inhaber der Apotheke ist. Im meinem Buch Das Gewissen greife ich seinen Fall in Kapitel 5.2.1 auf („Der standhafte Apotheker“, S. 215-222). Nachfolgend gebe ich den Text unverändert wieder.

Für den katholischen Christen ist, wie wir in Kapitel 4 sahen, das von der Glaubens- und Morallehre gebildete Gewissen die höchste Instanz. In Berlin-Neukölln gibt es einen katholischen Apotheker, der diese Instanz ernst nimmt – und damit sich selbst und das, was ihn im tiefsten Inneren zu der Person macht, die er wesentlich ist: seinen Glauben. Der Neuköllner Apotheker steht für natürliche Familienplanung ein und verweigert aus Gewissensgründen den Verkauf der „Pille danach“, die eine abtreibende Wirkung hat, also menschliches Leben tötet.

Wir können uns – wie in jedem Fall von Gewissensgebrauch – auf zwei Ebenen über diesen Fall unterhalten. Auf einer inhaltlichen (dazu wären die Fragen zu stellen, ob es im vorliegenden Fall angemessen ist, sein Gewissen zu bemühen, ob man mithin selber ebenso gehandelt hätte, weil das eigene Gewissen von ebensolchen anthropologischen Dispositionen und ethischen Prämissen gebildet ist) und auf einer methodischen (Wie beurteilen wir den Gewissensgebrauch an sich?). Freilich hängt oft die Sicht auf die Gewissensentscheidung als solcher von der inhaltlichen Beurteilung ab. Jemandem, der sein Gewissen einsetzt, um gegen das geltende Recht Werte zu schützen, die man selber schätzt, wird von uns besser beurteilt als jemand, der sein Gewissen bemüht, um Werte zu verteidigen, die uns fremd sind. Fest steht im vorliegenden Fall: Der Apotheker kann gar nicht anders handeln als so, wie er handelt, wenn er seinen Glauben und sein von der Glaubenslehre gebildetes Gewissen ernst nimmt. Eine inhaltliche Auseinandersetzung müsste also bei der zugrundeliegenden Glaubenslehre ansetzen. Deren Inhalte sind aber für die Frage des Gewissensgebrauchs aus Freiheit unerheblich, also für die Frage, ob jemand das Recht hat, dieser Glaubenslehre zu folgen und sie zum Bildungsgrund seines Gewissens und dieses zum Entscheidungsgrund seines Handelns zu erheben. Selbst dann, wenn man die Glaubenslehre, auf die sich der Apotheker stützt, für falsch hält, muss man ihm zugestehen, sich im Rahmen der Gewissensfreiheit an ihr auszurichten. Auf die Beantwortung der inhaltlichen Fragen möchte ich denn auch gar nicht erst eingehen. Das würde uns sehr weit wegführen vom Thema, hinein in schwierige Gebiete der theologischen, philosophischen, juristischen und naturwissenschaftlichen Debatte um den Beginn des menschlichen Lebens. Dies und die bioethischen Schlussfolgerungen aus der katholischen Position, die auf der Basis des christlichen Menschenbildes formuliert ist, würden den Rahmen dieser Abhandlung sprengen. In Kapitel 4 habe ich einen kurzen Einblick in die katholische Position zum Verhältnis von Personalität und Sexualität gegeben; hieran schlösse die inhaltliche Argumentation an; in Kapitel 6 werde ich ebenfalls – ganz kurz – darauf eingehen.

Auf den Inhalt kommt es meiner Ansicht nach also nicht an. Selbst wenn der Apotheker sich in der Sache, also hinsichtlich des Gegenstands seines Gewissensgebrauchs „irrte“, wäre ihm der Gewissensgebrauch zuzugestehen, wenn er diesen nur ernsthaft genug vertritt und dafür auch Nachteile in Kauf nimmt. Das war der Begriff der Gewissensfreiheit im Grundgesetz: inhaltlich entkernt, mit Rechtfertigungspflicht und Prüfauflagen belegt. Das entspricht aber auch der Gewissenskonzeption der Katholischen Kirche, die den Gebrauch des „irrenden Gewissens“ als respektabel integriert. Worauf aber kommt es an? Auf den Gewissensgebrauch selbst! Den gilt es nun in seinem Charakter zu untersuchen.

