Christenverfolgung bei Wikipedia

18. August 2014


Keine Angst – ganz soweit ist es noch nicht. Zunächst meine ich nur den Artikel „Christenverfolgung“ in der deutschen Fassung der Wikipedia. An diesem fällt nicht nur auf, dass es in Syrien offenbar gar keine Christenverfolgung gibt. Das Wort „Syrien“ kommt in dem umfangreichen Artikel nur einmal vor: Dort, wo darauf hingewiesen wird, dass die Ende des 19. Jahrhunderts im Osmanischen Reich verfolgten Aramäer „ins Ausland“ flohen, „etwa nach Syrien“. Das war’s. Für ein Land auf Platz 3 des Open Doors-Weltverfolgungsindex 2014 nicht schlecht. Statt dessen wird die Türkei ausführlich behandelt, ein Land, das im aktuellen Weltverfolgungsindex gar nicht aufgeführt ist. Dennoch verdient es bei dem Thema wohl eine Betrachtung.

Was ich sagen wollte, betrifft aber etwas ganz anderes, nämlich den Abschnitt „Christenverfolgung im Nationalsozialismus“. Der eröffnet forsch mit der Behauptung, eine „systematische Christenverfolgung“ habe es „in der Zeit des Nationalsozialismus (1933-1945) nicht gegeben“. Das überrascht. Der Punkt ist wohl der, dass „systematisch“ etwas anders ist als „flächendeckend“, Nicht alle Christen wurden – wie alle Juden – verfolgt, verhaftet und ermordet. Das wäre bei rund 95 Prozent Christen-Anteil in Europa Mitte des 20. Jahrhunderts auch nicht so einfach gewesen. Dennoch gab es ohne jeden Zweifel eine systematische Verfolgung aller Christen, die sich Hitler in den Weg stellten – weil und soweit sie ihren Glauben nicht mit der NS-Ideologie in Einklang bringen konnten. Das betrifft nicht nur die Zeugen Jehovas („Ernste Bibelforscher“), die später im Artikel doch noch erwähnt werden, das betrifft auch Priester und Ordensleute der Bekennenden Kirche und der Katholischen Kirche, die nicht nur zahlreich, sondern eben auch systematisch verfolgt wurden. Systematisch heißt hier, dass das System eine Verfolgung automatisch vornimmt, weil und soweit der Verfolgte aus Gründen des Glaubens von der gewünschten Linie des systembegründenden Regimes abweicht. Und das war sicher der Fall. Es war in Polen der Fall, als zahlreiche katholische Geistliche systematisch verhaftet und ermordet wurden. Es war in Holland der Fall, als nach einer regimekritischen Intervention des Utrechter Erzbischofs de Jong die zum Katholizismus konvertierten Juden und andere „katholische Nichtarier“ systematisch (und zwar sehr systematisch) verschleppt wurden. Also: Mit dem pauschalen Bestreiten einer „systematischen Christenverfolgung“ sollte man etwas vorsichtiger sein.

Eine zweite sehr abwegige Darstellung betrifft das Verhältnis der NS-Ideologie zum Christentum. Von Seiten der Christen sei der Nationalsozialismus begrüßt, von Seiten der Nazis an das Christentum angeknüpft worden. Beides stimmt so nicht, und dass es nicht stimmt, wird später auch im Abschnitt über Alfred Rosenberg erkennbar, doch für einen Lexikonartikel, den man ja von vorne nach hinten (oder von oben nach unten) liest, ist dieser Aufbau mehr als unglücklich.

