Nahtodforschung im Selbstversuch

24. Juni 2013


Der Neurochirurg Eben Alexander macht eine Nahtoderfahrung, die ihn ans Jenseits glauben lässt. Er beschreibt sie in einem Buch, das bereits zum Bestseller wurde: Proof of Heaven (zu deutsch: „Blick in die Ewigkeit“). Alexander schreibt einen Bericht über seine Reise in eine andere Dimension – nachvollziehbar, eindrücklich und kompetent. Er bringt damit die Nahtodforschung auf einen völlig neuen Kenntnisstand. Was derzeit von vielen verschlungen wird, ist daher nichts weniger als eines der wichtigsten Bücher der letzten Jahre.

Dem Phänomen Nahtoderfahrung kann man sich auf unterschiedliche Weise nähern: naturwissenschaftlich wie Birk Engmann in Mythos Nahtoderfahrung (2011, Rezension) oder bewusstseinsphilosophisch wie Michael Nahm in Wenn die Dunkelheit ein Ende findet: Terminale Geistesklarheit und andere ungewöhnliche Phänomene in Todesnähe (2012, Rezension). Gemein ist diesen methodisch unterschiedlichen Annäherungen die Außenperspektive des Verfassers, der seiner Analyse die Schilderungen Dritter zugrundelegt – Forscher und Gegenstand sind und bleiben getrennt. Dass jemand, der selbst eine Nahtoderfahrung gemacht hat, in kompetenter, investigativer Weise darüber schreibt, ist eher selten – denn wann hat eine Kapazität auf dem Gebiet der Neurologie oder Hirnforschung schon mal eine Nahtoderfahrung?

Nun, in der Woche vom 10. bis 17. November 2008 war es soweit. In diesen sieben Tagen lag der Neurochirurg und Gehirnspezialist Eben Alexander, international renommierter Autor und Redner sowie Dozent in Harvard, infolge einer seltenen Form von bakterieller Hirnhautentzündung im Koma. Es klingt zynisch, doch man ist angesichts der Erfahrung, die der Patient im Krankenhausbett machen durfte, geneigt, von einem „Glücksfall“ zu sprechen – für die Wissenschaft, für die Menschheit und nicht zuletzt für Eben Alexander selbst, der eine Horizonterweiterung erfuhr, die sein Leben veränderte.

Alexander, der bis zu seiner Erfahrung jenseits von Zeit und Körperlichkeit zu den eher skeptischen Köpfen zählte, zu denen also, die Nahtoderfahrungen für Hirngespinste halten und auf physiologische Aspekte reduzieren, erlebt eine Reise in die Unendlichkeit eines Bewusstseinsstroms, in dem er eine dreiteilige Botschaft der Liebe und Hoffnung erhält, die er nach eingehender Prüfung als „universelle Wahrheit“ anerkennt, ausgesprochen von „realen“ Entitäten außerhalb seines Körpers: „Die Botschaft ging durch mich hindurch wie ein Wind, und ich verstand sofort, dass sie wahr war. Ich wusste es auf dieselbe Weise, wie ich wusste, dass die Welt um uns herum real war – keine Fantasie, nichts Flüchtiges und Substanzloses.“ Ist das glaubwürdig? „Erinnern Sie sich, wer hier zu Ihnen spricht. Ich bin kein dummer Gefühlsmensch.“

Es sind beileibe keine sehnsuchtsvollen Wunschprojektionen eines Ultraspirituellen, die sich in der Schilderung jener sieben Tage finden lassen, sondern die detaillierte, geradezu sachliche Darstellung einer überraschenden Begegnung des auf- und abgeklärten Wissenschaftlers mit einer Welt jenseits unserer zweckrationalen Beschreibungsmodi, die in ihrer Eigentümlichkeit verblüfft: Er schwebte, so Alexander, mit einer „jungen Frau“ in „bäuerlicher Kleidung“ und mit „goldbraunen Locken“ auf „dem Flügel eines Schmetterlings“, umgeben von „Millionen von Schmetterlingen“. Wie sich für ihn erst nach Abschluss der Arbeiten am Manuskript herausstellt, handelte es sich bei der Frau um seine verstorbene leibliche Schwester Betsy, die er – in irdischen Gefilden – nie kennengelernt hatte.

