Das Gewissen in der Lebensschutzethik

24. September 2014


Die Evangelische Kirche verweigerte sich einer Unterstützung des Marsch für das Leben – mit dem Hinweis auf das Gewissen der Frau. Im idea-Magazin heißt es zur Begründung: „Der Unterschied [der Position der Evangelischen Kirche zur Position des Bundesverband Lebensrecht als Veranstalter des Marsch für das Leben, J.B.] bestehe darin, dass die [Evangelische, J.B.] Kirche dafür eintrete, die Gewissensentscheidung einer Frau im Schwangerschaftskonflikt zu achten.“ Dies hatte der Pressesprecher der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Volker Jastrzembski, auf Anfrage von idea erklärt.

Auch ich hatte ja von der Möglichkeit gesprochen, zwar nicht ein Recht auf Abtreibung zu bestimmen (das geht nicht), gleichwohl aber der Frau eine Gewissensentscheidung zuzugestehen, wenn es um eine Abtreibung geht (Punkt 3). Ich möchte also noch einmal auf den Begriff des Gewissens im Zusammenhang mit der Entscheidung für eine Abtreibung zu sprechen kommen, so, wie ich ihn verstehe – in der Hoffnung, die Evangelische Kirche versteht ihn ähnlich.

1. Recht und Gewissen

Es begegnet einem oft die Vorstellung, dass entweder eine objektive Norm zu gelten hat oder aber das subjektive Gewissen völlig freigelassen wird. Also, entweder scheint zu gelten: „Deus lo vult!“ (oder, weniger religiös konnotiert: „Basta!“) oder aber es gilt scheinbar: „Tu, was Du willst!“

Das aber ist ein Zerrbild sowohl von Freiheit und Selbstbestimmung als auch von Wahrheit, Vernunft und Normativität. In Wirklichkeit beziehen sich Norm und Gewissen sehr eng aufeinander. Gewissen und Norm sind in einem aufeinander einwirkenden Aneignungs-Hervorbringungs-Prozess kulturell, sozial und individualpsychologisch so eng verwoben, dass wir oft gar nicht wissen, ob wir tatsächlich autonom handeln oder doch nur dem folgen, was andere (Menschen oder Institutionen) als „Selbstbestimmung“ verkaufen, und uns damit ebenso einem heteronomen Gebot unterwerfen – Motto: „Jetzt sei mal gefälligst ungehorsam!“

Das gilt unabhängig von der konkreten Person oder Institution, auf die wir „hören“. Das „grand Autre“ (Lacan) kann also der große Kegelbruder sein oder die Römisch-Katholische Kirche. Das kann der Bundespräsident sein oder die Ökologisch-Demokratische Partei. Meistens ist es – wenn wir lange genug darüber nachdenken, wird das klar – die eigene Mutter. Sagt auch Lacan.

2. Das irrende Gewissen – Gewissensbildung

Auch der Prozess der moralischen Emanzipation (zum Beispiel von der Mutter) verlangt dieses Wechselspiel von Gewissen und (zur Norm der Mutter konkurrierenden) Normen. Man nennt diesen Prozess Gewissensbildung.

Das Gewissen ist zwar die höchste Instanz der Entscheidung, aber es kann irren. Der Punkt ist nun der, dass man es einem Menschen nicht übel nehmen kann, wenn er sich trotzdem an seinem Gewissen orientiert. Sagt Thomas von Aquin. Und seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil sagt das auch die Katholische Kirche.

Es ist jedoch die Pflicht einer Einrichtung, die normativ auf Menschen einwirkt (und das tun der Staat, aber auch die Kirchen, die Katholische wie auch die Evangelische), dem Gewissen Orientierung zu geben, es zu bilden. Dazu gehört zunächst, es auf die prinzipielle Irrtumsanfälligkeit hinzuweisen. Dazu gehört aber auch, inhaltliche Vorgaben zu machen. Das göttliche Gebot Du sollst nicht töten ist im Falle der Abtreibung solch eine Vorgabe, die zeigt, dass sich das Gewissen einer Frau, die sich als Ergebnis der inneren Reflexion entschließt, eine Abtreibung vornehmen zu lassen, im Irrtum befindet.

Ich halte dennoch das Strafrecht für den falschen Ort und Strafverschärfung (oder überhaupt: Strafe) für den falschen Hebel, wenn das Rechtsbewusstsein der Mehrheit der Menschen so sehr abweicht, dass gar nicht mehr eingesehen wird, warum der Gesetzgeber meint, ein bestimmtes Verhalten sei strafwürdig. Auch das Verhältnis von Rechtslage und Rechtsbewusstsein ist freilich eines der Wechselwirkung und Bildung. Ich halte das Gespräch über Abtreibung für ein Thema der Ethik.

