Kirche im Milieu

6. Mai 2010


Die katholische Kirche hat es heutzutage schwer. Vor allem in Berlin.

Im Fußball gibt es die Redensart, dass die Spieler, wenn sie zu der siegreichen Mannschaft gehören wollen, dahin gehen müssen, „wo es wehtut“. Gemeint sind die Zweikämpfe und das Spiel mit Haken und Ösen auf engstem Raum vor dem Tor, dort, wo gezupft und gezerrt wird, wo es aber gleichwohl auf Präsenz und Aufmerksamkeit ankommt, wenn man erfolgreich sein will.

Für die Kirche ist Berlin dieser Strafraum. Hier wimmelt es von hartnäckigen Gegnern, von „Hedonisten“, „Konsum-Materialisten“, „Experimentalisten“ und „DDR-Nostalgischen“.

Diese Begriffe, die sich für die einen wie ein Lob ihrer Lebensweise, für die anderen wie unverschämte Beleidigungen anhören mögen, sind die offiziellen Milieubezeichnungen der Heidelberger Marktanalysten vom Institut „Sinus Sociovision“, die seit den 1980er Jahren so genannte Zielgruppenforschung betreiben und dazu die Bevölkerung in soziale Milieus einteilen, damit die Kunden (bislang vor allem Parteien, Verbände und Unternehmen) wissen, mit wem sie es zu tun haben.

Seit einigen Jahren macht sich die katholische Kirche diese soziologische Grundlagenforschung zunutze, um die Menschen in Ostdeutschland und in der Hauptstadt Berlin, die sich ihr zu über 90% nicht (mehr) zugehörig fühlen, zum einen besser verstehen und zum anderen „zielgruppenspezifisch“ ansprechen zu können. Denn während weltliche Einrichtungen angesichts vorherrschender „Problem-Milieus“ den Rückzug antreten würden, schließt der universalistische Sendungsauftrag der Kirche es aus, Menschen oder Menschengruppen aufzugeben.

Im Gegenteil: Sie muss, um ihrem Anspruch gerecht zu werden, auf Menschen, die ihr fern stehen, zugehen. Schon Jesus hat „fremde Milieus“ erschlossen, indem er auf einzelne Menschen zuging und sie dort abholte, wo sie standen. Kirche als der Raum, in dem sich die unterschiedlichsten Menschen begegnen können, ist von Beginn an als „Einheit in Verschiedenheit“ angelegt. Die Einheit einer solchen Kirche besteht damit, so der Theologe Lob-Hüdepohl, in der „Eindeutigkeit ihrer Sendung und nicht in der Einheitlichkeit ihrer Mitglieder“.

So weit, so gut. Doch damit wagt die Kirche einen Spagat zwischen Tradition und Moderne, bei dem es darauf ankommt, zwischen Ritual, Intellekt und Experiment zu balancieren, sich zu öffnen, ohne für alles offen zu werden, neue Formen und Haltungen zu erproben, ohne kirchliches, i. e. christliches Profil gänzlich verschwimmen zu lassen. Es muss deutlich werden, dass es Grenzen der Anpassung an den Zeitgeist gibt, die dort liegen, wo die Substanz des Glaubens, das christliche Menschenbild, in Frage gestellt wird.

Pluralität zu bündeln, ohne in Beliebigkeit zu fallen, das ist die berühmte „Quadratur des Kreises“. Dabei muss der Blick auf das Ergebnis gerichtet sein, wobei „Ergebnis“  nicht das zahlenmäßige Auf und Ab der Ein-, Aus- und Rücktritte meint,  sondern das, was verkündigt wird und was „am Ende des Tages“ ankommt. Fest steht: Eine Antinomie zum Glaubensaxiom „Liebe“ um des Zuspruchs einer Gesellschaft willen, der diesen Universalschlüssel menschlichen Miteinanders systematisch missversteht, ist nicht hinnehmbar.

Die Kirche vertritt unbequeme Wahrheiten, und das sollte sie auch künftig tun. Im Zweifel: Ohne Rücksicht auf Verluste an gesellschaftlichem Prestige und Mitgliedern. Denn: Wahrheit ist eine Frage des Lebensentwurfs. Eine Kongruenz mit günstigen Umfragewerten ist dabei nicht immer garantiert. Das sollte sie nicht kümmern, die Wahrheit.

Natürlich ist es unangenehm, von einer Gesellschaft zunehmend systematisch geächtet und dabei von Menschen beurteilt zu werden, die – trotz oder wegen des Internets – in Kirchen- und Religionsfragen wohl noch nie so schlecht informiert waren. Es ist besonders unangenehm, unzählige sachliche Fehler in Zeitungsartikeln vorzufinden (von zahllosen unsachlichen Zuspitzungen ganz zu schweigen). Es ist – das können Sie mir glauben – ebenfalls unangenehm, ständig dumme Sprüche vom Kirchenportal wischen zu müssen, den Briefkasten mit Böllern bestückt und die Haustüre eingetreten zu bekommen (Ich bin froh, dass ich nicht in einer Synagoge lebe, sonst hätten wir ständig das BKA im Haus – von nervtötenden Lichterketten ganz zu schweigen!). Es ist auch (immer noch) etwas unangenehm, regelmäßig beschimpft und/oder bespuckt zu werden, sobald man in Berlin als Katholik erkennbar ist, und im übrigen dem Verdacht zu unterstehen, man sei ein oligophrener „Kinderficker“, der mit seinem täglichen Terror gegen Frauen, Juden und den Rest der Welt einer „kriminellen Vereinigung“ dient, die – Achtung! – „den Menschen mit dem Klingelbeutel den letzten Cent aus der Tasche zieht“ (so in einer „Analyse“ zur Lage der Kirche – wortwörtlich). Das ist alles sicher unangenehm, aber es darf nicht kleinmütig machen.

Ein weiteres hängt damit zusammen: Religiöse Gemeinschaften sind keine Kegelclubs, in die man eintritt, weil man einmal die Woche raus will aus den eigenen vier Wänden. Und der religiöse Glaube ist kein Hobby, das man aufgibt, wenn man was spannenderes gefunden hat. Die katholische Kirche war nie, ist nicht und wird vermutlich auch in Zukunft nicht die Instanz sein, welche die Bedürfnisse aller Menschen gleichermaßen erfüllen kann. Darum sollte es ihr auch nicht gehen, denn das ist nicht ihr Auftrag. Die Kirche, so der Religionsphilosoph Romano Guardini, erfüllt keine Bedürfnisse, sie feiert Geheimnisse.

Dennoch ist es wichtig und richtig, den Menschen diese Geheimnisse wieder näher zu bringen. „Lebensweltliche Pastoral“ nennt Lob-Hüdepohl das. Ich sag mal so: Ein hartes Stück Arbeit.

(Josef Bordat)

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