Der (mit großem Abstand) klügste Kommentar zu meiner Person

4. Mai 2015


Ich erhalte viel Post, gerade in letzter Zeit. Nicht nur Standardserienbriefe mit „Weiter so!“-Durchhalteparolen vom Finanzamt, sondern auch individuell zugeeignete Expertisen über meinen körperlichen, seelischen und geistigen Allgemeinzustand. Gerade diese von Weisheit und Wohlwollen getragenen Augenöffner sind es, die in ihrer einzigartigen Diktion lange in Erinnerung bleiben. Ich meine, wann hat man schon mal die Chance, sein Leben von Grund auf erklärt zu bekommen.

„Hallo, Herr Bordat, ich hoffe, Sie haben sich ausgeheult. Ich hätte nicht vermutet, dass Sie ein Sensibelchen sind.“ Jaha, so kann man sich irr… – Halt! Der mit „null Ahnung“ war ja ich! Der Absender dieser netten Gesprächseröffnung hingegen weiß alles. Über mich. Wie wenig Ahnung ich dagegen habe (eben: „null“), wird mir klar, als ich die zielbewusste Analyse meiner Biographie mit meinen eigenen debilen Erinnerungen abgleiche. Ich lerne: „In der freien Wirtschaft haben Sie auch nie gearbeitet, nur lauter Stiftungen kirchlicher Natur.“ Das kommt zwar… im Fußball würde man sagen: überraschend, aber voreingenommen wie ich bin, wenn es um meine Biographie geht, habe ich tatsächlich einzugestehen, dass die Sache mit den „Stiftungen kirchlicher Natur“ gar kein schlechter Gedanke ist. Also, liebe „Stiftungen kirchlicher Natur“: Gebt mir eine Chance! Ich mein ja nur. Das wäre fast so schön wie endlich mal zu erfahren, wie frei die freie Wirtschaft wirklich ist.

Warum sich Menschen die Mühe machen, in ihrer Freizeit meine Biographie zu rekonstruieren? Vielleicht um die Fauler Drecksack hat von nichts eine Ahnung, davon aber jede Menge!-These empirisch zu erhärten. Und das geht mit meiner Biographie natürlich bestens. Also, wenn man die eine Hälfte weglässt und die andere kreativ reorganisiert. Aber das ist alles völlig in Ordnung. Wir haben schließlich Meinungsfreiheit. Und da hat am Ende jeder Recht. Im Grunde haben somit auch diejenigen Recht, die sagen, dass ich nur die tapferen Kritiker der sozialistischen Politik, die in Deutschland betrieben werde, mit aller Gewalt mundtot machen will, indem ich mich dagegen ausspreche, dass man ertrinkenden Menschen grundsätzlich jedes Mitgefühl verweigert. Völlig klar: Wer Einwände gegen die Auffassung hat, es sei moralisch geboten, jedes sinkende Flüchtlingsboot mit Jubelarien untergehen zu lassen, muss ja mindestens Kommunist sein. Oder „grüner Traumtänzer“.

Mindestens ebenso faszinierend ist es, wenn plötzlich im Raum steht: „Du bist natürlich der Auffassung, dass Windrädchen ökologisch sind.“ Es gibt zwar gewisse Theorien, die besagen, dass „am Ende des Tages“ (Karl-Heinz Rummenigge) irgendwie alles mit allem zusammenhängt, aber: „Windrädchen“? Ich ahne es! Sollte das an einer in einem Beispiel vorgenommenen und für die zu verdeutlichende Analogie völlig unerheblichen Konkretion liegen? Schließlich verdeutlichte ich unter Punkt 5 der inkriminierten Liste den Umstand, dass es höchst selten sinnvoll ist, Diskursteilnahme an die Fähigkeit zu binden, im Zweifel für sämtliche Folgen der diskursiv vertretenen Position aufkommen zu können, just am Politikfeld „Energieversorgung“. Wie ungeschickt! Gerade solch ein Reizthema wie Atomkraft in einem Beispiel zu verarbeiten (auch, wenn es bei der Analogie um etwas ganz anderes ging)! Ist doch klar, dass man a) gleich darauf anspringt (und dabei die eigentliche Aussage zu vergessen droht) und b) die gewünschte Zuschreibung vornimmt (freilich ohne jedes Urteil zu fällen): Bordat meint mit „er“ bestimmt „ich“. Und schon kann man völlig logisch folgern: „Du bist natürlich der Auffassung, dass Windrädchen ökologisch sind.“ Es ist manchmal so einfach.