3. Bewusstsein und Beratung

Wir brauchen ein anderes moralisches Bewusstsein. Abtreibung gilt ja heute vielen Menschen als nachträgliche Verhütungsmethode (als ein „Wegmachen“) und nicht als das, was es objektiv ist: die Tötung eines Menschen im embryonalen Entwicklungsstadium. Und wir brauchen mehr Beratung. Beides bedingt sich in der Praxis wechselseitig, so wie sich in der Theorie Norm und Gewissen wechselseitig bedingen. Nur durch Beratung (um nicht Aufklärung zu sagen) kann dieses Bewusstsein entstehen, nur in diesem Bewusstsein kann Beratung gelingen.

4. Bedingungen der Möglichkeit einer Verantwortungsübernahme

Das Gewissen ist zwar die höchste Instanz der Entscheidung, in ihm sollte dem reflektierenden Menschen aber auch die Grenze dessen aufleuchten, was er überhaupt nur verantworten kann. Ich kann zum Beispiel eine Entscheidung, die a) Dritte betrifft und b) unumkehrbar ist, weit schwerer verantworten, als eine jederzeit reversible Entscheidung, die nur mich selbst betrifft.

Es gibt absolute Werte, deren Verletzung wir gar nicht verantworten können. Unser Gewissen kann insoweit nur ein Stück weit korrumpiert werden, derart, dass es zunächst die falsche Entscheidung treffen kann. Irgendwann wird es sich aber melden und die Unumkehrbarkeit der Entscheidung wird als epistemisch als Irrtum und ethisch als Schuld wahrgenommen.

5. Tragweite der Gewissensentscheidung

Eine Gewissensentscheidung, welche die Tötung menschlichen Lebens als eine Option sieht, betrifft Dritte, ohne diese zu beteiligen. Damit verlassen wir die klassische Situation der Gewissensnot, die sich im Menschen entwickelt, in einem Fall moralischer Entscheidungsfindung zwischen dem eigenen Subjekt und der objektiven Norm. Denn nicht nur das Subjekt hat die Konsequenz der Entscheidung zu tragen, sondern ein Dritter.

Hier ist freilich umstritten, welchen Schutz dieser Dritte genießt, wenn es sich dabei um den ungeborenen Menschen vor der 12. Woche seiner Embryonalentwicklung handelt – den unbedingten Würdeschutz (so sieht es die katholische Kirche, und auch das Grundgesetz ist so zu lesen – nach ungebrochener Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts) oder einen bedingten Würdeschutz (das ist de facto die gesellschaftliche Auffassung, obgleich die Rechtslage – sowohl verfassungs- als auch strafrechtlich – diese so nicht abbildet).

6. Zeitpunkt der Gewissensentscheidung

Ich wünsche mir, dass jede Frau zu dem Zeitpunkt eine Entscheidung vor dem eigenen Gewissen trifft, zu dem Dritte noch nicht betroffen sind. Idealerweise ist das die Entscheidung für oder gegen den Geschlechtsverkehr. Hier gilt in der Tat Selbstbestimmung und größtmögliche Freiheit.

Der Frau darüber hinaus eine Freiheit der Entscheidung zuzugestehen, heißt, sie ganz dem Gewissen zu überlassen. Das beinhaltet ein Vertrauen, welches nur dann gerechtfertigt ist, wenn man zuvor alles getan hat, dieses Gewissen zu bilden, und zwar, so man sich als Kirche auf die christliche Ethik verpflichtet sieht, im Sinne der Gebote Gottes und der moralischen Wahrheit, die uns durch die Vernunft gegeben ist.

7. Gewissensentscheidung und Toleranz

Letztlich wird man aber einer Frau, die ihr Kind töten lassen will, bevor es das Licht der Welt erblicken kann, diese Entscheidung weder abnehmen noch ausreden können. Man sollte sie darin zwar nicht bestärken (und darum auch keinen Beratungsschein ausstellen), man sollte stattdessen ihr Gewissen bilden, es dann aber – so sehr es auch irrt – in seiner Entschiedenheit achten.

Das heißt: Wenn es die Frau am Ende der Beratung zum Leben, nach angebotener Hilfe und klarer Darstellung dessen, was sie gerade zu entscheiden hat, doch zu der Entscheidung „Abtreibung“ drängt, dann kann und soll, ja, dann muss man diese Entscheidung tolerieren, also: erdulden, erleiden, ertragen. Nicht: gut heißen, befördern, zur Norm selbst erheben. Aber: tolerieren. Etwas anderes gibt weder unsere Rechtsordnung, noch die christliche Morallehre her. Letztere verpflichtet uns auf die Liebe. Und die wird sie brauchen, die Frau.

(Josef Bordat)

 

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