Norwegen. Gewalt, wie sie im Buche steht?

23. Juli 2011


Im Kontext der Berichterstattung zu den Anschlägen in Norwegen tauchen immer wieder Bibelstellen auf, die das Gewaltpotential des Christentums belegen sollen. Dazu bedarf es einiger Erläuterung.

Ein christlicher Fundamentalist soll er gewesen sein, der Täter. Schon werden die entsprechenden Schubladen aufgemacht und in das übliche Pauschalieren mischt sich nur an einigen Stellen Besonnenheit, die aber vor allem in einer philologisch sauberen Analyse dessen bestünde, was längst zur Worthülse verkommen ist, die sich derart gut einprägt, dass sie selbst nicht mehr begründungspflichtig ist. Dass sie gar nicht begründungsfähig ist, fällt dabei planmäßig unter den Tisch: „christlicher Fundamentalismus“.

Vorbemerkung

Christlicher Fundamentalismus bedeutet, in den Diskurs eingestreut, dass da jemand bereit ist, Gewalt anzuwenden, um seinen Glauben zu vertreten. Christlicher Fundamentalismus bedeutet aber eigentlich, dass jemand bereit ist, sich zu den Grundlagen seines Glaubens durchzuringen und sich radikal in die Nachfolge Christi zu stellen, Gott, seinen Nächsten und seinen Feind zu lieben. Christen, die stark sind und deren einzige Waffe die Liebe ist, sind fundamentalistisch. Die Liebe ist ihre einzige Waffe, die mächtigste Waffe überhaupt, gerade weil es nicht ihre Waffe ist, sondern die Waffe Gottes. Die Heilige Schrift der Christen lehrt entsprechend Liebe und Friedfertigkeit. Nicht jedoch Gewalt. Oder?

Bibel – Quelle der Gewalt(akte)?

Ich beschränke mich zunächst einmal auf die drei Stellen aus dem Evangelium, die angeblich hinter Bluttaten wie dem jüngsten Doppel-Anschlag stehen. Ich werde versuchen, durch Kontextualisierung und sprachliche Analysen zu einer inhaltlichen Deutung zu gelangen, die nicht zwingend dazu (ver)führt, dass man annehmen sollte, ein bibeltreuer Christ müsse in letzter Konsequenz ein brutaler Gewalttäter sein.

Bibelstelle 1: Matthäus 5, 17-19

„Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. Amen, das sage ich euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist. Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich.“

Als Ouvertüre bietet sich diese Stelle an, wird doch hier die Beziehung zum „bösen“ Alten Testament von Jesus selbst hergestellt und dessen Geltungkraft bekräftigt.

Der Alte Bund, also das Gesetz und die Propheten, wird durch Christus tatsächlich nicht aufgelöst, sondern erfüllt. Richtig. Und wie erfüllt sich das Gesetz? In der Liebe! Woher weiß man das? Aus Mt 22, 34-40! Jesus sagt dort einem Pharisäer (also einem, der sich mit dem Gesetz auskennt), dass „das ganze Gesetz samt den Propheten“ am Doppel-Gebot der Gottes- und Nächstenliebe „hänge“, das eigentlich sogar ein Dreifachgebot ist: „…wie Dich selbst!“; die Liebe zum eigenen Dasein als Person – und damit Ebenbild Gottes – gehört dazu. Es hängt also ganz von der Liebe ab! Darin besteht die Erfüllung.

Wenn man Mt 5 weiterliest, merkt man, dass Jesus sehr schnell darauf zu sprechen kommt, dass Er sich (im Geist der Liebe) eine Gerechtigkeit wünscht, die über die Buchstaben des Gesetzes (die „Tüttel“, wie es bei Luther heißt) weit hinausgeht (vgl. Mt 5, 20). Doch wozu sich die Mühe machen und ein paar Verse weiter lesen, wenn die These „Jesus schreibt das alte System fort“ sich nach einem ausgesuchten Vers so schön zu bestätigen scheint?

Bibelstelle 2: Matthäus 10, 34-35 (entsprechend: Lukas 12, 51)

„Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“

Zunächst ist dabei – wie immer, wenn es um die Auslegung von Bibeltexten geht – der Zusammenhang der Rede zu beachten: Es geht um die kommende Verfolgung, die Jesus am eigenen Leib erfahren hat und die sich (bis heute) an seinen „Nachfolgern“ vollzieht (Mt 10, 16-25). Dann macht Jesus den Jüngern (und mit ihnen auch uns) Mut zum Bekenntnis – trotz dieser Verfolgungssituation. Christus gibt uns die Zusagen, dass Er zu denen halten wird, die zu ihm halten, ihm treu bleiben (Mt 10, 26-33). Und dann (in diesem Zusammenhang!) spricht Er vom „Schwert“ (Mt 10, 34; die Konkordanzstelle ist Lk 12, 51).

Sodann müssen wir uns den Begriff „Schwert“ genauer anschauen. An der Rede vom „Schwert“ lässt sich hervorragend die Differenz von wörtlichem und hermeneutischem Bibelverständnis aufzeigen, oder einfacher: der Unterschied zwischen einem Bild und dessen Bedeutung.

