Der Eklat um die Rede des Papstes. Ein Lehrstück in Sachen Freiheit und Vernunft

6. Februar 2008


Text eines Vortrags, gehalten am 05.02.2008 im Männerfokolar (Berlin)

I. Einleitung

Zunächst mal ein herzliches „Danke schön!“ für die Einladung, hier zu Ihnen über ein Thema sprechen zu dürfen, das mir unter den Nägeln brennt: Der Eklat um die nicht gehaltene Rede des Papstes vom 17.01.2008 und was damit zusammenhängt.

Wir können über die Angelegenheit auf drei Ebenen sprechen.

1. Der Eklat um die Rede des Papstes hat zunächst eine historische Dimension, nämlich die Beurteilung des Galilei-Prozesses, dessen nahmen sich schon diverse Publizisten an, etwa Ed Dellian[1] oder Zander[2], der sich in einem Artikel auf ZENIT.org[3] zu Wort meldet.

2. Dann hat er eine aktuelle Dimension, nämlich die Beurteilung des Papstes im Hinblick auf seine Rechtfertigung dieses Prozesses mit Paul Feyerabend im Jahre 1990 und die jetzige Reaktion einiger Wissenschaftler der Sapienza auf diese Rechtfertigung, also der ganze Eklat um die geplante, aber nicht gehaltene Rede des Papstes Mitte Januar[4].

3. Schließlich hat er eine grundsätzliche, wenn man so will, zeitlose Dimension, nämlich der Streit um das Verhältnis von Religion und Wissenschaft im Ringen des Menschen um Erkenntnis, der Streit um die Vernunft und die methodisch richtige und angemessene Wahrheitssuche, ein Thema, mit dem ich mich seit Jahren intensiv auseinandersetze bzw. immer wieder gezwungen bin, mich auseinander zu setzen, als jemand, der meint, seine Wahrheit aus beiden Quellen entnehmen zu können, aus Religion und Wissenschaft, und beiden Formen der Daseinsvergewisserung eine je eigene unaufhebbare Bedeutung beizumessen, dem Denken und dem Glauben. Dass es bei dieser Verhältnisbestimmung auch um Freiheit geht, wird deutlich werden.

Also, drei Diskursebenen, die sich freilich an vielen Stellen berühren, die aber dennoch zunächst einmal getrennt werden sollten. Ich will mich insbesondere auf die letzte einlassen, weil diese auf lange Sicht die interessanteste ist.

II. Der Eklat

Ich fange aber mal mit dem Eklat an. Was also war passiert?

Die größte und älteste Universität Roms trägt den Namen La Sapienza („Weisheit“). Deswegen (oder dennoch) hielt es der Rektor für angebracht, zur Eröffnung des akademischen Jahres Papst Benedikt XVI. einzuladen, eine Lectio Magistralis zu halten. Ursprünglich zum Thema Todesstrafe und dem, was der Papst dort angesiedelt sieht: die Abtreibung. Eine Initiative von 67 Physikern der Sapienza protestierte: Rom ist nicht mehr die Hauptstadt des Kirchenstaats, die Autonomie der Universität sei gefährdet, und Papst Benedikt benutze die Göttin Vernunft als trojanisches Pferd, um in die Zitadelle der wissenschaftlichen Erkenntnis einzudringen.

„Im Namen der Laizität der Wissenschaft und der Kultur“, so heißt es in einem Brief vom 23. November 2007, „sowie voller Respekt vor unserem Athenäum, das für Dozenten und Studenten jeden Bekenntnisses und jeder Ideologie offen ist, wünschen wir, das das unziemliche Ereignis des Papstbesuches noch annulliert werden kann“.