Denn zunächst wird gesagt, dass „die Kirchenleitungen“ die Machtergreifung Hitlers „begeistert begrüßt“ hätten. Tatsächlich hat es positive Stimmen gegeben – „die Kirchenleitungen“ reagierten aber weder durchweg positiv noch überhaupt in irgendeiner Weise einheitlich, so dass man von „den“ Kirchenleitungen sprechen könnte. Für die Katholische Kirche stimmt das schon mal nicht. Deren „Leitung“ warnte ihre Mitglieder vor dem Nationalsozialismus und hat bereits 1932 die Zugehörigkeit zur NSDAP für unvereinbar mit dem christlichen Glauben erklärt. Im übrigen zeigen die Wahlergebnisse, dass sie damit bis zur Basis durchdrangen. In ihrer Studie Elite Influence? Religion, Economics, and the Rise of the Nazis (2014) weisen Jörg L. Spenkuch und Philipp Tillmann nach, dass „religion played an important role in the Nazi party’s electoral succes“. Sie fanden heraus, dass „Catholics were significantly less likely to vote for the Nazi Party than Protestants“. Besonders erhellend ist in diesem Zusammenhang eine Graphik, die zwei Karten Deutschlands gegeneinander stellt, wobei die eine die Konfessionsverteilung und die andere das Wahlverhalten Anfang der 1930er Jahre zeigt. Sie verhalten sich zueinander wie ein Foto und sein Negativ: Dort, wo die Katholiken in der Mehrheit waren, waren die NSDAP-Wähler in der Minderheit – und umgekehrt. In Bayern, im Rheinland und in Schlesien, wo damals über 80 Prozent der Menschen katholisch waren, erreichte die NSDAP bei den Reichstagswahlen vom November 1932 unter 20 Prozent. In der Diaspora Nord- und Mitteldeutschlands hingegen erreichte sie flächendeckend über 35 Prozent, in einigen Regionen auch die absolute Mehrheit der Wählerstimmen. Die Stimmung in der katholischen Bevölkerung war also keineswegs „Pro Hitler“. Wäre es nach ihnen gegangen, wäre Hitler nie an die Macht gekommen. Wäre es nach den Nicht-Katholiken gegangen, hätte Hitler gar nicht erst den Weg über eine Koalitionsregierung gehen müssen, sondern wäre gleich zum „Führer“ aufgestiegen. Das muss man zunächst mal wissen. Aus der Wikipedia weiß man es leider nicht.

Dann wird gesagt, die Nazis hätten das Christentum zu einer „Nationalreligion“ umgedeutet, was dann zu allem Überfluss noch mit Nietzsche in Verbindung gebracht wird. Tatsache ist: Nicht das Christentum wurde zur „Nationalreligion“ umgedeutet, sondern christlich belegte Begriffe („Vorsehung“, „Erlösung“, „Heil“) wurden im Sinne von Führerkult und neuer politischer Spiritualität umgedeutet, um eine „Nationalreligion“ zu begründen – das ist etwas ganz Anderes. Im übrigen: Wie passt Nietzsche hier hinein? Hatte er nicht das Christentum als Grundlage einer „Sklavenmoral“ verdammt? Das Christentum als Grundlage einer auf den „Willen zur Macht“ fokussierten Nationalreligion vorgestellt und alles mit Nietzsche begründet zu sehen, ist schon abenteuerlich. Ebenso, wie Hitlers angeblich positive Haltung zum Christentum mit einem Mein Kampf-Zitat zu belegen („Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.“). Dazu muss man wissen: Hitler schrieb viel in Mein Kampf. Unter Historikern (und Enzyklopädisten) sollte allerdings Einigkeit darüber herrschen, dass man mit Mein Kampf-Zitaten nicht die wirkliche Ausrichtung des NS-Regimes zu irgendwas begründen kann, schon gar nicht zum Christentum.

Dann kommt endlich der erhellende und das bisher Vorgetragene widerlegende Abschnitt zu Alfred Rosenberg. Der NS-Ideologe hatte bereits 1930 die Unvereinbarkeit von Nationalsozialismus und Christentum betont: „Der Mythus des römischen Stellvertreters Gottes muß ebenso überwunden werden wie der Mythus des ‚heiligen Buchstabens‘ im Protestantismus. Im Mythus von Volksseele und Ehre liegt der neue bindende, gestaltende Mittelpunkt.“[1] Die Kirche teilte Rosenbergs Einschätzung von der Unvereinbarkeit, was aber auch das einzige Moment an Gemeinsamkeit gewesen sein dürfte. Als Erwiderung auf die Propaganda für eine neue politische Religion entstand im Erzbistum Köln die von Clemens August Graf von Galen veröffentlichte Schrift Studien zum Mythos des XX. Jahrhunderts (1934), an der insbesondere Theologen der Universität Bonn mitgearbeitet haben. Auf diese Kritik reagierte wiederum Rosenberg ein Jahr später.[2]

