Zweierlei Opfer

14. August 2014


Es scheint immer noch schwer, sich Christen als Opfer vorzustellen. Es sind schlicht die falschen Opfer, die, mit denen keine Quote zu machen ist. Exotisch klingende Ethnien treffen hingegen zielsicher den Betroffenheitsnerv der modernen Mehrheitsgesellschaft, die exotisch klingende Ethnien gerne verklärt, weil es exotisch klingende Ethnien sind. Christen hingegen kennt man. Zum Teil sogar persönlich. Nichts besonderes. Kein Vergleich zu Tibet. Sich Christen als Gewalttäter vorzustellen, fällt hingegen leicht. Dazu reichen ein paar Stichworte: Kreuzzüge, Inquisition, Hexenverbrennung, Bush, Nordirland, neuerdings auch Missbrauch. Auch, wenn den Nutzern die genaue Bedeutung dieser Schlagwörter nicht immer klar zu sein scheint. Kaum jemand weiß etwa, dass gerade durch die Arbeit der Inquisition der Hexenwahn in katholischen Gefilden wie Rom und Spanien zur Marginalie wurde. Noch viel weniger wissen, dass der Erste Kreuzzug heute selbst von den Grünen, gemessen an deren Argumentation zum Kosovo-Krieg, als Humanitäre Intervention eingestuft werden müsste.

Doch was soll’s: Die schillernde Strahlkraft der unverstandenen Kampfbegriffe reicht aus, um sich Christen als Opfer ein für alle mal aus dem Kopf zu schlagen. Auch dann, wenn sie verfolgt werden. So, wie derzeit im Nahen und Mittleren Osten. So, wie seit rund einem Vierteljahrhundert weltweit. Seit dem Zusammenbruch der bipolaren Ordnung tobt nämlich eine globale Christenverfolgung epochalen Ausmaßes, der bereits mehrere Millionen Christen zum Opfer fielen. Bis zu 250 Millionen Christen erleiden derzeit erhebliche Nachteile wegen ihres Bekenntnisses. Sie werden in den Medien diskreditiert und diffamiert. Sie werden in der Schule verlacht und verspottet. Sie werden am Ausbildungsplatz bedrängt und belästigt. Sie bekommen keine Arbeit und werden bei der Vergabe öffentlicher Ämter benachteiligt. Einige von ihnen werden vergewaltigt, verhaftet, versklavt, gefoltert und ermordet. Jedes Jahr sterben über 100.000 Christen, weil sie Christen sind. Klar, andere Menschen sterben auch infolge religiöser Gewalt. Doch Christen sind zu weit über 90 Prozent Opfer und zu weit unter 1 Prozent Täter religiös motivierter Gewalt.

Obwohl jeder zehnte Christ auf Erden Opfer von Verfolgung ist, obgleich im Nahen und Mittleren Osten in den letzten zehn Jahren bereits hunderttausende Christen vertrieben wurden und derzeit weitere zehntausende Christen vertrieben werden, wachten Medien und Politik erst Anfang der Woche auf, als es auch die Jesiden traf. Plötzlich bewegt sich was, nein: sehr viel. Man berät über militärische Hilfe und Interventionen. Für die Jesiden. Man rettet. Jesiden. Man berichtet über Rettungsaktionen. Gerade heute wurden 80.000 Jesiden gerettet. Das ist wunderbar, ich freue mich. Auch darüber, dass im Schatten der Jesiden-Rettung vielleicht auch die eine oder andere christliche Familie profitiert. Und vielleicht sogar gerettet wird. Obwohl das nicht vorgesehen ist. Denn man kam für die Jesiden. Und schließlich freue ich mich darüber, dass eine engagierte Ordensfrau in geradewegs heiligem Zorn die herrschende Doppelmoral anprangert. Leider lesenswert.

(Josef Bordat)

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