Anders als sein Vorgänger stehe dieser Papst für wissenschaftlichen Obskurantismus und habe den Prozess gegen Galilei 1990, als er noch Kardinal Josef Ratzinger hieß und Chef der Glaubenskongregation war, als völlig normales wissenschaftliches Prozedere verteidigt, ja, ihn sogar als gerecht und vernünftig bezeichnet.[5]

Mal ganz abgesehen davon, dass man diesem Urteil durchaus zustimmen kann, wenn man etwa Zanders Artikel liest, der Galilei blinde, rücksichtslose Überheblichkeit und kranke Selbstüberschätzung vorwirft, seinen Widersachern Bellarmin und Urban VIII. dagegen Wohlwollen bescheinigt und außerdem Galileis angeblich neues Fernrohr – methodischer Dreh- und Angelpunkt der empirischen Astronomie – als Plagiat entlarvt, wenn man bedenkt, dass auch der gesamte Protestantismus gegen Galilei war (von Luther bis Melanchthon) und der Vatikan unter einem immensen Druck stand, wenn man also den Prozess in seinem historischen Umfeld bewertet, nicht mit den Augen von heute und wenn man schließlich das bedenkt, was Benno Kirsch über den Fall schrieb: „Denn bei der Frage nach dem Verhältnis zwischen Glauben und Vernunft und wie beides miteinander in Einklang zu bringen sei, handelt es sich geradezu um das Lebensthema von Benedikt XVI. Anzunehmen, ausgerechnet dieser Mann, ein Wissenschaftler von Format, könne sich wissenschaftsfeindlich geäußert haben, ist abwegig.“[6], ganz abgesehen davon also, ob man Ratzinger/Benedikt folgt oder nicht, sollte man doch zur Kenntnis nehmen, dass Ratzinger damals nur den österreichischen Wissenschaftsphilosophen Paul Feyerabend[7] zitiert hatte, und zwar mit den Worten:

„Die Kirche zur Zeit Galileis hielt sich viel enger an die Vernunft als Galilei selber, und sie zog auch die ethischen und sozialen Folgen der Galileischen Lehren in Betracht. Ihr Urteil gegen Galilei war rational und gerecht, und seine Revision lässt sich nur politisch-opportunistisch rechtfertigen.“[8]

Ratzinger hatte also lediglich Paul Feyerabend zitiert. Und jemanden ausladen zu wollen, nur weil er Feyerabend zitiert hat, dass geht nun gar nicht bzw. macht die Akteure schon sehr verdächtig. Da waren scheinbar ausschließlich Methodenabsolutisten[9] am Werk, die nicht für die ganze Uni sprachen, wie sich anlässlich vieler Soli-Demos zeigte! Für den Tag der Rede, den 17.01.2008, wurden aber erst einmal Tumulte erwartet an der Uni, die wohl besser in „Ignoranza“ umbenannt werden sollte, wie Benno Kirsch anmerkte. Angesichts dessen sagte der Vatikan die Rede ab. Der Papst blieb fort, seine Lectio wurde aber verlesen.

III. Die Rede des Papstes

Was sagt der Papst eigentlich bzw. was wollte er sagen? Was wurde verlesen? Vorweg: Die Papst-Rede war doch nicht so wissenschaftsfeindlich wie zuerst angenommen. Sie handelte von Toleranz und vom vernunftgeleiteten Streit der Fakultäten um die Wahrheit.

Ein Teil der Linken, darunter Romano Prodi und Roms Bürgermeister Walter Veltroni, solidarisierten sich darauf mit dem Papst, und die Physiker sahen sich dargestellt als Pontifex-Knebler. Die italienischen Bischöfe mobilisierten zu einer Kundgebung für die „Vernunft und die Kraft des Dialogs“. Die Zeitungen waren voll mit Bildern von den Zigtausenden, die für den Papst demonstrierten, darunter auch, das sollte man sagen, viele Studierende und Lehrende der Sapienza. Zum Angelusgebet am 18.01. kamen 200.000 Menschen.

Alexander Smoltczyk schrieb auf Spiegel Online: „Der Papst als neuer Galilei! Als Opfer einer laizistischen Inquisition. Die Antiklerikalen hatten exakt das Gegenteil von dem erreicht, was sie wollten.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

Außer vielleicht einer kurzen Darstellung der wichtigsten Botschaften des Papstes. Es geht in der Rede um Vernunft, Wahrheit und Weisheit.

Der Heilige Vater sieht seinen Auftrag im Hinblick auf das universitäre Leben darin, „die Sensibilität für die Wahrheit wach zu halten; die Vernunft immer neu einzuladen, sich auf die Suche nach dem Wahren, nach dem Guten, nach Gott zu machen und auf diesem Weg die hilfreichen Lichter wahrzunehmen, die in der Geschichte des christlichen Glaubens aufgegangen sind und dabei dann Jesus Christus wahrzunehmen als Licht, das die Geschichte erhellt und den Weg in die Zukunft zu finden hilft“.

