Vergebung

21. April 2013


Daniel Cohn-Bendit hat den Theodor-Heuss-Preis erhalten, begleitet von heftiger Kritik. Diese hatte sich bereits im Vorfeld an dessen früheren Aussagen über Intimitäten mit Kindern entzündet. Cohn-Bendit nutzte die Preisverleihung, um sich von seinen damaligen Äußerungen zu distanzieren. Rückendeckung erhielt er vom Baden-Württembergischen Ministerpräsidenten Kretschmann, der meinte, man müsse vergeben können.

Das ist richtig. Vergebung ist gut und wichtig. Doch was genau sollen wir vergeben? Dass Cohn-Bendit ideologisch verblendet war? Gerne! Dass er Dinge schrieb, die heikel sind? Meinetwegen auch das! Dass er sich von den Äußerungen distanziert, dass es ihm Leid tut, sie je in dieser Weise gemacht zu haben, nicht aber von den Sachverhalten, die dort beschrieben werden? Um zu entscheiden, ob hier Vergebung ohne weiteres möglich ist, käme es darauf an, in Erfahrung zu bringen, was genau er schrieb und welchen Charakter der Text hat.

Schauen wir hin. Cohn-Bendit schreibt über seine Zeit als Erzieher in einem Kindergarten: „Es ist mir mehrmals passiert, dass einige Kinder meinen Hosenlatz geöffnet und angefangen haben, mich zu streicheln. Ich habe je nach den Umständen unterschiedlich reagiert, aber ihr Wunsch stellte mich vor Probleme. Ich habe sie gefragt: ,Warum spielt ihr nicht untereinander, warum habt ihr mich ausgewählt und nicht andere Kinder?‘ Wenn sie darauf bestanden, habe ich sie dennoch gestreichelt.“

Cohn-Bendit schreibt dies alles nicht als Fiktion, als ein mögliches „Ideal“ sexueller Befreiung, also: als rein theoretisches Konstrukt gedanklicher Arbeit eines Erziehers unter dem Eindruck der 68er-Ideologie, sondern als biographischen Fakt. Es steht in seinen 1975 veröffentlichten Memoiren, erschienen unter dem Titel Der große Basar. Das heißt: Es handelt sich um die Beschreibung von Erinnerungen. Es ist offenbar tatsächlich so gewesen. Daniel Cohn Bendit hat sich von Kindergartenkindern unsittlich berühren lassen und diese Berührungen erwidert. Nicht in therapeutischer Absicht, sondern im Rahmen einer erotischen Kontextualisierung. Daniel Cohn Bendit hat somit nach eigener Aussage sexuelle Handlungen an Kleinkindern vollzogen bzw. an sich vollziehen lassen.

Weiter schreibt er: „Da hat man mich der ,Perversion‘ beschuldigt. Unter Bezug auf den Erlass gegen ,Extremisten im Staatsdienst‘ gab es eine Anfrage an die Stadtverordnetenversammlung, ob ich von der Stadtverwaltung bezahlt würde. Ich hatte glücklicherweise einen direkten Vertrag mit der Elternvereinigung, sonst wäre ich entlassen worden.“ Nicht nur, dass sich Cohn-Bendit diskreditiert sieht und beleidigt den Unverstandenen mimt, nicht nur, dass die Sorge um den eigenen Job vor jede Reflexion über das eigene Verhalten tritt, nein, besonders pervers ist der Hinweis darauf, er, Cohn-Bendit, habe sie „dennoch gestreichelt“, wenn sie „darauf bestanden“ hätten, so, als habe er nur mitgespielt, in einem Spiel, dessen Regeln die Kinder autonom aufstellen und denen er, der Erzieher, sich beugt, widerwillig, gerade so, als sei er, Cohn-Bendit, das eigentliche Opfer der Situation. Im Ergebnis sieht er die Angelegenheit nicht als sexuellen Missbrauch, zumindest nicht der Kinder, sondern als Ergebnis eines willentlichen Sexualkontakts.

