Strafe Gottes?

31. Juli 2010


Heute vor einer Woche kam es bei einer Großveranstaltung in Duisburg, der so genannten „Loveparade“, zu einer Katastrophe: Infolge einer Massenpanik, in deren Folge 21 Menschen starben und 342 verletzt wurden. Ich empfinde tiefe Trauer und denke mit Schmerz an die Opfer und ihre Angehörigen. Ich bete für sie sowie für eine rasche Genesung der Verletzten. Mögen alle Betroffenen in diesen Tagen die Hilfe erhalten, die sie benötigen.

1.

Angesichts eines solchen Ereignisses sind wir zur Deutung aufgerufen. Der klassische Hintergrund des Versuchs, eine Antwort auf die quälende Deutungsfrage zu finden, ist die Theodizee, die Frage, wie Gott so etwas zulassen kann. Die Verantwortung wird Gott zugeschrieben. Das zeitgenössische Deutungsmuster ist die Anthropodizee, also die Frage, wie der Mensch so etwas zulassen kann. Die Verantwortung wird dem Menschen zugeschrieben.

Dies darf nun nicht so verstanden werden, als spielte Gott bei der Verarbeitung von Leid heutzutage keine Rolle mehr. Katastrophen offenbaren für viele Menschen auch heute noch die Bedeutung des Transzendenzbezugs und werfen damit die Theodizeefrage immer wieder neu auf. Religiöse Interpretations- und Bewältigungsansätze bilden dabei jedoch keine exklusiven Paradigmata des deutenden Zugangs mehr, obgleich sie angesichts der Sprachnot, der man sich nach katastrophischen Ereignissen ausgesetzt sieht, immer noch bemüht werden. Es geht hierbei auch nicht um ein Entweder-Oder von Theodizee und Anthropodizee. Stattdessen werden zwei Ebenen angesprochen: Ursache (Finalität) und Grund (Kausalität). Dient diese der Verfügung über partikulare Erklärungen, sorgt jene für Orientierung durch universales Verständnis.

Diese Ebenen sollten mit Leibniz nur in einer gedachten metaphysischen Verbindung stehen. Ihre unmittelbare Verknüpfung oder gar die Gleichsetzung von Ursache und Grund führt zu einem Missverständnis von großer theologischer Tragweite: Gott (Ursache) straft den Menschen für dessen Sünde (Grund). Ein solches Missverständnis wird tragischerweise bereits bei Leibniz vorgeprägt. Es kommt zur Geltung, wenn man die feinen metaphysischen Strukturen, die seine Lösung durchziehen, einreißt und auf deren Begrifflichkeiten zugreift, ohne ihre Bedeutung im System Leibnizens zu berücksichtigen. Die Dimension des Modalen, des Finalen und des Universalen, die Leibnizens Denken auszeichnet, wird dann im urteilenden Blick auf immanente Vorgänge oft zugunsten partikularer Kasuistik aufgegeben.

2.

In Leibnizens Antwort auf die Theodizeefrage, die er vor genau 300 Jahren formuliert hat, gibt es tatsächlichen einen Zusammenhang von Schuld (malum morale) und Strafe (malum physicum). Leibniz definiert aber neben den auf Augustinus zurückgehenden Klassen malum morale und malum physicum eine dritte Art von Übel, das malum metaphysicum, die Unvollkommenheit. Das wird oft übersehen. Es muss nach Leibniz dieses Übel geben, um ein Streben nach Vollkommenheit zu ermöglichen. Wäre alles schon vollkommen, wäre jedes Streben, mithin jedes Handeln sinnlos. Ferner würde sich dann kein signifikanter Unterschied zwischen dem vollkommenen Schöpfer und seiner dann ebenfalls vollkommenen Schöpfung ergeben, was die Schöpfung an sich als ununterscheidbar von Gott und damit als „Nicht-Schöpfung“ entlarven würde, denn die Reproduktion des Gleichen führt nur zur Schaffung von Identitäten. Die Manifestation einer Identität ist jedoch keine schöpferische Leistung, sondern lediglich die Formulierung der unmittelbarsten, einfachsten und einsichtigsten Wahrheit. So sind die Menschen als endliche rationale Wesen, denen Gott im Rahmen der Schöpfung keine Vollkommenheit zubilligen konnte, dem malum metaphysicum als einer „natürlichen Begrenzung“ (Platz) des Geschaffen unterworfen, aus dem sich dann die physischen Übel, die Leiden, und die moralischen Übel, die Sünden, ergeben. Bedeutsam ist hierbei der Unterschied zwischen schaffen und zulassen: Nach Leibniz hat Gott das Übel nicht geschaffen, sondern zugelassen (permis), weil es im Plan der „besten aller möglichen Welten“ notwendig enthalten war. Ebenso ist es wichtig, im Hinblick auf den Verantwortungsbegriff der Anthropodizee zu bemerken, dass der Mensch zwar keine Vollkommenheit hat, wohl aber Vervollkommnungsfähigkeit (perfectibilitas).