Die Ausgangslage ist dabei folgende: „Wir sehen es heute sehr deutlich, wie der Zustand der Religionen und wie die Situation der Kirche, ihre Krisen und ihre Erneuerungen aufs Ganze der Menschheit einwirken. So ist der Papst gerade als Hirte seiner Gemeinschaft immer mehr auch zu einer Stimme der moralischen Vernunft der Menschheit geworden. Hier ergibt sich freilich sofort der Einwand, dass der Papst eben doch nicht wirklich von der moralischen Vernunft her spreche, sondern seine Urteile aus dem Glauben beziehe und daher keine Gültigkeit für diejenigen beanspruchen könne, die diesen Glauben nicht teilen.“ Und die Universität? Die Rolle der Universität bestimmt Benedikt im Rückgriff auf eine Philosophietradition, die Mythos durch Logos ersetzte und in Sokrates ihren Anfang nahm. Dabei heftet sich die christliche Religion an den Logos, nicht an den Mythos: „In diesem Sinn kann man das Fragen des Sokrates als den Impuls sehen, aus dem die abendländische Universität geboren wurde. […] In dieser scheinbar unfrommen Frage, die bei Sokrates freilich aus einer tieferen und reineren Frömmigkeit, aus der Suche nach dem göttlichen Gott kam, haben die Christen der ersten Jahrhunderte sich und ihren Weg wiedererkannt. Sie haben ihren Glauben nicht positivistisch aufgenommen, nicht als Ausweg unerfüllter Wünsche, sondern als den Durchbruch aus dem Nebel der mythologischen Religion zu dem Gott verstanden, der schöpferische Vernunft und zugleich Vernunft als Liebe ist. Deswegen war das Fragen der Vernunft nach dem größeren Gott und nach dem, was der Mensch wirklich ist und soll, für sie nicht eine bedenkliche Form von Unfrömmigkeit, sondern gehörte zum Wesen ihrer Weise der Frömmigkeit. Sie brauchten daher das sokratische Fragen nicht aufzulösen oder beiseite zu schieben, sondern durften, ja mussten es aufnehmen und das Ringen der Vernunft um Erkenntnis der ganzen Wahrheit als Teil ihrer eigenen Identität erkennen. So konnte, musste im Raum des christlichen Glaubens, in der christlichen Welt die Universität entstehen.“ Also nicht nur Kreuzzüge, Schwertmission und Hexenwahn, auch die Universität bildet einen Kristallisationspunkt christlicher Geschichte.

Ganz grundsätzlich stelle sich die Frage: Was ist Vernunft? Benedikt fragt: „Wie weist sich eine Aussage – vor allem eine moralische Norm – als vernünftig aus?“, um darauf mit Rawls eine Antwort zu geben: „An dieser Stelle möchte ich vorerst nur ganz kurz darauf hinweisen, dass John Rawls, obwohl er umfassenden religiösen Lehren den Charakter der „öffentlichen“ Vernunft abspricht, in deren „nicht öffentlicher“ Vernunft immerhin Vernunft sieht, die ihren Trägern nicht einfach im Namen einer säkularistisch verhärteten Rationalität abgesprochen werden dürfe. Ein Kriterium dieser Vernünftigkeit sieht er unter anderem darin, dass solche Lehren aus einer verantworteten und doktrinellen Tradition heraus stammen, in der über lange Zeiträume hinweg hinreichend gute Gründe für die jeweilige Lehre entwickelt wurden. An dieser Aussage erscheint mir wichtig, dass die Erfahrung und Bewährung über Generationen hin – der historische Fundus menschlicher Weisheit – auch ein Zeichen ihrer Vernünftigkeit und ihrer weiter reichenden Bedeutung ist. Gegenüber einer ahistorischen Vernunft, die sich nur in einer ahistorischen Rationalität selber zu konstruieren versucht, ist die Weisheit der Menschheit als solche – die Weisheit der großen religiösen Traditionen – als Realität zur Geltung zu bringen, die man nicht ungestraft in den Papierkorb der Ideengeschichte werfen kann.“ Und damit schließt sich der Kreis im Hinblick auf die eingangs erwähnte Aufgabe des Papstes: „Der Papst spricht als Vertreter einer gläubigen Gemeinschaft, in welcher in den Jahrhunderten ihres Bestehens Weisheit des Lebens gereift ist; als Vertreter einer Gemeinschaft, die zumindest einen Schatz an moralischer Erkenntnis und Erfahrung in sich verwahrt, der für die ganze Menschheit von Bedeutung ist: Er spricht in diesem Sinn als Vertreter moralischer Vernunft.“