Der Apotheker gibt zunächst ein gutes Beispiel dafür, wie unbequem, ja, störend Christen sein können (vgl. Kapitel 4). Zugleich zeigt er, dass es gerade das christliche Gewissen ist, das rebelliert, wenn die Würde und das Leben von Menschen bedroht sind. Das hat wiederum etwas mit der Selbstverständigung auf eine ethische Grundposition zu tun: der Idee eines unbedingten Schutzes der Würde und des Lebens, die sich aus dem christlichen Menschenbild ergibt, das in seiner Klarheit unmissverständlich ist und im Christentum die wichtigste Basis der Gewissensbildung darstellt. Im Verhalten des Apothekers zeigt sich zudem der enge, wechselweise affirmative Zusammenhang von Gewissen, Glauben und Religion. Von Kritikern wird dies schnell einmal umgedeutet: Da ist das Verhalten des Apothekers nicht Ausdruck der Dreifachgarantie von Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit, sondern vielmehr ein Beleg für „religiösen Wahn“. Der Gewissensvorbehalt wird zum „Skandal“. Vom Grundrecht auf Gewissensfreiheit tatsächlich auch Gebrauch zu machen, impliziert in diesem Fall – folgt man den Kommentaren einschlägiger Internetforen – das Recht zum (durchaus auch gewaltsamen) „Widerstand“. Wo kämen wir sonst hin?! Mehr noch: Die Verweigerungshaltung des Apothekers wird gar nicht als Gewissensangelegenheit wahrgenommen, sondern als Marketingstrategie, als Gag, als Ausdruck von „Fanatismus“, „Fundamentalismus“, „Wahn“, „Verblendung“ und „Geltungssucht“. Interessant ist der ebenfalls anzutreffende Vorwurf der „Selbstgerechtigkeit“, denn dieser stimmt zumindest teilweise: Der Gewissensgebrauch geht immer von der Ungerechtigkeit der geltenden Rechtslage aus, zu der er in Opposition steht. Wäre das nicht so, gäbe es ja den Konflikt nicht. Nur, dass im Falle des Apothekers mit „Selbst“ gerade nicht das autonome, sich selbst bestimmende Selbst gemeint ist, sondern ein heteronom verpflichtetes Selbst, das diese Pflicht jedoch aus freien Stücken und der eigenen Einsicht wegen als solche erkennt – also aus Freiheit und Vernunft –, sie demnach zu befolgen bereit ist und sich von daher „selbstgerecht“ verhält. Auch der Vorwurf, der Apotheker verbreite mit seiner Verweigerungshaltung eine „Ideologie“, ist bei genauer Betrachtung gar keiner, denn das lässt sich ja beim Gewissensgebrauch nie verhindern: dass immer auch die Grundsätze der Gewissensbildung zu Tage treten, die hier dem Katholizismus entnommen sind. Auch die wohlfeileren Vorwürfe wie „Fanatismus“ und „Fundamentalismus“ lassen sich zugunsten des Apothekers wenden: Wer Fundamente hat – und das Gewissen ist das Fundament der menschlichen Moralität – tut gut daran, diese zu vertreten. Er ist deswegen aber noch lange kein „Fundamentalist“. Und schon gar kein „Fanatiker“.

Das eigentlich Erschreckende an der Varietät der Vorwürfe ist etwas ganz anderes: Viele Menschen haben sich offenbar schon so sehr an einen angeblichen „Rechtsanspruch“ auf Tötung menschlichen Lebens gewöhnt, dass sie gar keinen Konflikt sehen können und dem Apotheker insoweit gar nicht glauben können, dass es ihm „nur“ um sein Gewissen geht. Diese Ignoranz übersieht nicht nur, dass es dieses „Recht auf Tötung“ in Deutschland nicht gibt (Abtreibungen sind nach § 218 StGB grundsätzlich verboten, bleiben aber unter bestimmten Umständen straffrei), sondern auch, dass der Apotheker erhebliche Nachteile in Kauf nimmt. In anderen Kontexten wird der Gewissensvorbehalt pathologisiert („religiöser Wahn“) und damit seiner Ernsthaftigkeit zu berauben versucht. Die Prüfungen, die der Apotheker bestehen muss (unlängst wurden die Schaufenster seiner Apotheke zertrümmert) sind aber doch derart, dass man getrost Ernsthaftigkeit unterstellen kann, weil und soweit der Apotheker trotz des Terrors gegen seine Person an seiner Haltung festhält. Er zieht sich eben auch nicht auf fadenscheinige Ausreden zurück (ein wohlmeinender Kritiker rät ihm, auf Nachfrage einfach anzugeben, das betreffende Medikament gerade nicht vorrätig zu haben), sondern steht zu seinem Gewissen.