Das malum morale ist unterdessen ein Produkt der Freiheit des Menschen und hätte nur auf Kosten dieser vermieden werden können, d. h. ein grundsätzlicher Ausschluss des moralisch Bösen von vorne herein bedeutet für Leibniz das Ende der Freiheit. Das Böse muss also um der Freiheit Willen als Teil der Schöpfung akzeptiert werden und ist folglich für Leibniz kein fahrlässiger Schöpfungsfehler Gottes, sondern ein Zugeständnis an die Freiheit des Menschen. Es bietet ihm Chancen zur Vervollkommnung, zur Verbesserung der Welt. Die Erfahrung des Übels soll demnach nicht dazu führen, mit Gott zu hadern, sondern die Welt im Sinne der perfectibilitas stets und ständig zu verbessern und damit bei sich selbst anzufangen. So dient das Böse letztlich auch zur Besserung der eigenen Person, das Böse wird zur Herausforderung für die eigene moralische Konstitution.

3.

Diesen Gedanken der „Pädagogisierung des Leidens und des Bösen“ (Geyer) führt dann insbesondere Christian Wolff weiter. Von dort erhält er Einzug in die akademische Aufklärungsphilosophie und entfaltet eine große Wirkung – bis zu Kant und sogar über Kant hinaus. Zugleich ist dieser Gedanke oft falsch verstanden und in der Folge stark verkürzt rezipiert worden. Leibnizens malum physicum als Strafe für ein malum morale, das aus Freiheit resultiert, ist eben nicht die „gerechte Strafe“ im singulären Fall, sondern die „notwendige Strafe“ in einer nicht perfekten Schöpfung, die aus metaphysischen Gründen nicht perfekt sein kann. Doch das malum metaphysicum wird unterschlagen – und Leibnizens geniale Konstruktion damit zur Karikatur, die man – mit Voltaire und Hegel – nicht „ganz ernst“ nehmen kann.

In der Folge ist in der moraltheologischen Rezeption der „pädagogische Gehalt“ der Katastrophe nicht in die Zukunft gerichtet worden (im Sinne der Verbesserung, als Antwort auf das Wozu? – hier etwa: Massenveranstaltungen in Zukunft sorgfältiger zu planen und sicherer zu machen), sondern in die Vergangenheit (im Sinne der Erklärung des Geschehenen, als Antwort auf das Warum? – hier etwa: Strafe für die sündhafte Zügellosigkeit der „Raver“), ohne die metaphysische Dimension überhaupt noch zu erwähnen.

4.

Hieran schließt Eva Herman an, wenn sie am Ende eines kritischen Artikels zur „Loveparade“ mit Blick auf die Katastrophe die Vermutung äußert: „Eventuell haben hier ja auch ganz andere Mächte mit eingegriffen, um dem schamlosen Treiben endlich ein Ende zu setzen.“ Obwohl dies eine sehr vorsichtige Diktion ist, kann man hier durchaus der Ansicht sein, Hermann interpretiere die „Loveparade“-Katastrophe eingedenk des moraltheologischen Deutungsmusters, d. h., sie meint: Gott straft die „Raver“ für ihre Sünden. Herman setzt die Veranstaltung mit „Sodom und Gomorra“ gleich, um ihren Rachegott zu motivieren, ohne aber dabei zu erwähnen, dass sich Gott mit der Strafentscheidung nicht leicht tut, sich sogar mit Abraham auf einen Handel einlässt (Gen 18), um einen Ausweg zu finden aus dem Dilemma von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit (einen Ausweg, den wir Christen in der Menschwerdung Gottes, in der Person Jesus Christus zu sehen glauben).