Sodann geht es um das Verhältnis von Wissen und Wahrheit: „Der Mensch will erkennen – er will Wahrheit. Wahrheit ist zunächst eine Sache des Sehens, des Verstehens, der theoría, wie die griechische Tradition es nennt. Aber Wahrheit ist nie bloß theoretisch. Augustinus hat in seiner Zuordnung der Seligpreisungen der Bergpredigt und der Geistesgaben von Jes 11 scientia und tristitia aufeinander bezogen: Bloßes Wissen, so meint er, macht traurig.“ Denn: „Wahrheit meint mehr als Wissen: Die Erkenntnis der Wahrheit zielt auf die Erkenntnis des Guten. Das ist auch der Sinn des sokratischen Fragens: Was ist das Gute, das uns wahr macht? Die Wahrheit macht uns gut, und das Gute ist wahr: Dies ist der Optimismus, der im christlichen Glauben lebt, weil er des Logos, der schöpferischen Vernunft ansichtig geworden ist, die sich in der Menschwerdung Gottes zugleich als das Gute, als die Güte selbst gezeigt hat.“ Wer Wissen und Wahrheit entkoppelt muss zur Kenntnis nehmen, dass er damit den Sinn von Wissenschaft verfehlt (und den von Religion sowieso): „Die Gefahr der westlichen Welt – um nur davon zu sprechen – ist es heute, dass der Mensch gerade angesichts der Größe seines Wissens und Könnens vor der Wahrheitsfrage kapituliert. Und das bedeutet zugleich, dass die Vernunft sich dann letztlich dem Druck der Interessen und der Frage der Nützlichkeit beugt, sie als letztes Kriterium anerkennen muss.“ Von der Wahrheit kommt Benedikt zurück zur Vernunft: „Was ist Wahrheit? Und wie erkennt man sie? Wenn man dafür auf die „öffentliche Vernunft“ verweist, wie Rawls es tut, dann folgt unausweichlich noch einmal die Frage: Was ist vernünftig? Wie weist sich Vernunft als wirkliche Vernunft aus? Jedenfalls wird von da aus sichtbar, dass andere Instanzen in der Suche nach dem Recht der Freiheit, nach der Wahrheit des rechten Miteinander zu Gehör kommen müssen als Parteien und Interessengruppen, deren Bedeutung damit nicht im mindesten bestritten werden soll.“ Auch hier wieder ein Seitenhieb auf die, die seine Ausladung forderten, von der er freilich zum Zeitpunkt der Erstellung seiner Rede nicht wusste: „Aber wenn die Vernunft aus Sorge um ihre vermeintliche Reinheit taub wird für die große Botschaft, die ihr aus dem christlichen Glauben und seiner Weisheit zukommt, dann verdorrt sie wie ein Baum, dessen Wurzeln nicht mehr zu den Wassern hinunterreichen, die ihm Leben geben. Sie verliert den Mut zur Wahrheit und wird so nicht größer, sondern kleiner. Auf unsere europäische Kultur angewandt heißt dies: Wenn sie sich nur selbst aus ihrem Argumentationszirkel und dem ihr jetzt Einleuchtenden konstruieren will und sich aus Furcht um ihre Säkularität von den Wurzeln abschneidet, von denen sie lebt, dann wird sie nicht vernünftiger und reiner, sondern zerfällt.“ Dem ist nun wirklich nichts mehr hinzuzufügen.

IV. Religion und Wissenschaft im Ringen um die Vernunft. Und was das mit Freiheit zu tun hat

Was bedeutet der Eklat um den Papst und der Inhalt der Rede Benedikts für den Diskurs um Religion und Wissenschaft im Allgemeinen? Zur Verdeutlichung: Der Fall Sapienza ist ja nur ein besonders exponierter, medienwirksamer Skandal, weil daran der Papst persönlich beteiligt war. Das Problem liegt indes tiefer.

