Und noch etwas: Was ist Parlament eines demokratischen Rechtsstaates?

Der Völkermord an den Armeniern, dessen Beginn sich am 24. April zum hundertsten Male jährt, soll bei der Gedenkstunde im Deutschen Bundestag nicht „Völkermord“ genannt werden. Wie die Vertreibung und Ermordung von etwa 1,5 Millionen Armeniern sonst bezeichnet werden könnte, weiß ich nicht (vielleicht als „Vertreibung und Ermordung von etwa 1,5 Millionen Armeniern“).

Rein gefühlsmäßig passt „Völkermord“ ganz gut zu dem Umstand, dass von der „Vertreibung und Ermordung“ ein Großteil der Armenier betroffen war und sich der türkische Innenminister Talât Pascha bereits im August 1915 ebenso euphorisch wie erleichtert zeigte: „Die Armenierfrage wurde gelöst.“

Aber um Gefühle geht es hier nicht. Jedenfalls nicht nur. Was ein „Völkermord“ ist, wurde in der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes (1951) definiert. Danach begeht Völkermord, wer Gewalt anwendet, „in der Absicht, eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihr Volkstum bestimmte Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“.

Die rasche und einstimmige Verabschiedung der UN-Völkermordkonvention durch die damals schon in Blöcke gespaltene Weltgemeinschaft stand unverkennbar unter dem Eindruck der Shoa. Die Shoa, die systematische Vernichtung der Juden (1942-45), ist ein besonders dramatisches Beispiel für Völkermord, so dass für einen Moment selbst zwischen Amerikanern und Russen Einigkeit in der Beurteilung der Geschichte herrschte.

Doch die Shoa ist nicht der erste Völkermord der Geschichte. Als Raphael Lemkin, der die UN-Völkermordkonvention entwarf, 1944 den Begriff „genocide“ prägte, war er sich bewusst, dass es sich um „a new term for an old crime“ handelt. Ethnisch motivierte Massenmorde in genozidaler Absicht gab es schon immer.

Meiner Meinung nach ist der Völkermord an den Armeniern der zweite Völkermord des 20. Jahrhunderts – den ersten begingen die Deutschen an den Herero (Mbandu), bei dem sie 1904 rund 80 Prozent der Ethnie auslöschten (75.000 Tote).

Und es gibt Völkermorde bis in unsere Tage, etwa den Völkermord an den Timoresen (200.000 Tote) durch die Indonesier in den Jahren 1975 bis 1979 sowie den Völkermord an den Tutsi (800.000 Tote, 75 Prozent der Ethnie) durch die Hutu in Ruanda (1994).

Dass es sich bei den Massakern an der armenischen Bevölkerung in der Türkei um einen Völkermord handelt, ist in der Geschichtswissenschaft praktisch unbestritten. Einzig die Türkei selbst sträubt sich gegen die Einschätzungen zu Quantität und Qualität der Gräueltaten.

Doch soll sich der Deutsche Bundestag davon beeindrucken lassen? Derselbe Deutsche Bundestag, der als Gesetzgeber das Leugnen des Völkermords an den Juden unter Strafe stellte? Jener Deutsche Bundestag, dessen Mitglieder vom deutschen Volk gewählt wurden, von Menschen also, denen sonst vor allem abverlangt wird, sich der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands bewusst zu sein?

Wenn das Parlament eines demokratischen Rechtsstaates einen Völkermord nicht „Völkermord“ nennen will, dann stellt sich die Frage, ob man dieses Parlament eines demokratischen Rechtsstaates „Parlament eines demokratischen Rechtsstaates“ nennen soll. Es wäre besser, man ließe es nicht auf die Antwort ankommen.

(Josef Bordat)