Ob und inwieweit Hermans Kritik, die zum ihrem und (nach ihrer Ansicht) auch Gottes Schuldspruch führt, im Einzelnen berechtigt ist, soll jetzt nicht Thema sein. Mir geht es um das religiöse Deutungsmuster als solches. Mir geht es auch nicht um die Person Eva Herman, sondern um das Denkmodell, das ihrer Einlassung zugrunde liegt. Dieses ist viel breiter gestreut und viel tiefer verwurzelt. Der Bürgermeister von New Orleans, der Demokrat Ray Nagin, machte beispielsweise den „Zorn Gottes“ aufgrund des Irakkriegs (Sünde) für Hurrikan „Caterina“ im Jahre 2005 (Strafe) verantwortlich (so in der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. Januar 2006).

Doch eins möchte ich klar stellen: Ich teile Hermans Wunsch nach einer Gesellschaft, in der Glück und Liebe nicht allein als Resultat von Drogenkonsum und ungehemmter Ausübung von Sexualität denkbar sind. Aber auch wenn ich der Einlassung, Glück und Liebe müsse sich ohne Drogen, dröhnende Musik und eine enthemmte Sexualisierung suchen und finden lassen, vorbehaltlos zustimme, halte ich eine Diskussion über Musikrichtungen und Lebensstile im unmittelbaren Anschluss an ein solch katastrophisches Ereignis für falsch, zumal: Wenn „Sex ’n’ Drugs“ überhaupt mit einer bestimmten Musikrichtung zu assoziieren sind, dann nicht unbedingt mit „Techno ’n’ House“.

Das dazu. Nun zurück zum theologisch relevanten Kern.

5.

Der Gedanke des Sünde-Strafe-Zusammenhangs ist so alt wie die Menschheit. Seit Menschen Leid erfahren, führen sie dies auf menschliches Vergehen gegen eine als göttlich oder zumindest transzendental verstandene Wert- und Rechtsordnung zurück. Das ist keine Spezialität christlicher Schuldökonomik. Ja, es braucht dafür noch nicht einmal den Glauben an Gott, sondern lediglich an eine transkonventionale Ordnung. Wird – wie im Buddhismus – kein personaler Gott angenommen, sondern das „Göttliche im Menschen“ verehrt, ergibt sich die Antwort in einem Rekurs auf das Subjekt, das für sein Leid und sein Heil persönlich Sorge trägt, indem es durch Wohlverhalten gegenüber einer inhärenten Moralität der Achtsamkeit sein Kharma positiv beeinflusst.

Das Judentum etwa sieht Leid als strafende Konsequenz der Sünde an, sowohl für eigenes Vergehen als auch für das Vergehen der Eltern bzw. vorangegangener Generationen, d. h. wer sich gegen Gott auflehnt, der hat die Folgen seines Verhaltens zu tragen und wer leidet, der muss Gott zuvor einen Grund gegeben haben, dass er ihn so leiden lässt. Dieses Prinzip gilt kollektiv und individuell: Wenn dem Volk Israel Übel widerfährt, dann deshalb, weil es sich gegen den Bund mit Jahwe vergangen hat. Und wer persönlich leidet, der hat zuvor das Missfallen Gottes erregt und wird von ihm dafür bestraft. Interessant ist, dass im Judentum – ähnlich wie im Buddhismus – das Leid aus dem Ursache-Folge-Zusammenhang erwächst, auf den Herman et al. sich beziehen. Im Unterschied zum buddhistischen Kharma ist jedoch ein personaler strafender Gott die Vermittlungsinstanz zwischen Vergehen und Leid. Ferner kann die leidvolle Konsequenz nicht in einem späteren Leben auf den Sünder hereinbrechen, wohl aber ist eine Bestrafung für die Verfehlung der Vorfahren möglich. Im Buddhismus bleibt also der Ursache-Folge-Zusammenhang von Schuld und Sühne qua Wiedergeburt „intrapersonal“ erhalten, im Judentum ist an eine „interpersonale“ Sippenhaftung gedacht, an die Möglichkeit, dass sich die Strafwirkung der Sünde über Generationen erhält, gewissermaßen durch „Vererbung“ von den Eltern auf die Kinder übertragen wird.