Was wir da vorgeführt bekamen war ein Lehrstück in Sachen Freiheit, vor allem aber in Sachen Vernunft. Wie wir diese Begriffe künftig deuten, welche Antworten wir auf die Frage Was ist Wahrheit? künftig geben, das wird zeigen, ob wir wirklich die Lehre gezogen haben, aus der Papst-Posse des Januar 2008.

Nur zwei Gedanken über die Bedeutung dieses Eklats.

1. Der Eklat zeigt zunächst (Stichwort Freiheit): Die Meinungsfreiheit ist in Gefahr, zu deutlich prägt sich die Wortführerschaft der reduktionistischen Wissenschaft einer Gesellschaft auf, die zu wenig auf den „Streit der Fakultäten“ vorbereitet ist. In ihr hat die reflektierte Religion zu wenig Rückhalt, nicht die unreflektierte Religiosität – die blüht überall! Es gab mal eine Zeit des fruchtbaren Austausches, des Dialogs, bei dem man die Position des anderen zwar in der Sache bekämpft hat, aber diese Position ernst nahm und gelten ließ. Ganz im Sinne des Toleranzgedankens der Aufklärung, den Voltaire (ich glaube in einem Brief an Rousseau) zum Ausdruck gebracht hat mit den Worten: „Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst.“ Diesen Umgang scheinen Teile der Wissenschaft heute verlernt zu haben. Da werden eigene Positionen absolut gesetzt, mit dem Ergebnis, dass die Forschungsfreiheit, die Religionsfreiheit, aber auch ganz allgemein die Meinungsfreiheit auf dem Spiel steht. Der Diskurs um Evolution und Schöpfung ist hier ein besonders beredtes Beispiel. Da wird eine Theorie (die von der Evolution) schnell mal zur Tatsache und das Leugnen des hinter Selektion und Mutation vermuteten Zufallsprinzips gilt als obszön – Maßnahmen, den Glauben an die Schöpfung in Europa unter Strafe zu stellen (analog zur Holocaustleugnung) sind vorerst zwar gescheitert, aber die Debatte zeigt, wohin wir gekommen sind.

2. Der Eklat zeigt weiterhin (Stichwort Vernunft): Die Vernunft wird in diesem Klima auf die Wissenschaft beschränkt, Religion gilt prima facie als unvernünftig. Es geht dabei um nichts anderes als um die Deutungshoheit im Blick auf Welt, Mensch und Gesellschaft, es ist der scheinbar unversöhnliche Kampf zweier Deutungsmuster: Wissenschaft und Religion.

(1) Das naturalistische Welt- und Menschenbild der Wissenschaft (besser: das ist Teilen der Wissenschaft vorherrschende naturalistische Welt- und Menschenbild) ersetzt Zweck und Sinn durch Zufall, wendet sich gegen die Historizität von Kultur, negiert die integrative Rolle der Religion (wie sie ihr die Religionssoziologie seit Durkheim zuschreibt – zumindest das: funktionalistisch wertvoll zu sein!) und entbindet den depotenzierten, animalisierten und materialisierten Menschen von seiner transzendentalen Sehnsucht, indem sie diese als pathologisch charakterisiert, auch wenn ihr 90% der Menschen heute immer noch anhängen. Also, meine Damen und Herren, wir sind alle „krank“!

Das wäre lustig, erwüchsen daraus nicht konkrete ethische Probleme, den Lebensbeginn, die Lebensvollzüge und das Lebensende betreffend, die in den nächsten Jahren in der EU normiert werden müssen, eine Weichenstellung mit Folgen, für Europa vergleichbar mit der konstantinischen Schenkung. Es geht um weit praktischeres als um das richtige Verständnis des Begriffs Wahrheit: Es geht um die Meinungsführerschaft in der politischen Öffentlichkeit, letztlich um Macht und Geld.[10] Religion ist dabei der Wissenschaft im Weg, insbesondere die katholische Kirche, mit ihrem altmodischen Welt- und Menschenbild („Beim menschlichen Leben verbietet sich jede utilitaristische Sicht; menschliches Leben ist unendlich wertvoll, an und für sich, von Anbeginn bis zum Tod.“), das zudem noch dualistisch ist („Der Mensch hat eine Seele.“) und das die Heiligkeit des Menschen auf die Geschöpflichkeit zurückführt (Ebenbild, Abbild Gottes) und immer wieder seine Abhängigkeit von Gott, dem Schöpfer betont.