„Schwert“ könnte wörtlich gemeint ist: als Waffe. Man könnte meinen, Jesus fordere dazu auf: Wert Euch gegen Eure Verfolger, tötet sie (mit dem Schwert). Eine solche wörtliche Deutung läge nahe, wenn in allen Übersetzungen übereinstimmend vom „Schwert“ als Artefakt die Rede wäre. Ein Blick in die Gute Nachricht (GN) – eine deutsche Bibelübersetzung in klarer, einfacher Sprache – zeigt uns, dass dem nicht so ist: Dort steht „Streit“ (Mt-Stelle) bzw. „Entzweiung“ (Lk-Stelle). Auch in der Einheitsübersetzung (EÜ), aus der die oben angeführte Perikope entnommen ist, steht an der Lk-Stelle nicht „Schwert“, sondern „Spaltung“. Nur die Mt-Stelle in der EÜ enthält das Wort „Schwert“. Dort aber steht der gesamte Text (Mt 10, 16-39) unter dem Titel „Aufforderung zu furchtlosem Bekenntnis“, nicht etwa: „Aufforderung zum Waffengang“! Wir erinnern uns an die Bedeutung des Zusammenhangs (Punkt eins). Es geht beim „Schwert“ also offenbar um etwas anderes als um eine Waffe.

Es handelt sich um eine Metapher, d. h. „Schwert“ ist im uneigentlichen Sinn verwendet. Manchmal nehmen einem da die neueren Übersetzungen wie die GN die Deutungsarbeit dankenswerter Weise schon ab, aber auch in der Mt-Stelle aus der EÜ kann man die Bildhaftigkeit von „Schwert“ erkennen, einfach dadurch, dass man einen Vers weiter liest und Jesus selbst den Begriff ausdeuten lässt: „Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien“ – zu entzweien, nicht etwa: zu „erschlagen“!

Man kann aber auf den Bildcharakter von „Schwert“ an dieser Stelle kommen, indem man sich andere „Schwert-Stellen“ sprachlich und inhaltlich anschaut. Wir wissen ja, wie Jesus auf das tatsächliche Schwert, reagiert hat: Bei seiner Verhaftung – also in ärgster Verfolgungssituation! – sagt Christus nämlich sehr deutlich, was er vom Schwert als Hieb- und Stichwaffe hält: Nichts. Pack es wieder ein, Petrus. Wir wenden keine Gewalt an! (vgl. Joh 18, 10-11). Hier steht dann auch in der GN wieder „Schwert“, eben weil es ein Schwert ist. Es muss also das tatsächliche Schwert (des Petrus) vom theologischen Schwert (des Jesus) unterschieden werden. Sein „Schwert“ ist ein Bild, das „Spaltung“ bedeutet.

Spaltung und Streit – das hat sich ja bewahrheitet. Über keinen Menschen wird soviel gestritten, auch 2000 Jahren nach seinem irdischen Leben, wie über Jesus aus Nazareth. Und die Verfolgung derer, die zu ihm halten, reißt in der Tat Familien auseinander, heute mehr denn je.

Es geht hier aber wohl auch darum, ob die Stelle nur deskriptiv oder darüber hinaus auch normativ gemeint ist. Beschreibt Jesus in prophetischer Rede die Situation (durchaus richtig, wie auch 2000 Jahre danach zu erkennen ist) oder lässt sich daran gedanklich ein normatives „Und das ist auch gut so!“ anfügen? Also: Will Jesus nicht nur sagen, dass es Spaltung geben wird, sondern, dass er Spaltung will?

Man könnte freilich sagen, dass Jesus immer normativ spricht, insoweit als sich in seinem Reden der Wille Gottes ausdrückt. Doch auch Jesus benutzt ja, wenn es um Gebote und Weisungen geht, eine explizit normative Diktion. Die fehlt hier. Ich denke auch nicht, dass Jesus für uns Streit und Spaltung will, doch er will auch nicht, dass wir dem Streit ausweichen, nur weil der uns ungelegen kommt. Er selbst hat Konflikte durchgestanden – und wir sollen das auch.

Etwas ganz anderes ist es freilich, Streit zu suchen, vielleicht sogar mit dem Ziel des Martyriums. Das wäre der falsche Weg, auch Jesus sucht keinen Streit (er wird an Ihn herangetragen) und Er sucht auch nicht das Martyrium (Er bittet den Vater um Verschonung), doch beides nimmt Er an, denn es gehört zu Seiner Mission. Und damit auch zu unserer. Damit ist es wohl so, dass Jesus von uns fordert, Spannung und Spaltung zu ertragen, wenn es um den Kern dessen geht, der uns als Person ausmacht: um den Glauben. Geht es dabei um den Glauben an Christus, scheint dieser unmittelbar, ja geradezu konstitutiv an Verfolgung gebunden, weil Jesus selbst durch Verfolgung zum Christus wurde. Das hat aber alles überhaupt nichts mit angewandter, sondern mit erlittener Gewalt zu tun! Es geht Jesus nicht um Gewalt, die angewendet wird, sondern lediglich um Gewalt, die ertragen werden soll.