Jesus räumt mit dieser Einschätzung auf. Als die Jünger Jesu einen von Geburt an Blinden treffen, fragen sie den Herrn: „Rabbi, wer hat gesündigt? Er selbst? Oder haben seine Eltern gesündigt, so daß er blind geboren wurde?“ (Joh 9, 2). Leid ist also in den Augen der Juden, hier: der Jünger, stets etwas „gerechtes“, etwas, das der Leidende „verdient“ hat. Den Jüngern, die ihn nicht etwa nach der Ursache der Blindheit fragten, sondern die nur wissen wollten, wer die leidauslösende Sünde begangen hatte, entgegnet Jesus: „Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden.“ (Joh 9, 3). Leid bekommt damit einen anderen Aspekt, weg von der Strafe hin zur Bewährungschance. Nach Heilungen Jesu von körperlichen oder seelischen Leiden erfolgt häufig die Aufforderung an den Geheilten, künftig im Gedenken an die Heilstat nicht mehr zu sündigen, wohlwissend, dass dies nicht aus eigener Kraft, sondern nur mit Hilfe Gottes gelingen kann.

Hieraus entnehmen Leibniz und dann insbesondere sein Epigone Christian Wolff das Motiv der moralischen Besserung des Menschen im Rahmen individueller und kollektiver Perfektibilität: Fortschritt durch (göttlich initiierte) leidvolle Erziehung.

Das Aushalten des Leides als Grundvollzug des Glaubens, der den Aspekt der Verherrlichung Gottes durch den unbeirrt am Glauben festhaltenden Menschen betont, wird als Erklärungsansatz nirgendwo in der jüdisch-christlichen Tradition so deutlich erkennbar wie in der Person Hiobs. Hiob, der um das Jahr 1000 v. Chr. lebte und „aus heiterem Himmel“ alles verliert, was ihm lieb und wert war, bleibt treu im Glauben an den gerechten Gott, dessen Größe er sich anheim gibt, sehr zum Leidwesen seiner Frau, die ihn angesichts immer neuer Schreckensbotschaften spöttisch fragt: „Hältst du immer noch fest an deiner Frömmigkeit?“ (Hiob 2, 9). Eine vernünftige Erklärung für sein Schicksal hat Hiob ebenso wenig wie für seine Kraft, standhaft zu bleiben, er gibt ihr nur zurück: „Nehmen wir das Gute an von Gott, sollen wir dann nicht auch das Böse annehmen?“ (Hiob 2, 10). Durch das Leid wird seine Entscheidung, an Gott zu glauben und ihm gehorsam zu sein, nicht erschüttert, sondern weiter gefestigt.

Jesus denkt mit seiner Ablehnung des jüdischen Schuld (Sünde)-Leid (Strafe)-Automatismus aber nicht an „Bewährung“ im Aushalten von Leid und auch nicht an irdische Bestrafung oder Belohnung. Gottes Gerechtigkeit erweist sich für ihn in zwei Dimensionen: 1. dem Paradies als konkreter und unmittelbarer Jenseitshoffnung (Lk 23, 43) und 2. dem Anbruch des Gottesreiches als mittelbarer und zeitlich nicht festgelegter Vorstellung (Mk 13, 32). Die Theodizeefrage verliert in diesem Horizont viel von ihrer Spannung, da Gottes Gerechtigkeit sich auch über das irdische Leben hinaus erweisen kann: Dem hier und jetzt ungetröstet Leidenden wird im Paradies Gerechtigkeit widerfahren.

Alles Ausgleichende ins Jenseits zu verlagern, bleibt jedoch unbefriedigend, weil Leid unmittelbar erfahren wird und Erklärungen im bzw. für das Diesseits gesucht werden. Also müssen sich in und durch Jesus Christus Ansätze für ein Leidverständnis gewinnen lassen, die noch im diesseitigen Leben ihre tröstende Kraft entfalten. Der Schlüssel zu diesem Verständnis ist Jesu eigenes Leid, seine eigene Verzweiflung und seine eigene Gottverlassenheit.