(2) Man merkt hier schon, welche Bereiche besonders betroffen sind: Es geht um Evolutionsbiologie, es geht um Genforschung, um Biotechnologie, um Hirnforschung, um die Medizin. Es geht von der Wiege bis zur Bahre um die Frage: Was ist der Mensch? Wie muss ich mit ihm umgehen? Dass sich hinsichtlich der Anthropologie und der Ethik Wissenschaft und Religion nicht in einem Kiergegaardschen Entweder-Oder zueinander verhalten, sondern dass es hier um sich ergänzende Modi menschlicher Selbstvergewisserung und Daseinsorientierung geht, möchte ich zum Schluss klarstellen.

Wer Wissenschaft und Religion, Denken und Glauben gegeneinander ausspielen will, ist blind für den Umstand, dass Religion und Wissenschaft, eingedenk ihres jeweilig spezifischen Erkenntnisinteresses, etwas ganz anderes meinen, wenn sie vom Menschen sprechen, dass Offenbarungswissen und Beweiswissen, Glaubenswahrheit und Wissenswahrheit auf unterschiedliche Dimensionen des menschlichen Bewusstseins zielen.[11] Ein Naturwissenschaftler, der den empirisch bestimmten Aussagerahmen seines Forschungsgebiets überschreitet, unterliegt ebenso dem fatalen Irrtum der Selbstüberschätzung wie der Vertreter einer Glaubenslehre, der die heiligen Schriften seiner Religion als Laborprotokolle liest. Das Menschsein lässt sich nur in der Komplexität eines Vernunftbegriffs des sowohl, als auch von Religion und Wissenschaft vollständig durchdringen, weil es eben selbst so komplex und vielschichtig ist, dass eine einzige Perspektive nicht ausreicht, um das Ganze in den Blick zu bekommen.[12]

(3) Nicht zuletzt Ratzinger respektive Benedikt hat sich stets als Anwalt einer fakultätsübergreifenden Vernunft erwiesen.[13] Zum Verhältnis der Philosophie zur Theologie sagte er in seiner Rede bzw. wollte er sagen: „[Ihnen ist] die Suche nach dem Ganzen des Menschseins und so das Wachhalten der Sensibilität für die Wahrheit aufgetragen. Man könnte geradezu sagen, dass dies der bleibende, wahre Sinn beider Fakultäten ist: Hüter der Sensibilität für die Wahrheit zu sein, den Menschen nicht von der Suche nach der Wahrheit abbringen zu lassen.“ So sind wir „unterwegs mit den großen Ringenden und Suchenden der ganzen Geschichte, mit ihren Antworten und ihrer über jede einzelne Antwort immer neu hinweisenden Unruhe für die Wahrheit.“ Und: „Die Philosophie muss wirklich Suche der Vernunft in ihrer Freiheit und ihrer eigenen Verantwortung bleiben; sie muss ihre Grenze und gerade so auch ihre eigene Größe und Weite sehen. Die Theologie muss dabei bleiben, dass sie aus einem Schatz von Erkenntnis schöpft, den sie nicht selbst erfunden hat und der ihr vorausbleibt, nie ganz von ihrem Bedenken eingeholt wird und gerade so das Denken immer neu auf den Weg bringt. Die Philosophie beginnt nicht immer neu vom Nullpunkt des einsam denkenden Subjekts her, sondern sie steht im großen Dialog der geschichtlichen Weisheit, die sie kritisch und zugleich hörbereit immer neu aufnimmt und weiterführt; sie darf sich aber auch nicht demgegenüber verschließen, was die Religionen und was besonders der christliche Glaube empfangen und der Menschheit als Wegweisung geschenkt haben.“ Und schließlich: „Die Gefahr ist, dass die Philosophie sich ihre eigentliche Aufgabe nicht mehr zutraut und in Positivismus abgleitet; dass die Theologie mit ihrer an die Vernunft gewandten Botschaft ins Private einer mehr oder weniger großen Gruppe abgedrängt wird.“

Man kann hier „Philosophie“ durchaus im klassischen Sinne als „Wissenschaft schlechthin“ betrachten oder die Wissenschaften, die aus der Philosophie hervorgegangen sind, insbesondere die Naturwissenschaften, an die Stelle der Philosophie setzen, dann hat man das Problem und die Gefahr auf das Verhältnis von Religion und Wissenschaft, wie es heute mehrheitlich gesehen wird, zugeschnitten.

