Verrohung und Empfindlichkeit

30. Dezember 2015


Eine Jahresschlussbetrachtung

Mir fallen in diesen letzten Tagen des Jahres zwei sich widersprechende Dinge auf: 1. Menschen verrohen zusehends und entwickeln sich vom Zivilisationsstand zurück in den Naturzustand, in dem keine allgemeinen Normen gelten, sondern nur persönliche Werte (die aber dann gleich absolut und damit für alle anderen auch). 2. Menschen reagieren andererseits extrem empfindlich auf Anspielungen, Witze (unter die auch sehr schlechte fallen mögen), Bemerkungen – oft stellvertretend nach vorheriger Zuschreibung einer Opferrolle zu Personengruppen, die sich in der Sache noch gar nicht geäußert haben.

Nehmen wir mal an, meine Wahrnehmung ist korrekt – wie lassen sich diese Phänomene erklären? Einerseits: Warum reagieren Menschen heute so empfindlich? Warum konnte sich politische Korrektheit durchsetzen, auch dort, wo sie (vor allem auch aus Sicht der „Betroffenen“) lächerlich wird? Andererseits: Warum haben Menschen ziemlich konkrete Gewaltphantasien und setzen sie auch noch ungehemmt und ungefiltert in die Welt? Warum gehören Morddrohungen heute scheinbar in jede Diskussion, die den Anspruch auf Ernsthaftigkeit erhebt?

Letzteres – also die allseitige Veröffentlichung des Abgrunds – ist wohl auch eine technische Angelegenheit: Es ist heute so unfassbar leicht, (vermeintlich) ohne jedes Risiko Menschen zu bedrohen und seinen Hass loszuwerden und sich dann ein kleines bisschen besser zu fühlen. Aber warum überhaupt diese Abgründe? Jeder, der mal ein wenig herumkommt in der Welt (und sei es auch nur gedanklich) wird doch zugeben müssen, dass es uns – im Großen und Ganzen – nicht schlecht geht. Auch diejenigen, die Hasskommentare schreiben, haben a) Zugang zu einem Datenverarbeitungsendgerät und b) Zeit. Diese Kombination ist in weiten Teilen der Welt ein großer Luxus.

Also: Warum dieser Hass? Und: Warum gleichzeitig die Hysterie? Ich glaube: Weil wir allein sind (man sagt: individualisiert) und weil wir es verlernt haben, in größeren Sinnzusammenhängen zu denken, in die wir uns einbetten (meinetwegen auch gemütlich einmümmeln können). So sind wir gezwungen, unsere eigene Welt zu konstruieren. Störungen dieser Aufbauarbeit, die ja mit Unsicherheit behaftet ist (Habe ich den richtigen Bauplan für mein Leben?) werden viel niedrigschwelliger wahrgenommen als wenn sie in einem breiten Strom fester, ähnlicher Entschlüsse stattfände.

Zu Zeiten, als man eben ein evangelischer Bäcker war, hätte man Witze über evangelische Bäcker geduldig ertragen. Heute nicht mehr, weil heute beides vor dem eigenen Bewusstsein ständig zur Disposition steht: Glaube und Beruf. Man könnte ja auch anders leben! Es gibt so viele Optionen! Lebe ich richtig? Wer so denkt, für den ist jeder Witz ein Angriff auf die dünne Sinnskizze eines fragilen Lebensentwurfs. Wir bauen unser Haus. Wenn das Haus bereits fertig wäre, könnten wir darin Schutz suchen, wenn Farbbeutel gegen die Fassade geworfen werden. Stehen wir auf dem Gerüst und mauern noch, treffen sie uns, auch wenn die Farbbeutelwerfer das Haus meinen.

Und jetzt kommt der entscheidende Punkt: Empfindlichkeit hat sich offenbar von der Empfindsamkeit im positiven Modus abgekoppelt. Die Unsicherheit über das Eigene führt zur Aggression gegen das Andere. Verrohung der Sprache wird zum Kommunikationsprinzip. Der Mensch scheint damit gleichsam die verloren gegangene Gemeinschafterfahrung wiederbeleben zu wollen. Früher sang man gemeinsam „Großer Gott wir loben Dich“ und war zutiefst bewegt, ging für einen Moment in der Stimmung auf, konnte sich fallen lassen, sicher fühlen. Heute wird gemeinsam gemobbt. Facebook und Twitter sind die Kathedralen, der Shitstorm das gemeinsame Gebet. Lasset uns hetzen!

Es hat nun umgekehrt keinen Sinn, sich wieder feste, geschlossene Gemeinschaften zu wünschen. Das funktioniert ja auch nicht: Gerade in äußerlich sehr stabil wirkenden Sinnsystemen brodelt es und Angriffe führen zur Explosion. Sicherheit im Leben zu erlangen, meinetwegen auch: Glück, ist Aufgabe des Einzelnen. Doch seit es die Rede vom Einzelnen gibt (im weiteren Sinne seit der Frühen Neuzeit, im engeren Sinne seit den 1970ern), befinden sich die stützenden Gemeinschaften in der Krise (die Kirche durch die Reformation oder die Familie durch die Abwertung ihrer gesellschaftlichen Rolle).

Die Hilfe der Gemeinschaft (sei es im Kleinen die Familie oder im Großen die Kirche) stolz lächelnd abgewiesen zu haben, war wohl der Kardinalfehler des Individuums, wie uns die formvollendet fragmentierte Gesellschaft heute eindrucksvoll zeigt. „Allein!“ – das mag heroisch klingen. Ist am Ende aber nur armselig. Und führt offenbar in vielen Fällen zu mehr Empfindlichkeit und mehr Verrohung. Ich wünsche mir für das kommende Jahr, das beides abnehme. Gemeinschaften, die uns dabei helfen können, gibt es nach wie vor. Die Katholische Kirche ist eine davon.

(Josef Bordat)

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