Ihr neuer Feind, der „Lebensschützer“

1. Oktober 2014


Es geht nichts über ein gut sortiertes, klar umrissenes Feindbild. Wenn Sie noch keines haben, empfehle ich Ihnen heute den selbsternannten „Lebensschützer“, der ab sofort in Anführungszeichen steht. So als Feind.

Der entscheidende Vorteil dieses Feindbilds gegenüber herkömmlichen Feindbildern ist zunächst die gesellschaftliche Anerkennung. Sie brauchen keine Angst zu haben, jemand könne Sie mit Ihrem neuen Feindbild schief ansehen, nein, im Gegenteil: Ihnen steht die Welt offen. Und das Beste ist: Sie selbst müssen nichts weiter tun als Ihr Feindbild pflegen, denn als Nicht-Lebensschützer ist man von Natur aus in der Rolle des moralisch unantastbaren Anklägers.

Beispiel. Wenn irgendwo auf der Welt Ebola oder ein Vulkan ausbricht, sind Sie zur Stelle und sagen: „Na, wo seid ihr jetzt, ihr selbsternannten ‚Lebensschützer‘?!“ Und der Rest der Gesellschaft, die im Facebook ihren wertvollen Dienst tut, ergänzt kongenial: „Den homophoben Nazis sind die Menschen doch völlig Schnuppe, wenn sie erst mal geboren sind!“ Das sitzt.

Keine Angst: Sie brauchen das nicht zu begründen oder gar zu belegen. Erstens sind Sie ohnehin der bessere Mensch und zweitens kommt das neue Feindbild „Lebensschützer“ jetzt mit Wahrheitsgarantie durch eine verbesserte Beweis-durch-Behauptung-Formel. Keine lästigen Belege mehr, nur noch einfache Unterstellungen, ganz bequem per Mail oder per Telefon! Vom Sofa aus retten Sie nicht nur die Menschheit vor Ebola und Vulkaniern, sondern entlarven nebenbei die „Lebensschützer“ als das, was sie sind: selbsternannte „Lebensschützer“! Und „Heuchler“ und „Nazis“ und… – und „Nazis“. Und so weiter.

Es gibt auch eine ganze Reihe praktischer Vorzüge dieses Feindbilds. Die oft als störend empfundene Differenz von Existenz- und Allaussage fällt komplett weg. Ersatzlos gestrichen, wenn Sie mir diesen Scherz erlauben. Wenn zum Beispiel ein mazedonischer Zweitligahandballer unter den Teilnehmern eines selbsternannten „Marsch für das Leben“ ist, dann kann man – mit dem neuen Feinbild – sagen: „Alles mazedonische Zweitligahandballer, diese selbsternannten ‚Lebensschützer‘!“ Geht auch mit anderen Merkmalen. Suchen Sie sich etwas aus. Es funktioniert.

Umgekehrt können die Elemente „Unterstellung“ und „Nichtexistenzaussage“ spielend leicht genutzt werden, um dem Feind seine hässliche Fratze vom Gesicht zu reißen: „Am ‚Marsch für das Leben‘ nehmen keine Frauen/Behinderten/Eltern/Kinder/nette Leute teil! Und niemand, der sich wirklich um Frauen/Behinderte/Eltern/Kinder/nette Leute kümmert!“ Richtig – teilnehmen tun nur Nazis. Soweit waren wir schon.

Natürlich wissen Sie das nicht. Sie können es gar nicht wissen. Doch das spielt keine Rolle, weil es nicht auffallen wird, wenn Sie das wirklich in „sich wirklich kümmert“ nur genügend stark betonen. Der selbsternannte „Lebensschützer“ weiß dann nämlich nicht weiter – zählt er seine sozial-karitativen Verdienste auf, ist er ein „aufgeblasener Pharisäer“, ein „Heuchler“, ein „Nazi“. Schweigt er, so stimmt er zu. Punkt für Sie – garantiert! Probieren Sie es aus!

Denn, es ist ja doch so: Der Feind ist dumm. Sie hingegen sind nicht dumm, sondern klug. Sie brauchen also keine anstrengende Argumentation durchzuführen. Nie wieder. Sie sind ja nicht dumm. Der „Lebensschützer“ hingegen schon, der selbsternannte. Und da würde er ja Ihre weit überlegenen Argumente – wie das mit dem „Nazi“ – ohnehin nicht verstehen! Logisch, oder? Ich sehe, wir verstehen uns! Das einzige, was der selbsternannte „Lebensschützer“ hingegen versteht, ist Gewalt.

Deshalb darf man die auch gegen „Lebensschützer“, wenn sie selbsternannt sind (und das sind sie ja!), anwenden. Also, eigentlich nicht, wegen Rechtsstaat und so. Aber, keine Sorge, es sagt keiner was! Wir erinnern uns: gesellschaftliche Anerkennung. Und wenn trotzdem mal jemand was sagt, von wegen Gewalt, dann ist das einer von denen. Und damit passt er ins Feindbild und es kann losgehen: „Ja, ein bisschen Geschubse und schon wird rumgejammert! Aber [Genozid oder Krieg einsetzen] interessiert Dich nicht, was?! Nazi!“

Also: selbsternannter „Lebensschützer“. Nie war es so einfach, ein Feindbild zu haben.

(Josef Bordat)

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