(4) Und dann, damit möchte ich schließen, hat sich Benedikt in seiner jüngsten Enzyklika Spe salvi[14] der besonderen Aufgabe der Religion gewidmet, welche die Wissenschaft nicht erfüllend übernehmen kann, nämlich: Trost zu vermitteln und Hoffnung auf das kommende Heil zu geben. Man könnte zwar sagen, eine sinn- und zweckfreie Wissenschaft hat diesen Anspruch gar nicht, aber es werden doch mit dem in Aussicht gestellten Fortschritt Sehnsüchte angesprochen, die traditionell in den Bereich religiöser Metaphern fallen: moralische Besserung, Erlösung von Schmerz, Schöpfung.

Schöpfung? Ja, auch die. Denn die Ablehnung der Schöpfungsmetapher bezieht sich nur auf die Erschaffung der Welt, gleichzeitig erfolgt die Inanspruchnahme des Schöpfungsbegriffs für den Menschen (Genomforschung), verbunden mit einer Instrumentalisierung menschlichen Lebens (Stammzellenforschung), das ja nun, einmal seiner Heiligkeit beraubt, nach Nutzenerwägungen rein funktionalistisch ausgeschlachtet werden kann. Die Selbsterlösungsrhetorik und die Tendenz zur Enttabuisierung anthropogener Schöpfungsvorstellungen sind gefährlich.

Benedikt geht in Spe salvi zurück an den Anfang neuzeitlicher Wissenschaft und benennt Francis Bacon als den Ursprung einer menschlichen Selbstüberschätzung, die bei allem Fortschritt statt Rettung und Heil vielmehr drohende Zerstörung anzubieten hat, weil sie den Menschen nicht auf dem ihm in der Schöpfungsordnung zugedachten Platz belassen will. Die Waage kippt dabei umso stärker in Richtung negativer Konsequenzen, je mehr sich der Mensch von Gott abwendet, je mehr er sich als Wissenschaftler gottgleich wähnt.

Der Heilige Vater stellt fest: „Der Mensch kann nie einfach nur von außen her erlöst werden. Francis Bacon und die ihm folgende Strömung der Neuzeit irrten, wenn sie glaubten, der Mensch werde durch die Wissenschaft erlöst. Mit einer solchen Erwartung ist die Wissenschaft überfordert; diese Art von Hoffnung ist trügerisch. Die Wissenschaft kann vieles zur Vermenschlichung der Welt und der Menschheit beitragen. Sie kann den Menschen und die Welt aber auch zerstören, wenn sie nicht von Kräften geordnet wird, die außerhalb ihrer selbst liegen. Umgekehrt müssen wir auch sehen, daß das neuzeitliche Christentum sich angesichts der Erfolge der Wissenschaft in der Entwicklung der Gestaltung der Welt weitgehend auf das Individuum und sein Heil zurückgezogen hatte. Es hat damit den Radius seiner Hoffnung verengt und auch die Größe seines Auftrags nicht genügend erkannt, so Großes es auch weiterhin in der Bildung des Menschen und in der Sorge um die Schwachen und Leidenden getan hat.“ Schließlich kommt der Papst zu dem Urteil: „Nicht die Wissenschaft erlöst den Menschen. Erlöst wird der Mensch durch die Liebe.“[15]

Anmerkungen:

[1] Ed Dellian: Die Rehabilitierung des Galileo Galilei, oder Kritik der Kantischen Vernunft. Sankt Augustin 2007.

[2] Hans Conrad Zander: Kurzgefassten Verteidigung der Heiligen Inquisition. Gütersloh 2007.

[3] Hans Conrad Zander: Warum die Inquisition im Fall Galilei Recht hatte.

[4] Die Papst-Rede.
Aus dieser Veröffentlichung sind alle Zitate in Teil III des Vortrags entnommen.

[5] In einem Vortrag in Parma mit dem Titel „Die Krise des Glaubens in der Wissenschaft“.

