Von selbst, von Gott

21. Oktober 2011


Das Gewissen des Menschen und das Gebot Gottes

Ein Satz im heutigen Tagesevangelium (Lukas 12, 54-59) spricht mich besonders an: „Warum findet ihr nicht schon von selbst das rechte Urteil?“ – Von selbst! Und nicht von Gott?

1.

Von selbst. – Was soll das bedeuten? Selbstbestimmung? Autonomie? Braucht der Mensch denn nicht die Leitung durch das göttliche Gebot? Durch staatliche Gesetze?

Es geht hier offenbar darum, dass der Mensch schon vor dem Gewissen, vor dem „inneren Gerichtshof“ zu einem Urteil kommen soll, nicht erst durch das Gesetz und den „äußeren Gerichtshof“. Dass Jesus das Gewissen gegen das Gesetz stärkt, ist nicht ungewöhnlich, es ist vielmehr eine Essenz seiner Liebesethik. Die Neubestimmung des Verhältnisses von Gewissen und Gesetz zeigt sich etwa in der Begegnung Jesu mit der Ehebrecherin (Johannes 8, 3-11). Hier sind es die zur Steinigung entschlossenen Pharisäer, berühmt-berüchtigt aufgrund ihrer strengen Gebotsorientierung, die von Jesus aufgefordert werden, hinter die äußere Norm (das Gesetz des Mose) zurückzugehen, bis auf ihr Gewissen und im Lichte dieser Gewissenserforschung noch einmal zu urteilen. Die Schriftgelehrten sind „von seinen Worten getroffen“, wie es in der neuen Genfer Übersetzung heißt – eine Steinigung mit Worten. Sie merken, dass sie die Steinigung zwar mit dem Gesetz, nicht aber mit ihrem Gewissen in Einklang bringen können. Das Gewissen ist aber die von Jesus eingeforderte entscheidende Zustimmungsinstanz. Jesus macht damit deutlich: Wer selbst vor dem inneren Gerichtshof keinen Freispruch zu erwarten hat, der sollte es sich vor dem äußeren Gerichtshof mit einer Verurteilung Dritter nicht allzu leicht machen.

2.

Von selbst. – Wie ist das nun mit dem Gewissen und der moralischen Selbstbestimmung? Droht hier nicht der Fall ins Bodenlose der Beliebigkeit?

Geht es um das Gewissen, trifft die subjektive Perspektive des Individuums auf die objektive Normativität der Gemeinschaft. Während aus dem Blickwickel des Subjekts Beliebiges erkannt wird und der Gewissensgebrauch damit in einen „So sehe ich das!“-Relativismus herabzusinken droht, der Authentizität und persönliches Wohlergehen zu den alleinigen Kriterien von Moral macht, kann die objektive Ordnung bei rigoristischer Buchstabentreue durch zu starke Verbindlichkeit jeden Spielraum eigener Verantwortungsübernahme zunichte machen. Wird der Gewissensgebrauch im Subjektivismus durch Relativität und fehlende Verbindlichkeit in Bezug auf die objektive Norm- und Wertordnung in seiner Unberechenbarkeit zur Gefahr für die Allgemeinheit, so wird er im Objektivismus vom Vorrang der Normativität im Keim erstickt. Polemisch gesagt: Das subjektivistisch formierte Gewissen ist zu allem fähig, das objektivistisch eingefasste Gewissen zu nichts zu gebrauchen. Auf der einen Seite steht also die Furcht vor Willkür und Anarchie, vor einem losgelösten Individuum, das die Fähigkeit verloren hat, sich überhaupt noch an Werte und Normen zu binden, auf der anderen Seite der Vorwurf, das Gewissen gerade in seiner Fähigkeit zur Kritik an Werten und Normen zu unterschätzen, wenn man es zu sehr auf eben jene Werte und Normen festlegt. Auf der einen Seite scheint zu gelten: Wenn wir das Gewissen nicht mehr an objektiven Maßstäben messen, sondern dem Einzelnen überlassen, hat jeder die Chance, durch entsprechende Gewissensbildung ein „gutes Gewissen“ zu bekommen, auf der anderen Seite scheinen die objektivistischen Forderungen das Gewissen zu überfrachten und zu lähmen.

3.

Von selbst. – Oder besser doch nicht? Wie lässt sich das Problem der Beliebigkeit als Resultat des Gewissensgebrauchs lösen?

In der christlichen Ethik, besonders in der katholischen Morallehre, ist im Kontext des Gewissens an eine Art „Verinnerlichung des Äußeren“ gedacht: Gott stiftet seine Gebote in das menschliche Gewissen ein. Das Gewissen ist damit als Ergebnis des Schöpfungsaktes an das göttliche Gesetz zurückgebunden. Die naturrechtliche Gewissenstheorie im Ausgang von Thomas von Aquin spielt damit das Subjekt und die objektive Ordnung nicht gegeneinander aus, sondern bringt sie zusammen, geklammert von dem, was Mensch und Gott teilen: die Vernunft. Der Mensch erhält im Gewissen Einsicht in das Gute, diese Einsicht ist Ergebnis des Vernunftgebrauchs. Die menschliche Vernunft ist gedacht als Teilhabe an der göttlichen Vernunft, so wie der Mensch qua Gewissen teilhat an der Moralität Gottes. Moral entsteht insoweit durch die Gleichzeitigkeit der Einsicht in das Gute des Gesetzes Gottes und in die Notwendigkeit seiner Befolgung. Beides wird vom Instrument der Teilhabevernunft gewährleistet. Zwar soll man das Gute, das Gott gebietet, nicht tun, weil es Gott gebietet, sondern weil es gut ist, doch Gott, der seinem Wesen nach Güte ist, gebietet nur Gutes. Das ist nicht immer das Bequeme, der Weg des geringsten Widerstands, das, was sich „mit links“ erledigen lässt, aber es ist immer das Gute und kann in unserem Gewissen als gut erkannt werden. Das wichtigste Gebot, zugleich eine Metanorm zur Auslegung aller anderen Gebote, ist die Liebe – auch das ein Wesensmerkmal Gottes. Und auch hier ist einem Missverständnis vorzubeugen: Gott ist nicht der „liebe“ Gott, sondern der liebende Gott, denn: Gott ist nicht „lieb“, sondern: Gott ist Liebe.