Interessante Zwischenfrage: Was wäre gewesen, hätte ich eine andere politische Thematik als Aufhänger genutzt? Wenn ich zum Beispiel geschrieben hätte: „Ein Abtreibungsgegner kann auch nicht im Keller die Bettchen für alle Neugeborenen bereitstellen. Trotzdem darf er gegen Abtreibung sein.“ Die streng logische Folgerung lautet: „Sie sind natürlich gegen Brustkrebsscreening!“ Oder: Was wäre gekommen, hätte ich geschrieben, dass ein Gegner der Todesstrafe nicht in der Lage und/oder willens sein muss, alle Mörder dieses Landes bei sich „unterzubringen und zu verköstigen“? Vielleicht: „Klappe halten, PISA-Opfer!“ Ich weiß es nicht – wie so vieles zwischen Himmel und Erde.

Ich habe auch keine Antwort auf die Frage: „Und wer sind Sie, um über mich zu urteilen?“ Das werde ich trotzdem gefragt. Übrigens von derselben Person, die in ganz genau (ich habe nachgezählt) sechs kurzen Sätzen zuvor irritationsfrei Klarheit schafft über die Eckdaten meiner Ausbildung, meines beruflichen Werdegangs und meiner allgemeinen Reputation („Ich bleibe dabei, dass Sie recht naiv sind“). Zunächst mal bin ich nicht derjenige, der urteilt, sondern derjenige, der zitiert. Dass die Zitate über kurz oder lang ihr eigenes Urteil sprechen, das ist – mit Loriot – „fein beobachtet“. Nur liegt dies eben nicht an der Zitation, sondern an der Quelle. Aber wenn man bei nochmaliger Lektüre beginnt, sich für die eigenen Aussagen zu schämen (insoweit man sich eben über deren Zitation ärgert), ist vielleicht der erste Schritt in die richtige Richtung schon getan.

Sodann werde ich freundlich darauf hingewiesen, dass es wünschenswert wäre, wenn ich endlich meine persönliche Fehde zugunsten einer an der Sache orientierten Debatte zurückstellte. Ich meine, es ist schön, dass jemand, der mir „null Ahnung“ attestiert, mir gleichzeitig zutraut, überhaupt etwas zur Sache sagen zu können. Hilfreich ist da vielleicht eine Orientierung am Duktus des Kommentators, dessen sieben stichhaltige Sachargumente der Reihe nach lauten: 1. „Ich hoffe, Sie haben sich ausgeheult.“ 2. „Ich hätte nicht vermutet, dass Sie ein Sensibelchen sind.“ 3. „Ich kann mich nicht erinnern, Mahomedaner mit Ihrer Kultur bestellt zu haben.“ 4. „So viele Drogenhändler brauchen wir nicht.“ 5. „Ja genau, Gutmensch. Von nix ne Ahnung, davon aber sehr viel und ganz laut die Klappe aufmachen und die anderen für eigenen Irrsinn blechen lassen.“ 5.1 „Schnabel halten.“ 6. „Wen man einsperren soll, bist du, und zwar in einer Irrenanstalt mit Zwangsbildung in Physik und Ökonomie.“ 7. „PISA-Opfer.“ Wenn das nicht migrationspolitische Expertise ist, die sich ins kollektive Bewusstsein der Zivilgesellschaft brennen sollte. Wegen ihrer strengen Orientierung an der Sache.

