Schuld und Güte

13. Juli 2016


Jetzt ist es passiert. Der Herr, der mir vor Wochen gedroht hat, mir die Facebook-Freundschaft zu kündigen, hat seine Drohung nunmehr mit der Entschlossenheit eines klassischen Mittelstürmers in die Tat umgesetzt und mich gnadenlos entfreundet. Zuvor hatte er mir in einer persönlichen Nachricht eine ausführliche Begründung dieses epochalen Schritts entboten. Meine Weigerung, eine symbolische Zustimmungsbekundung in ikonographischer Form (nachfolgend „Like“) für Caritas International zurückzunehmen, zwinge ihn, mich aus dem Kreis seiner Freunde zu entfernen, um Platz zu machen für Menschen, die Caritas International ausgerechnet und gerade nicht liken; konsequent ist der Mann – etwas eindimensional, aber konsequent.

Allein diese Rücknahme wurde als Voraussetzung für die Aufrechterhaltung des Kontakts gefordert. Wenn ich dreimal täglich gegrillte Eichhörnchen essen würde, die Kniescheibe von innen tätowiert hätte oder Bayern-Fan wäre – kein Thema. Aber: Caritas International. Null Toleranz. Nun: Ich bin dieser Forderung nicht nachgekommen. Die Folge: Entfreundung. Kalt weht der Abendhauch.

Momentan bin ich noch dabei, mich von den Unannehmlichkeiten des Schocks zu erholen. Erst die Ölkrise, dann Bier mit Orangenaroma. Jetzt das. Andererseits: Keine Aktion ist so dämlich, dass sie nicht zur Inspiration taugte. Auch nicht die Aufkündigung einer Facebook-Freundschaft mit siebzehnseitigem Schriftsatz zur Urteilsbegründung in einfacher und in beglaubigter Abschrift, wobei man sich schon die Frage stellt, wo solche Menschen eigentlich vor zwanzig Jahren gelandet wären.

Nun, denn. Schauen wir genauer hin. Der Vorwurf ist folgender: Caritas International arbeite mit Institutionen zusammen, von denen man nicht sicher sein kann, ob sie nicht auch im Rahmen der von Caritas International (ko-)finanzierten medizinischen Leistungen Abtreibungen durchgeführt haben, durchführen oder möglicherweise noch durchführen werden. Zudem sei Caritas International als Mitglied im Weltsozialforum eine kommunistische Einrichtung. Wer Caritas International auf Facebook ein Like gebe, drücke damit seine Zustimmung zu Abtreibung einerseits und zum Kommunismus andererseits aus. Folglich könne ich – eingedenk meiner Begeisterung für Abtreibungen und den Kommunismus – kein katholischer Christ sein, weil das Christentum katholischer Prägung in ihrer Lehre zu Abtreibung und Kommunismus ernsthafte moralische Bedenken formuliert. Wer diese durch die Unterstützung von Caritas International ignoriere, könne kein Freund sein.

So. Die Frage ist jetzt nicht, was man seinem Blutkreislauf regelmäßig (und über einen längeren Zeitraum) ungefiltert zugefügt haben muss, um am Ende so zu denken, die Frage ist, ob der Mann nicht eigentlich ganz Recht hat bzw. hätte, würde stimmen, was er unterstellt. Nehmen wir mal an, die Sachlage wäre tatsächlich so wie beschrieben (was ich nicht weiß). Ich habe Caritas International mein Like gegeben (wenn ich es überhaupt tat, ich merk mir sowas nicht), ohne mich wirklich umfassend informiert zu haben, was ich damit alles unterstütze. Ich denke zwar, dass ich es in guter Absicht tat und irgendetwas Aktuelles der Anlass gewesen sein mag, eine Hilfsaktion oder so etwas in der Art, die ich zum damaligen Zeitpunkt offenbar für soweit unterstützenswert hielt, dass ich es nicht lassen konnte, Caritas International zu liken.