Und: Gott ist Wahrheit. Der Schlüssel für den Rückbindungsmodus liegt tatsächlich in der Beziehung des Gewissens zur Wahrheit des Guten. Erst wer hier ebenfalls Subjektivität unterstellt (meine „Wahrheit“, deine „Wahrheit“), kommt aus der Falle der Unbestimmtheit, ja, Beliebigkeit nicht heraus. Wer aber davon ausgeht, dass es eine gemeinsame Quelle von Vernunft und Wahrheit gibt, die als schöpferische Kraft auch für das Gewissen gesorgt hat, nämlich Gott, hat den Grund einer Objektivierung gefunden, die gleichwohl ins Subjekt verlagert ist (eben in Gestalt des Gewissens) und die damit von der Zustimmung dieses Subjekts abhängig bleibt.

Im Glauben an den Gott der Bibel, der Gebote erlässt und zugleich qua Vernunft Teilhabe an der Einsicht in ihre Notwendigkeit gewährt, konvergieren die subjektive menschliche Sittlichkeit und das objektive göttliche Gebot zum christlichen Ethos. In diesem sorgt die göttlich inspirierte praktische Rationalität des Menschen dafür, dass die Moral weder zum objektivistischen Kadavergehorsam, noch zur subjektivistischen Beliebigkeit degeneriert.

4.

Von selbst. – Ich sprach davon, dass für die christliche Moral der „Glaube an den Gott der Bibel“ notwenig sei. Also kommt am Ende doch wieder alles von Gott, nicht von mir selbst?

Noch einmal: In der katholischen Morallehre wird einerseits am Absolutum der göttlichen Wahrheit festgehalten, mit der Folge, dass es das Gute wirklich gibt, auch ohne spöttische Anführungszeichen. Andererseits wird beachtet, dass der Einzelnen in seiner Freiheit nie von außen zur Wahrheit des Guten gezwungen werden kann. Aber eben von innen bzw. von einem „verinnerlichten Außen“, von einem durch göttliche Norm informierten Gewissen. Gewissen und Gesetz werden eben nicht als Gegensätze gedacht, sondern als Bezugsgrößen, die im Naturrecht eine gemeinsame Rechtfertigungsbasis haben. Dies ist die Grundannahme der katholischen Morallehre, die dem Gewissen seinen Wert zurückgibt, durch den Schritt zurück zum Naturrecht, der die Paradoxie der Freiheit und Rationalität auflöst: Nicht die wegfallende Bindung, sondern die stützende Bindung an verinnerlichte Normen stärkt das Gewissen.

Das Zusammenspiel von autonomer (aber von Gott durchdrungener) Rationalität und heteronomer (aber in die menschliche Natur eingewobener) Normativität setzt freilich die ständige „Weiterbildung“ des Gewissens voraus – ein sich selbst verstärkender Prozess in Richtung moralische Wahrheit. Das christliche Menschenbild, in dem die „gebundene Freiheit“ oder „Freiheit durch Bindung“ eine zentrale Rolle spielt, und das katholische Naturrechtsverständnis im Ausgang von Thomas von Aquin, in dem die Vernunft die tragende Säule ist, bilden das Fundament einer tragfähigen Brücke zwischen Subjekt und Objekt in einer Gewissenstheorie, die sich der moralischen Wahrheit verpflichtet weiß.

Das Gewissen ist also die Ausprägungsinstanz einer subjektiven Moralität, die genau dann nicht in Beliebigkeit fällt, wenn sie mit objektiven Normen korrespondiert. Beim christlichen Gewissen ist dies der Fall. Das heißt: Zwischen von selbst und von Gott darf (bzw. kann) im christlichen Ethos kein Gegensatz gedacht werden. In der Ethik Jesu und – ihr nachspürend – in der katholischen Morallehre werden daher folgerichtig Gewissen und Gesetz, Mensch und Gott nicht gegeneinander ausgespielt, sondern aufeinander bezogen und miteinander verbunden.

Für den Christen gilt demnach: Die Stimme Gottes spricht Recht im „inneren Gerichtshof“. Das Gewissen enthält dazu das verinnerlichte äußere Gesetz, das „von selbst“ wirkt, insoweit es verinnerlicht ist, aber doch an Gott gebunden bleibt, insoweit es ein äußeres ist. Gerade in dieser Bindung an Gott erreicht das Gewissen die Fähigkeit zur wirksamen Orientierung des Menschen und sorgt dafür, dass Beliebigkeit in Verantwortung umschlägt – Verantwortung vor Gott und den Menschen.

(Josef Bordat)

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