[6] Benno Kirsch in „Wer ist hier wissenschaftsfeindlich?“ auf seinem Blog „Naturalismuskritik. Gegen die Reduktion menschlicher Existenz auf Materie“.

[7] Paul Feyerabend ist neben Thomas Kuhn und Karl Popper einer der wichtigsten Wissenschaftstheoretiker des 20. Jh. Bekannt wurde er durch seinen wissenschaftstheoretischen Anarchismus, den er mit dem Slogan anything goes zusammenfasste. Nach Feyerabend lassen sich keine universellen und ahistorischen wissenschaftlichen Methoden formulieren, produktive Wissenschaft müsse vielmehr Methoden nach Belieben verändern, einführen und aufgeben dürfen. Zudem gebe es keine allgemeinen Maßstäbe, mit denen man verschiedene wissenschaftliche Methoden oder Traditionen bewerten könne. Keine Theorie sei demnach objektiv wahr oder falsch.

[8] Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang. Frankfurt 1976, S. 206.

[9] Das Problem ist ja, dass viele naturalistische Wissenschaftler genau das tun, was sie den Religionen gegenüber kritisieren: sie verabsolutieren ihre Methode zur ewigen Wahrheit und immunisieren sich damit gegen Kritik. Und dann entsteht ein Klima der Arroganz und Ignoranz gegenüber der Geschichte und gegenüber anderen Formen und Methoden der wissenschaftlichen Arbeit, die eben nicht ausschließlich empirisch orientiert sind. Ich komme auf den Verlust, den diese methodische Reduktion auf das Beobachtbare in sich trägt, später noch zurück.

[10] Dazu passt folgendes Zitat: „Bemerkenswert ist schon, wie sehr manche Atheisten darum bemüht sind, ihre vermeintlich wissenschaftliche Weltdeutung politisch zu verallgemeinern. Eine solche Tendenz zeigt sich nicht nur in den genannten aktuellen Publikationen, sondern auch in atheistischen Verbänden. Obwohl ihre Mitgliederzahlen äußerst begrenzt sind, beanspruchen sie dennoch für sich einen exklusivistischen Gestaltungsauftrag und erheben im Namen der Wissenschaft eine naturalistische und atheistische Weltanschauung zur Norm. Dagegen muss sehr deutlich gesagt werden: Von den ,Folgelasten der Toleranz’ (Jürgen Habermas) kann auch das ungläubige Bewusstsein nicht entlastet werden.“ (Reinhard Hempelmann: Intoleranter Atheismus. In: Materialdienst 1/2008, Monatszeitschrift der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen).

[11] Am Beispiel von Evolution/Schöpfung habe ich das an anderer Stelle verdeutlicht.

[12] Für die Hirnforschung habe ich das hier ausgeführt.

[13] Wie man es nicht anders von einem ehemaligen Hochschullehrer und Konzilstheologen erwarten kann, stellt sich Ratzinger/Benedikt seit Jahrzehnten den Diskussionen um das Verhältnis von Religion und Wissenschaft, Kirche und Staat. So traf er 2004 Jürgen Habermas zu einem Streitgespräch in der Katholischen Akademie München. Das Gespräch sollte insbesondere die Notwendigkeit möglicher „vorpolitischer moralischer Grundlagen“ der Demokratie aus dem Geist der Religion thematisieren. Also: Lebt der moderne Rechtsstaat von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann (Böckenförde-Diktum) und liefert die Religion dazu das nötige vorpolitische Kontrollorgan (Ratzinger) oder gelingt es dem demokratischen Staat, allein mit säkularer Vernunft seine Normativität aus sich selbst heraus zu begründen (Habermas)? Die Argumentation im Verlauf der Diskussion geht aber weit über die Frage hinaus und betrifft allgemein das Verhältnis von Glaube und Vernunft bzw. Religion und Wissenschaft. Die Stellungnahmen sind nachzulesen in der Zeitschrift der Akademie (zur debatte, Nr. 1/2004).

[14] Der Wortlaut der Enzyklika Spe Salvi vom 30.11.2007 kann hier gefunden werden.

[15] Vgl. dazu auch meinen Beitrag vom 06.12.2007 auf „kath-info Das Portal zur katholischen Geisteswelt“.

(Josef Bordat)

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