Ein Jahr nach Fukushima

6. März 2012


Die „Dreifachkatastrophe“ von Fukushima (Erdbeben, Tsunami und Atom-GAU) kostete etwa 210 Mrd. US-Dollar. Weit mehr als die Hälfte der (Rekord-)Schadenssumme (380 Mrd. US-Dollar) in 2011 geht damit nach UNO-Angaben auf das Konto dieser Verkettung von Schadereignissen. Zehn Thesen dazu. Also: Zum Umgang mit dem Katastrophischen.

1. Seit es Menschen gibt erfahren sie Übel in Form plötzlich auftretender Schadereignisse – Katastrophen; das Wort steht heute für die „plötzliche Wendung“ zum Schlechten, nachdem es in der Antike noch wertneutral verwendet wurde, etwa, um die Kehre in der Dramaturgie eines Theaterstücks zu bezeichnen. Mit der Katastrophe ist die Erfahrung verbunden, dass Natur und Technik, gerade auch in ihrer Verkettung, für den Menschen nicht nur nützlich sind, sondern auch gefährlich werden können.

2. Neu ist die Dimension der Verkettung von Natur und Technik. Die Katastrophe von Fukushima weist nicht nur auf die Gefahren hin, die Natur und Technik in sich bergen, und die zu Übeln werden können: zu malum physicum und zu malum technologicum, sondern zeigt in drastischer Manier die Möglichkeit einer wechselseitigen Potenzierung der Gefahren.

3. Der Diskurs zur Deutung von Katastrophen wird unter den Stichworten Theodizee, Technodizee und Anthropodizee geführt, in der Gott, die Technik und der Mensch vor dem Gericht der Vernunft erscheinen. Zwar entwickeln sich die jeweils vorherrschenden Deutungsmuster historisch entlang der dominierenden weltanschaulichen Sinnzuschreibung, doch bedeutet dies keine Sukzession von Vorstellungswelten, sondern ihre tendentielle Favorisierung seitens der Mehrheit. Heute treten nach wie vor alle drei Konzepte im Katastrophendiskurs auf.

4. Aktuell ist besonders die Anthropodizee ins Zentrum gerückt, bedingt auch durch die Debatte zum Klimawandel (globale Erwärmung), dessen anthropogene Ursachen nach herrschender Meinung erwiesen sind. Schlüssel für das malum physicum und das malum technologicum ist demnach Mensch und dessen malum morale.

5. Damit wird keine grundlegend neue Deutungsrichtung eingeschlagen, sondern nur der menschliche Anteil aus den bisherigen Deutungsmustern Theodizee und Technodizee verstärkt, da der Umweg über Gott bzw. die Technik wegfällt und der Mensch unmittelbar zum „Verursacher“ wird. Im Rahmen der Theodizee sorgt der sündige Mensch „nur“ dafür, dass Gott die Natur strafend gegen ihn einsetzt, im Rahmen der Technodizee sorgt er mit seinen übermäßigen Bedürfnissen dafür, dass mit der Technik als „Lösung“ für die Befriedigung derselben potenzielles Übel geschaffen wird.

6. Für gläubige Menschen stellt sich angesichts des Übels der Sünde (malum morale) und des Übels in Gestalt von Naturkatastrophen (malum physicum) die Frage nach der Rechtfertigung eines gütigen, allwissenden und allmächtigen Gottes. Gottfried Wilhelm Leibniz unternimmt in seinem Essais de Théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal den Versuch, die Freiheit des Menschen und die Güte Gottes angesichts des in der Welt erkennbaren Übels in Einklang zu bringen.

7. Um Leibnizens Lösung zu verstehen, müssen wir Freiheit ernst nehmen. Die der Schöpfung eingestiftete Freiheit ruft Böses (malum morale) hervor, das Übles (malum physicum) nach sich zieht. Das ist der „Preis“ für die Möglichkeit des Guten, eine Möglichkeit, die nur in Freiheit gegeben ist.

8. In Analogie zu Leibnizens Argumentation in der Theodizee entwickelt der Berliner Philosoph Hans Poser den Gedanken, dass das Übel unserer Zeit das malum technologicum sei, das heißt die Möglichkeit der Einschränkung menschlicher Freiheit durch die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen und die ständig virulente Gefahr von Katastrophen als Ergebnis von Technik. Kurz: Die Technik, die wir schufen, um freier zu werden, schränkt uns zunehmend ein und muss daher gerechtfertigt werden (Technodizee).

9. Die Strukturanalogie von Theodizee und Technodizee legt im Ergebnis nahe, nach bestem Wissen und Gewissen eine Bewertung von Technik jenseits der eindimensionalen ökonomischen Verwertungslogik vorzunehmen und nach einer Antwort auf die Frage nach „gut“ und „böse“ für den Menschen zu suchen. Nur eine solche Technik ist gerechtfertigt, bei der die sozialen, gesundheitlichen und ökologischen Folgen berücksichtigt sind.

10. Natur-Übel und Technik-Übel berühren sich zunehmend, die Ursächlichkeit verschwimmt in unserem System zu einer Gesamtbedrohung. Malum physicum oder malum technologicum – das lässt sich nicht mehr trennen, zu sehr ist die Natur vergesellschaftet, zu umfassend ist die technologische Verfügungsmacht des Menschen. Die entscheidende Klammer ist also das malum morale, das moralische Übel. Verantwortlichkeit ist das zentrale Interpretament des aktuellen Katastrophendiskurses. Dazu gehört für den Christen die Rückbesinnung auf die schöpfungstheologische Herrschaftsverantwortung des Menschen, die zu Bewahrung der Schöpfung aufruft.

(Josef Bordat)