Eine andere Perspektive nimmt ein, wer auf die rechtlich garantierte medizinische Versorgung anspielt, da das Verhalten des Apothekers die Versorgungslage objektiv verschlechtert. Etwas dezentere Kritiker verweisen darauf und bedienen sich einer objektivistischen Argumentation: Das Recht der Bevölkerung auf Gesundheitsdienstleistungen im Rahmen des geltenden Gesetzes ist zu wahren. Das ist sicher richtig, doch wiegt das Verfassungsprinzip Gewissensfreiheit grundsätzlich schwerer, es sei denn, es geht tatsächlich um überragende Rechtsgüter des Gemeinwesens, die durch den Gewissensvorbehalt gefährdet sind. In einer Stadt, in der alle 500 Meter eine Apotheke zu finden ist, kann davon gleichwohl keine Rede sein. Auch das „Selbstbestimmungsrecht der Frau“ (abgesehen davon, dass es keine Einigkeit darüber gibt, wie weit dieses in Bezug auf die Leibesfrucht reichen sollte) wird vom „Selbstbestimmungsrecht des Apothekers“ neutralisiert, der offenbar der Ansicht ist, dass das Selbstbestimmungsrecht des Menschen spätestens dort ein Ende finden sollte, wo das Leben eines anderen Menschen zur Disposition steht. Interessant ist, dass hier zur Abwehr des Gewissensvorbehalts ausgerechnet mit einem Kernbegriff der subjektivistischen Gewissenskonzeption gearbeitet wird: Selbstbestimmung. Offenbar kommen die Kritiker gar nicht auf die Idee, dass nicht nur die Frau ein Selbstbestimmungsrecht hat, sondern auch der Apotheker.

Sein subjektives Gewissen steht dabei gegen den objektiven Anspruch auf Versorgung, der seitens der Öffentlichkeit zweifellos existiert. Doch ironischerweise verkehrt sich hier das Begründungsmodell: Der Apotheker rechtfertigt sein subjektives Gewissen gerade nicht subjektivistisch. Er sagt nicht: „So bin ich nun mal“, sondern begründet sein Verhalten aus seinem Glauben heraus, so dass eine zweite Norm, die Religionsfreiheit (also: Religionsausübungsfreiheit), unterstützend hinzutritt. Seine Kritiker (angesichts mancher eingeworfener Schaufensterscheibe kann man wohl auch sagen: Gegner), winken mit der Normativität der herrschenden Ordnung und argumentieren objektivistisch, um jedoch damit andererseits gegen jeden gesellschaftlichen, staatlichen oder religiösen Zugriff auf die individuelle Entscheidungsfreiheit zu agitieren, um die Autonomie der Frau gewahrt zu wissen – im Zweifel auch gegen eben jene Ordnung. Macht dann aber einmal jemand von seiner „individuellen Entscheidungsfreiheit“ Gebrauch, für den diese nicht gedacht war, ist die Empörung groß und der ordnungsstaatliche Eingriff wird herbeigesehnt. Motto: Freiheit gilt niemals auch für Andersdenkende! Das Postulat echter Toleranz, das Rosa Luxemburg ihren Urenkeln ins Stammbuch schrieb, wird von diesen auf den Kopf gestellt.

Das Recht auf freie Gewissensentscheidung ist aber kein „Wahn“, sondern Verfassungsgrundsatz. Nur, wer selbst kein Gewissen hat, betrachtet das Gewissen anderer leichtfertig als Luxus. Wer kein gut gebildetes Gewissen und keine Erfahrung mit ernsthaften Gewissensvorbehalten hat, muss man fairer Weise hinzufügen. Denn ein Gewissen haben wir alle.

Respekt vor der Gewissensentscheidung versus Recht auf Versorgung: Dieses Thema ist keine Lokalposse, wie man meinen könnte. Neukölln ist – in diesem Fall – überall. Es scheint, als gäbe es durchaus Tendenzen in Europa und den USA, die Rechtslage im Gesundheitsbereich zu verändern, nämlich zugunsten der Versorgungssicherheit von Frauen, die „Dienstleistungen“ wie Abtreibungen in Anspruch nehmen wollen, und zu Lasten der Gewissensfreiheit von Menschen, die sich weigern, an solchen mitwirken zu wollen. Hier gilt es, aufmerksam zu sein und zu bleiben – dem Gewissen und der Freiheit zuliebe.

(Josef Bordat)

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