Dazu ist zu sagen: Ein Kind kann nicht selbstbestimmt in eine sexuelle Handlung einwilligen, ein einvernehmlicher Kontakt kann insoweit nicht zustande kommen. Darüber besteht unter Pädagogen weitgehend Konsens. Deswegen ist der sexuelle Kontakt zwischen Erwachsenen und Kindern in jedem Fall untersagt und (für den Erwachsenen) strafbewehrt, auch, wenn das Kind um Sex bettelt. Zu suggerieren, dem Kind beim sexuellen Kontakt quasi die Führung überlassen zu haben, ist die eigentliche Unverschämtheit dieser Schilderung, weil es den Gedanken an Missbrauch völlig verdrängt. Wenn Cohn-Bendit der Meinung war, dies zu können, zeugt das von einer dramatischen pädagogischen Fehlleistung, die ihn als Erzieher disqualifiziert.

Immer wieder ist Cohn-Bendit in den letzten Jahrzehnten aufgefordert worden, die Sache klarzustellen und auf die Frage, ob es zu unsittlichen Berührungen kam, eindeutig zu antworten. Bis heute bleibt Cohn-Bendit diese Antwort schuldig, erklärt die Passagen als „Provokation“, als „Tabubruch“ und als Ausdruck der „neuen Sexualmoral“, der man sich „damals“ verpflichtet fühlte, „damals“, in der 68er-Bewegung. Auch anlässlich der Preisverleihung sprach er nur davon, dies hätte „so nicht geschrieben werden dürfen“. Ja, hätte es denn so geschehen und dann verschwiegen werden dürfen?

Eine Entschuldigung wäre nur dann zu akzeptieren, wenn aus ihr deutlich würde, dass Cohn-Bendit den vollen Umfang seines Handelns (nicht nur seines Schreibens) in die Waagschale legt und dafür persönlich (nicht als Kind der Zeit, die nun mal so war, wie sie war) um Vergebung bittet. Solange nicht klar ist, ob die Handlungen, die Cohn-Bendit als Teil seiner Erinnerungen aufgeschrieben hat, tatsächlich so passiert sind oder rein fiktive Ausschmückungen zur Provokation der Leserschaft sein sollten, kann keine Vergebung erfolgen, weil man ja wissen muss, was genau man vergeben soll: eine kapitale Straftat oder eine publizistische Dummheit.

Um eines muss sich Cohn-Bendit allerdings keine Sorgen machen: um sein Image. Die mediale Öffentlichkeit steht im Wesentlichen hinter ihm. Sie verweist auf den Umstand, dass das ja alles ganz lange her ist und auf die wirklich Schuldige in Sachen Missbrauch: die Kirche. Da Cohn-Bendit dieser offenbar nicht angehört, kann das, was er tat, folglich auch nicht so schlimm gewesen sein. Schon praktisch, so eine Gesinnungsmoral. Wenn man die richtige Gesinnung hat. Ein paradigmatischer Kommentar: „Aber er sagt doch genau aus, was war… Wohingegen Täter, die Kinder missbrauchen, sicher nicht öffentlich dazu stehen, wie man z.B. an der Kirche sieht.“

Also: Ein grün-alternativer Sunnyboy, der beschreibt, wie er sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren vornimmt („Wenn sie [die Kleinkinder, J.B.] darauf bestanden, habe ich sie dennoch gestreichelt.“) oder an sich vornehmen lässt („Es ist mir mehrmals passiert, dass einige Kinder meinen Hosenlatz geöffnet und angefangen haben, mich zu streicheln“), und damit die Tatbestandsvoraussetzung von § 176 Abs 1 StBG erfüllt, gilt als unverdächtig, weil er schließlich ganz offen darüber spricht, so als grün-alternativer Sunnyboy, während ein Priester, also: ein katholischer, der so etwas nicht sagt oder schreibt, bestimmt etwas zu verbergen hat, schließlich gilt da immer noch der Generalverdacht – das wollen wir mal nicht vergessen! Deutsches Rechtsempfinden Anno 2013. Die Medien haben ganze Arbeit geleistet.

Man sollte es respektieren, wenn ein Mensch sich ändert. Man sollte vergebungsbereit sein, wenn er für Fehlleistungen in der Vergangenheit um Entschuldigung bittet. Nur: Das sollte dieser Mensch dann offen und ehrlich tun, so dass wirklich eine Abkehr erkennbar wird. Ob er dann aber gleich preiswürdig ist, zumal für einen Preis, der „bürgerschaftliche Initiative und Zivilcourage“ belohnt, das ist eine andere Frage. Eine ganz andere.

(Josef Bordat)

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