6.

Ein Problem ergibt sich also, wenn eine schlichte Transformation der transzendent-universalistischen Verbindung von malum morale und malum physicum im Sinne eines notwendigen malum metaphysicum zum innerweltlichen Schuld-Strafe-Konnex erfolgt (siehe Abschnitt 3). Andererseits steht das Jenseitige nicht gänzlich unverbunden zum Diesseits, schließlich beginnt das Reich Gottes, von dem Christus spricht, bereits hier und jetzt (siehe Abschnitt 5).

Der christliche Deutungsansatz ist folgender: Insoweit es um das Dort und Dann geht, können wir uns keine Einschätzung anmaßen, da unsere Vernunft und unsere Kategorien versagen, die wir unbedingt zum Denken brauchen (u. a. ja Raum und Zeit!). Allein unser Glaube daran und unser Vertrauen darauf, dass wir nie tiefer fallen können als in die Hand Gottes, gelten uns Christen als gewiss. Insoweit es um das Hier und Jetzt geht, steht nicht die Rache Gottes, sondern die Besserung des Menschen – aller Menschen! – im Fokus. Der Unterschied liegt in der Perspektive: wohlwollende Mahnung mit Blick in die Zukunft, oder strafende Vergeltung mit Blick in die Vergangenheit? Solange es noch Zeitlichkeit und daher Zukunft gibt, gibt es noch was zu verändern, und solange es noch die Möglichkeit der Veränderung gibt, ja, solange es überhaupt noch Menschen gibt in dieser Welt, will Gott ersteres, nicht letzteres. Das ist meine feste Überzeugung.

Gott will – insoweit es das Hier und Jetzt betrifft – Besserung, nicht Rache. Ihm geht es um die Zukunft, nicht um die Vergangenheit. Sein Ratschluss betrifft alle, nicht nur einige. Deutlich wird dies in den Worten Jesu über Katastrophen zu seiner Zeit: „Zu dieser Zeit kamen einige Leute zu Jesus und berichteten ihm von den Galiläern, die Pilatus beim Opfern umbringen ließ, sodass sich ihr Blut mit dem ihrer Opfertiere vermischte. Da sagte er zu ihnen: Meint ihr, dass nur diese Galiläer Sünder waren, weil das mit ihnen geschehen ist, alle anderen Galiläer aber nicht? Nein, im Gegenteil: Ihr alle werdet genauso umkommen, wenn ihr euch nicht bekehrt. Oder jene achtzehn Menschen, die beim Einsturz des Turms von Schiloach erschlagen wurden – meint ihr, dass nur sie Schuld auf sich geladen hatten, alle anderen Einwohner von Jerusalem aber nicht? Nein, im Gegenteil: Ihr alle werdet genauso umkommen, wenn ihr euch nicht bekehrt.“ (Lk 13, 1-5)

Um neben der theologischen auch noch einmal die philosophische Blickrichtung einzunehmen: nehmen: Es geht auch Leibniz (und Wolff) nicht um Rache, sondern um Besserung. Es geht nicht um einen Grund für diese Katastrophe, sondern um eine Ursache für die Möglichkeit (und Notwendigkeit!) von Katastrophen an sich.

Wie nah das jedoch an der Sündenökonomie und der Strafrhetorik liegt, wenn man nicht sauber, scharf und tiefgründig die Sphären scheidet, zeigt sich in einem Gedicht Johann Christoph Gottscheds zum Erdbeben von Lissabon (1755), in der die Perspektive zwischen Vergangenheit (Zorn, Rache, Strafe, Gericht) und Zukunft (Mahnung, Besserung, Lehre) hin- und herwogt (zit. nach Günther: Das Erdbeben von Lissabon und die Erschütterung des aufgeklärten Europa. Frankfurt a.M. 2005, S. 20):

O Herr! Vor dessen Wink auch Fels und Berge beben,
Von dessen Odem sich auch Flut und Wellen heben,
Wie schrecklich ist dein Zorngericht.
Es kostet dich dein viertelstündig Wetter,
So sinkt die Welt! und wo ist dann ein Retter?
Und du, oh Mensch, erzitterst nicht!
Ihr Spötter schweigt! Laßt ab von eurem Hohne
Gott schlägt das Haupt, und ganz Europa bebt!
Ihr stolzen Städte zagt! Und merkt’s an eurer Krone;
Wer weiß, wann euch sein Zorn in Schutt und Graus begräbt!
Nicht Lissabon allein hegt Sünder:
Wen dieser Fall nicht lehrt, dem droht sein Grimm nicht minder.