Also: Ich entschuldige mich, auch im Namen von Jobo72’s Weblog, in aller erdenklichen Form für den aus meiner abgrundtiefen Unfähigkeit erwachsenen Lapsus, in Formulierungen wie „So viele Drogenhändler brauchen wir nicht“ oder „Wen man einsperren soll, bist du, und zwar in einer Irrenanstalt mit Zwangsbildung in Physik und Ökonomie“ keine durch Sachargumente gut begründete Position erkannt zu haben, sondern – etwas anderes. Ich meine: Das muss ich mir für die nächste Tagung merken. „Warum, Bordat, meinen Sie wirklich, dass der Pflichtbegriff bei Kant…“ – „PISA-Opfer wie Dich, die ganz laut die Klappe aufmachen und die anderen für eigenen Irrsinn blechen lassen, sollte man einsperren, Jürgen!“ – „Ach, so. Und ich dachte schon: Irgendwas mit Leibniz. Danke!“ – „Noch Fragen? Dann kommen wir zum nächsten…“ – Es klappt! So kann ich dann auch meine unverkennbar schwächelnde Bildung in „Ökonomie und Physik“ (kürzlich kam noch „Mathematik“ hinzu) reibungslos überspielen. Davon abgesehen: Ich freue mich natürlich, wenn Kommentatoren so rücksichtsvoll sind, meine Lücken in Arabisch (mündlicher Ausdruck), Rhythmische Sportgymnastik und Schönschrift sittsam zu verschweigen. Nicht verschwiegen wird die Leitlinie des eigenen Handelns, vorgestellt in einem Lateinisch gehaltenen Ausdruck, den ich (noch eine Bildungslücke: Latein) so verstehe, dass alles, was man tut, in Christus gründen möge. Also, auch Facebook-Kommentare, Mails und Beiträge im Forum. Sollte ich jemals drei Wünsche frei haben, liebe Feen dieser Welt, so lautete Wunsch eins: „Definiere ‚Kognitive Dissonanz‘!“

Wer jetzt meint: „Der Bordat hat Langeweile und denkt sich das alles aus.“, kann gerne zum Lichtbildervortrag „Screenshots als gerichtsfestes Beweismittel“ kommen. Ort und Zeit werden rechtzeitig bekannt gegeben. Nein, nein – ich habe mindestens so wenig Langeweile wie Ahnung. Insoweit schlage ich für die Zukunft folgendes vor: Sie, die Sie mit der Gnade aufgewachsen sind, kreativ mit Begriffen wie „sachlich“ oder „Urteil“ umzugehen, Sie, die Sie genau wissen: „Das ist Ihr Leben!“, Sie, die Sie mir so gerne schreiben, sollen das weiterhin tun. Und mich dadurch entlasten.

Das geht wie folgt: Alle, die mir eine „Affinität zum herrschenden Zeitgeist der neomarxistischen Politischen Korrektheit und Mutlikulti-Ideologie“ zubilligen oder (Version für Ingenieure) mich für einen „rot-grünen Schwachmaten“ halten und alle, die meinen, ich sei ein „homophober Nazi“, weil ich nicht will, dass behinderte und alte Menschen künftig keine Daseinsberechtigung mehr haben, schreiben mir Dienstags. Am Mittwoch sind die Atheisten dran, die wissen wollen, warum ich „immer noch“ an Gott glaube, wo es doch die Fraunhofer-Gesellschaft gibt. Donnerstags sind humorlose Menschen gefragt, die sich darüber beschweren, dass es bei mir manchmal auch humorvoll zugeht. Und Freitags ist Platz für Nachrichten aus der „freien Wirtschaft“. Am Wochenende ist Bundesliga. Voilà! Wer bereit ist, dabei seinen Namen zu nennen, schreibt am 29. Februar. Die Eingaben werden ohne Anerkennung einer Rechtspflicht honorarfrei und zeitnah veröffentlicht. Va bene?

Ach, so: Montags! Tja. Immer dieser Mon… ich weiß: Montags machen wir den Wettbewerb Dinge, die Bordat nicht kann. Mathe, Physik und BWL sind schon weg – jetzt sind Sie dran! Sie schicken mir Listen mit drei bis sieben Fachgebieten. Dabei muss – etwas mehr Anspruch als die Rätsel-Woche sollte schon sein – der Anfangsbuchstabe eines Fachgebiets der Endbuchstabe des vorangegangenen Begriffs sein (Beispiel: „Byzantinistik“ – „Klinische Kardiologie“ – „Elektrotechnik II für Sozialpädagogen (Master)“ – „Radiologie“ usw.). Zu gewinnen gibt es nichts. Immer noch besser als Dreimal zwei Eintrittskarten für das WM-Qualifikationsspiel Moldawien gegen San Marino. Prämiert wird hingegen in einer neuen Rubrik die Zuschrift mit dem höchsten Wert auf der nach oben offenen Skala virtueller Klugheit (Arbeitstitel: „Tor des Monats“). Also: Leser machen Programm. Und ich kann endlich mal tun, was ich wirklich kann: Nichts.

(Josef Bordat)

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