Bibelstelle 3: Lukas 19, 27

„Doch meine Feinde, die nicht wollten, dass ich ihr König werde bringt sie her und macht sie vor meinen Augen nieder!“

Ha – jetzt aber: Gewalt! In anderen (älteren) Übersetzungen heißt es gar: „Doch meine Feinde, die nicht wollten, dass ich ihr König werde, bringt sie her, und tötet sie vor meinen Augen.“ oder auch „Doch jene meine Feinde, die nicht wollten, dass ich über sie herrschen sollte, bringet her und erwürget sie vor mir.“

Dieser Vers stammt aus einem Gleichnis. Der „Ich“-Erzähler in dem Gleichnis ist ein „König“. Dieser kann mit dem verherrlichten Christus identifiziert werden, dem „Christkönig“, also dem Christus nach Seiner Rückkehr, dem Christus in der Funktion des Weltenrichters. Es spricht hier also nicht der historische Jesus zu den Jüngern und fordert sie zu einer konkreten Handlung auf, wie die Stelle – aus dem Kontext gerissen – suggeriert.

Wenn es in dem Gleichnis um den Christus-König geht, dann muss man dem Richter der Welt einen gewissen Entscheidungsspielraum zugestehen für den Umgang mit denen, die sich in ihrem Leben nicht von der Liebe, sondern vom Hass haben lenken lassen. Denn das sind die „Feinde“, die hier gemeint sind.

Dieses Gleichnis wird in einer emotionalisierten Stimmung erzählt (zuvor hatten viele gesehen, wie Jesus zu Zachäus, dem verhassten Zöllner, eingekehrt ist). Und Jesus erzählt denen, „die das alles miterlebt“ (Lk 19, 11; GN) hatten und nun meinten, das „Reich Gottes werde sofort erscheinen“ (Lk 19, 11; EÜ) dieses Gleichnis, in dem er sie mit deutlichen Worten davor warnt, in dieser Endzeiterwartung die Hände in den Schoß zu legen.

In den Gleichnissen wählt Jesus oft sehr drastische Bilder, weil Er (sicher zu Recht) meint, damit mehr Aufmerksamkeit erzielen, Verständnis erfahren und mehr Menschen auf die Spur zu Gott setzen zu können. Die vieldiskutierte „Gewaltsprache“ Jesu kommt denn auch nur in den Metaphern der Gleichnisse vor und auch nur, um die durch alltägliche Gewalterfahrungen blind und taub gewordenen Menschen (vgl. Mt 13, 13) auf die Wahrheit über die Gewalt und die Wahrhaftigkeit möglicher Auswege aus der Gewalt zu stoßen. Die Rede von Gewalt geschieht also um des Verständnisses der Zuhörer Willen („so wie sie es aufnehmen konnten“, vgl. Mk 4, 33).

Wenn es einmal nicht darum gehen soll, vom Christentum ein Schreckensbild zu zeichnen, bietet sich auch ein Blick in andere Übersetzungen an. In vielen Übersetzungen steht statt des „tötet sie“ bzw. „erwürget sie“, das eindeutig als Akt körperlicher Gewalt konnotiert ist, ein deutungsoffeneres „macht sie […] nieder“.

Aus Lukas 19, 27 eine grundsätzliche Disposition des Christentums zur Gewalt abzuleiten, ist absurd. Für mich steht fest, dass jeder, der meint, Gewalt mit Gott rechtfertigen zu können, dem wohl größtmöglichen Irrtum erlegen ist, dem ein Mensch überhaupt erliegen kann. Und wer meint, das damit begründen zu können, dass sich diese Rechtfertigung aus einer bestimmten Bibelstelle ergebe, übersieht den Ozean an anderen Bibelstellen, die dem widersprechen und die er damit eben gerade nicht ernst nimmt. Somit nimmt er die biblische christliche Botschaft insgesamt nicht ernst.

Schlussbemerkung

Ich finde es sehr problematisch, wenn im Zuge der Berichterstattung nun religiöse Menschen gleichermaßen und unterschiedslos als missbrauchsanfällig für Hass und Gewalt gelten, sowie und soweit man meint, ihrem Bekenntnis das Attribut „fundamentalistisch“ beistellen zu können. Dass die Bezeichnung „christlicher Fundamentalist“ dabei ironischerweise auf das Gegenteil dessen verweist, was man bedeuten will, wird die Mehrheit der Menschen in Europa nicht davon abhalten, bei entsprechender Etikettierung an Oslo und Utøya zu denken. Und das Etikett bekommt man schnell: als Lebensschützer, als jemand, der regelmäßig betet. Als Blogger.

Ich denke, dass es nur sehr wenige Menschen gibt, die aufgrund des Fehlverständnisses konkreter Bibelverse Gewalt anwenden, ich weiß aber, dass es viele gibt, die sich von der Gewaltlosigkeit, die Christus verkündete und lebte, inspirieren lassen. Viele von ihnen sind jetzt vor Ort und helfen den Opfern und Angehörigen.

(Josef Bordat)

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