Die Deutlichkeit, mit der Alexander diese surreale Welt ganz real erfährt, lässt kaum einen Zweifel daran, dass es sie gibt. Daher trägt der englische Originaltitel zu Recht dick auf: Proof of Heaven – „Himmelsbeweis“. In den deutschsprachigen Handel kam das Buch unter dem vergleichsweise zurückhaltenden Titel Blick in die Ewigkeit. Die faszinierende Nahtoderfahrung eines Neurochirurgen. Dass es ein Neurochirurg ist, der von seiner Nahtoderfahrung berichtet, immunisiert die Darstellung zwar nicht gegen Einwände, bewahrt sie aber vor allzu voreiliger Verurteilung. Dennoch: Zweifel kommen auf. Ob er das alles so erlebt hat? Auf der Metaebene kommen wir in Sachen Kredibilität nicht weiter: Zwar verdient Alexander viel Geld mit dem Buch (was ein Motiv sein könnte, die Geschichte auszuschmücken), ruiniert damit jedoch zugleich seinen Ruf als Wissenschaftler (zumal, wenn er die Geschichte ausschmückt). Zudem hat er seine Erfahrung binnen vier Wochen niedergeschrieben – bei klarem Verstand und deutlicher Erinnerung, wie er meint. Es könnte also sein, dass Eben Alexander schlicht und einfach nach besten Wissen und Gewissen seine Erfahrung schildert. Man darf ihm ruhig Glauben schenken.

Nun kann es ja sein, dass er all das, was er beschreibt, auch tatsächlich so erlebt hat, doch ist es wirklich wahr? Junge Frau? Braune Locken? Schmetterlinge? Man kennt solche Träume. Doch sie sind nicht real, sicherlich nicht! Und Alexanders Nahtoderfahrung? Er beschreibt sie mit dem Fachwissen des Gehirnspezialisten und in der nüchternen Klarheit eines Versuchsprotokolls. Ab und an leuchtet zwar die Faszination des persönlich Betroffenen durch, doch Superlative sind wohldosiert, nicht aus Effekthascherei inflationär eingeflochten, ausstaffierende Attribute nur funktionalistisch, nicht rhetorisch eingesetzt. Und das wichtigste: Alexander prüft, was er selbst kaum glauben kann, schließt naturalistische Ansätze der Reihe nach aus. Neun „neurowissenschaftliche Hypothesen“ taugen nicht als Erklärung für das, was er erlebt hat, soviel steht fest. Mit der Begründung wird es phasenweise etwas schwierig, da sich Alexander mit seiner Analyse ja auch an ein kritisches Fachpublikum richten will – an eben jene, die immer noch skeptisch sind. Doch er will letztlich allen Menschen die Erfahrung der „bedingungslosen Liebe“ (eine gute sprachliche Umschreibung für Gott) begreiflich machen, weshalb er – zumeist erfolgreich – bemüht ist, die „ganz einfache Botschaft“ der Liebe auch ganz einfach bekanntzumachen.

Und das gelingt! Blick in die Ewigkeit. Die faszinierende Nahtoderfahrung eines Neurochirurgen ist ein äußerst lesenswertes, ja, faszinierendes Buch, das weit über die Nahtodforschung hinaus von großer Bedeutung ist, denn es stellt klar: mit dem Tod ist nicht alles aus, der Tod ist nur ein Übergang – in eine Welt, die Eben Alexander eine Woche lang besuchen durfte. Dass er Hamlet Lügen straft und aus dem „unentdeckte[n] Land, von des Bezirk / Kein Wandrer wiederkehrt“ nun doch zurückfand in unsere Welt und deren Bewohner an seiner tiefen Erfahrung teilhaben lässt, dafür gebührt ihm ein ganz besonderer Dank.

Bibliographische Daten:

Eben Alexander: Blick in die Ewigkeit. Die faszinierende Nahtoderfahrung eines Neurochirurgen.
München: Ansata Verlag (5. Auflage, 2013).
256 Seiten, EUR 19,99.
ISBN-13: 978-3778774779.

(Josef Bordat)

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