Hier wird beides adressiert: Strafe und Besserung. Doch das ist zu trennen! Es gehört zu den unterschiedlichen Ebenen Ursächlichkeit und Begründetheit – jene ist nur in der Metaphysik aussprechbar, diese allein kann für uns im konkreten Zusammenhang Thema sein.

7.

Warum eigentlich? Was wird damit im Umgang mit Katastrophen gewonnen? Ich denke, vor allen drei Dinge.

Zunächst wird etwas ganz Wichtiges gewonnen, etwas, das Psychologen Entaktualisierung nennen. Eva Herman, indem sie die Ebenen von Ursachen und Gründen vermengt, aktualisiert einen metaphysisch sinnvoll denkbaren Zusammenhang fälschlicherweise in einer konkreten Situation, ohne Rücksicht auf die Gegebenheiten. Damit aktualisiert sie den Transzendenzbezug für Andere, obwohl dies nur jeder für sich tun kann. Im Glauben müssen wir Gott einbeziehen, und in einem metaphysischen Sinne müssen wir als Glaubende noch mehr: Gott dankbar einbeziehen, Ihm für alles danken. Und das werden wir auch irgendwann einsehen. Dazu sind wir aber jetzt nicht in der Lage. Schon gar nicht, wenn unsere natura humana gerade durch eine Katastrophe irritiert wurde. Dann hilft nur Vertrauen. Und Verständnis gegenüber denen, die dieses Vertrauen nicht aufbringen können. Nicht aber das Zur-Schau-stellen der eigenen Bezugnahme und die Überführung der metaphysischen Dimension in die konkrete Situation menschlicher Trauer und Verzweiflung. Das ist, abgesehen davon, dass es weder philosophisch noch theologisch richtig ist, die Dimensionen derart zu vermengen, völlig unangemessen und insoweit unchristlich, als eine Wahrheit nur in Liebe eine christliche Wahrheit ist.

Sodann folgt daraus: Es reicht nicht, das Richtige zu sagen, sondern man muss es auch richtig sagen. Das Zur-Sprache-bringen von Moralität kann selbst wiederum moralisch gut oder moralisch böse sein. Es geht hier nicht nur um Stilfragen einer angemessenen Wortwahl, sondern um die Haltung, die hinter der Aussage erkennbar ist. Hier wird uns Christen durch viele Metaphern verdeutlicht, dass Demut die einzig richtige Haltung ist, das Richtige zu sagen und zu tun. Es gibt viele Stellen im Evangelium, die uns zur Demut ermutigen. Eva Herman leistet sich also nicht nur eine epistemologische, sondern auch eine ethische Kompetenzüberschreitung.

Schließlich ergibt sich theologisch: Die Trennung der Ebenen, die eine gute Metaphysik nicht nur für den angemessenen Umgang mit Leid leistet, sondern die grundlegend ist für eine holistische Weltsicht, welche nicht nur Erklärung und Verfügung, sondern Verständnis und Orientierung anstrebt (auch in ganz grundlegenden Frage des Daseins), die umsichtige und feinfühlige Trennung der Ebenen führt dazu, dass der Mensch im Leid (auch in der Loveparade-Katastrophe) einen letzten Sinn sehen kann, und dass man durch dieses Vertrauen auf den letzten Sinn des Leids Trost findet, ohne dazu sein partikulares Leid verherrlichen und seinen Schmerz, seine Trauer, seine Wut leugnen zu müssen. Auch ein Christ muss sich dessen nicht schämen. Er weiß es als unguten Teil von etwas letztlich Gutem, als – um Leibniz zu bemühen – partikulare Disharmonie innerhalb der Universalharmonie der Schöpfung Gottes. Glauben heißt dann Vertrauen darauf, dass mir das Leid zum Besten dient, auch wenn ich es nicht als gut erkennen mag. Die Erkenntnis kommt von innen, sie kann nicht von außen aufgezwungen werden. Sie geht vom Betroffenen aus, der dafür jedoch Hilfestellung benötigt. Er braucht Hände, die beten und Hände, die helfen, aber keine Finger, die auf ihn zeigen.