Den guten Willen kann ich mir damit selbst zusprechen – doch das reicht ja nicht. Moralisches Handeln (und in dem Bereich bewegen wir uns hier ja) verlangt mehr als Gutwilligkeit. Klugheit zum Beispiel. Und dazu gehört es auch, sich über mögliche Einwände zu informieren. Folgen abzuschätzen. Und das habe ich nicht hinreichend getan. Die Frage ist: Was bedeutet hinreichend? Bis zu welcher Ebene muss ich die Aktivitäten von Caritas International durchleuchtet haben, um auf den Daumen zu klicken? Anders gefragt: Kann man durch’s Leben kommen, ohne dass einem je ein Vorwurf dieser Art gemacht werden kann? Das ist durchaus ein interessantes Thema für einen Essay über ethische Begründungsmodelle oder auch für eine Betrachtung zur Tragweite moralischer Vervollkommnungsabsichten.

Ich muss das abkürzen, denn ich habe heute noch Termine. Deshalb, zugespitzt: Kann man leben, ohne je das Risiko zu tragen, dass als Folge der eigenen Handlungen unerwünschte Effekte eintreten? Nein. Anschlussfrage: Bis zu welchem Punkt ist man verantwortlich für das Handeln der Personen und Einrichtungen, die man unterstützt? Wenn ich Steuern zahle und mit diesen Steuern werden Auslandseinsätze der Bundeswehr bezahlt und ein deutscher Soldat erschießt in Afghanistan betrunken eine Kollegin – trage ich dann eine Mitschuld? Wenn ich doch weiß, dass es so gut wie keine tödlichen Autounfälle auf Feldwegen gibt, trage ich eine Mitschuld an den etwa zehn Verkehrstoten täglich in Deutschland, wenn ich den Straßenbau fördere, indem ich Aktien eines Asphaltproduzenten kaufe? Wo ist die Grenze meiner Verantwortlichkeit und woher weiß ich, dass sie genau dort verläuft?

Nochmal ins Gehirn des Ex-Facebook-Freundes eingedrungen. Er meint ja offenbar, dass man nichts unterstützen (oder auch nur für gut halten) soll, was auch nur (vermeintlich) den geringsten Makel in sich trägt. Ist eine solche Einstellung nicht aller Ehren wert? Angenommen, jemand hätte hunderttausend Menschen das Leben gerettet (zum Beispiel durch eine gigantische Spende für Medikamente und Nahrungsmittel) und erschlägt dann seine Nachbarin wegen Ruhestörung – was passiert mit ihm? Bekommt er das Bundesverdienstkreuz wegen der Rettungsaktion? Oder ein Strafverfahren wegen des Todschlags? Vielleicht ja beides. Aber herrschende Meinung dürfte sein, dass aufgrund der Rettung jener Hunderttausend der Todschlag dieser Einen moralisch und rechtlich nicht unter den Tisch fallen darf. Sage ich mit der Zustimmung zu Caritas International nicht eigentlich genau so etwas aus? Vorausgesetzt – wie gesagt – der oben beschriebene Sachverhalt (Abtreibung, Kommunismus) stimmte. Aus der Sicht meines Kritikers tut er das. Insoweit wird seine Position etwas verständlicher.

Es gibt nichts auf Erden, das durch und durch gut ist. Die ganze Schöpfung ist von Schuld durchzogen. Nur einer ist gut – Gott (vgl. Mk 10, 18; Lk 18, 19). Wenn wir verhindern wollten, schuldhaft zu leben, müssten wir zu leben aufhören – und das geht schon gar nicht, ohne schuldig zu werden. Unsere Handlungen, die stets im Rahmen dieser Schuld stattfinden, sind daher immer mit dem Risiko behaftet, in letzter Konsequenz negativ zu wirken. Es geht bei der Güte mithin um ein Handeln nach bestem Wissen und Gewissen, nach Prinzipien, die wir als richtig, und nach Regeln, die wir als sinnvoll erachten. Soweit wir die Folgen erkennen können, sollten wie sie berücksichtigen, darüber hinaus geht der Konsequenzialismus in die Irre. Was am ganz langen Ende aus unserem Handeln wird, kann uns nicht zugeschrieben werden – the greatest happiness of the greatest number ist nicht unser Bier. Eine Totalverantwortung kann es für den Menschen nicht geben. Das muss man wissen und zugeben können. Auch, wenn man damit seine Facebook-Freunde verliert.

(Josef Bordat)

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