Eine „Religion des Blutes“ solle das Christentum ersetzen, so Rosenberg in seiner Replik, denn dieses sah er durch die Katholische Kirche verdunkelt, verfälscht und „verjudet“ (was immer das heißen soll). Dazu liegt der Befund nur scheinbar quer, dass viele Nazi-Größen selbst christlich sozialisiert waren und sich in den Glaubensinhalten gut auskannten. Nur so konnten sie sich ja auf christliche Begriffe („Vorsehung“, „Erlösung“, „Heil“) beziehen und diese Metaphern mit völlig neuen Bedeutungsgehalten ausstatten. Was man ersetzen will, muss man kennen. Die Metaphorik der rosenbergschen „Blutreligion“ sollte die nationalsozialistische Sache mit der christlichen Tradition „gleichschalten“, was bei vielen Christen der Erkenntnis, wie lächerlich der Nationalsozialismus ist, nur endgültig zum Durchbruch verholfen haben dürfte. Tatsächlich aber war die Bildsprache des Nationalsozialismus wirkmächtig an dem Versuch beteiligt, den Deutschen „einen neuen Typ einer rassistisch zentrierten ,Religion’ aufzuzwingen, um ihr christliches Erbe zu verdrängen“[3]. Die „Rassenlehre“ der Nazis ist das glatte Gegenkonzept zum christlichen Menschenbild. Dass sie auch religiös deutbar ist, heißt nicht, dass damit weniger auffiel, wie sehr sie dem christlichen Menschenbild widersprach. Wer fest im Glauben stand, hat den Widerspruch bemerkt, zumal auch kirchliche Würdenträger das ihre zur Aufklärung beitrugen. In einer Stellungnahme der Bischöfe der Kölner Kirchenprovinz zur nationalsozialistischen Bewegung vom 5. März 1931 heißt es beispielsweise unmissverständlich: „Wir katholischen Christen kennen keine Rassenreligion, sondern nur Christi weltbeherrschende Offenbarung, die für alle Völker den gleichen Glaubensschatz, die gleichen Gebote und Heilseinrichtungen gebracht hat. Wir Katholiken kennen kein nationales Kirchengebilde. Katholisch heißt allgemein. Ein Hirt und eine Herde rings auf dem Erdkreise: das ist der Grundplan des Reiches Christi, feierlich verkündigt vor seinem Kreuzestode.“[4]

Der Vatikan kommt schließlich gewohnt schlecht weg – Zitat: „Der Vatikan unter Pius XI. schloss 1933 mit dem Dritten Reich ein Reichskonkordat ab und konnte so die Organisationsstruktur der katholischen Bistümer wahren.“ Hört sich nach reibungsloser Kooperation an, soll sich wohl auch so anhören. Und dann? Dann war es das und die nach Antworten suchende Leserschaft muss sich wieder außerhalb der Wikipedia informieren, etwa darüber, dass Pius XI. „ausdrücklich den modernen Rassismus verurteilt“[5] hat und sein Nachfolger, Pius XII., ein Papst war, „der Hitler trotzte“[6]. Aber das gehört auch nicht unbedingt in einen Artikel zum Thema Christenverfolgung.

Anmerkungen:

[1] Alfred Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. München 1930, S. 624.

[2] Alfred Rosenberg: An die Dunkelmänner unserer Zeit. Eine Antwort auf die Angriffe gegen den Mythus des 20. Jahrhunderts. München 1935.

[3] Beth A. Greich-Polelle: Der Nationalsozialismus und das Konzept der „politischen Religion“. In: Armin Nolzen / Manfred Gailus (Hg.): Zerstrittene „Volksgemeinschaft“. Glaube, Konfession und Religion im Nationalsozialismus. Göttingen 2011, S. 224.

[4] Walter Adolph: Die katholische Kirche im Deutschland Adolf Hitlers. Berlin 1974, S. 21.

[5] Arnold Angenendt: Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert. Aschendorff 2012, S. 563.

[6] Michael Hesemann: Der Papst, der Hitler trotzte. Die Wahrheit über Pius XII. Augsburg 2008.

(Josef Bordat)

Kommentare sind geschlossen.