8.

Mit diesen Aspekten eng verbunden ist das Gottesbild. Der Zusammenhang von Perfektibilität und Sündenökonomik in Gestalt des Schuld-Strafe-Automatismus ist ein zutiefst menschlicher, der aber mit seinem verengten Horizont dem Wesen des unendlichen, universalen Gottes zuwiderläuft.

Wer die Dimension der Strafe, ja, der Rache einführt, führt die Theodizeefrage weiter vom passiven Zulassen (um der Freiheit des Menschen einer universal ermöglichten harmonischen Universalordnung wegen) zum aktiven Handeln Gottes, zum singulären Eingriff (um des konkreten Freiheitsgebrauchs des Menschen und der partikularen sittlichen Ordnung wegen). Dahinter verbirgt sich ein anthropomorph-akzidentielles Gottesbild, das mit der Substanz des Ewigen nichts zu tun hat.

Das Bild des barmherzigen Vaters, das ich vor Augen habe, liegt der Vorstellung des „Rachgottes“ quer. Der „Rachegott“ widerspricht aber nicht nur dem biblischen Gott, sondern jeder Gottesvorstellung, die nicht von anthropomorphen Göttern mit menschlichen Zügen geprägt ist. Ein solcher ist aber gerade nicht der Gott des Christentums, auch wenn Er in Jesus Christus „ganz Mensch“ wird. Denn Er bleibt als solcher Mensch immer auch „ganz Gott“.

Ich glaube, dass sich Gottes Wille auch in Duisburg gezeigt hat, in einer Weise, die wir nicht begreifen können. Deswegen sollten wir darüber auch nichts hinausposaunen. Ich glaube, dass Gott ein mitleidender Gott ist, der in Seinem eigenen Leid am Kreuz die Arme ausbreitet, um uns in unserem Leid zu umfangen. Ich glaube, dass Gott ein barmherziger Gott ist, kein kleinlich jedes Vergehen strafender Gott – schon gar nicht ein in weltimmanenten Zusammenhängen strafender Gott. Denn das hieße, dass Er in weltimmanenten Zusammenhängen denkt. Und da Denken, also der Geist, das Sein Gottes ist, hieße dies letztlich, dass man mit einem solchen Gottesbild ausdrückt, dass Er in weltimmanenten Zusammenhängen ist. Und spätestens hier zeigt sich der Fehler einer solchen Vorstellung.

Doch Gott ist andererseits kein abstraktes Denkmodell, sondern konkret da – wie bereits beschrieben. Als der Gott, der konkret wird in Christus. Als der Gott, der aus Liebe Mensch wird und sich für die Menschen opfert. Und ein Gott, der aus Liebe Mensch wird und sich für die Menschen opfert, wird nicht zum Rächer in der Welt, die Er mit Seinem Opfer erlöst hat! Gott liebt den Menschen. Gott liebt auch den „Raver“. Und zwar unendlich.

Um die Ausgangsfrage zu beantworten: Nein – die „Loveparade“-Katastrophe war keine „Strafe Gottes“. Eva Herman und alle Anderen, die dies meinen, müssen sich vorhalten lassen, herzlos, taktlos, geschmacklos, rechthaberisch, unbarmherzig, anmaßend und insgeheim schadenfroh zu sein. Das zusammengenommen ist – insbesondere, wenn es mit einer soteriologisch-eschatologischen Konnotierung als ein Sprechen „von Gott her“ erscheint – eine höchst unchristliche Hybris. In erster Linie aber – und ich hoffe, dies gezeigt zu haben – ist die Rede von der „Strafe Gottes“ philosophisch und theologisch nicht besonders klug.

(Josef Bordat)