Vernünftig glauben

11. Juni 2011


Ein Gespräch über Gott, das Christentum, die Kirche und den Atheismus

1. Vernünftig glauben, so heißt das Buch, in dem ein Gespräch zwischen Walter Kardinal Brandmüller, bis 2009 Präsident des Päpstlichen Komitees für Geschichtswissenschaften, und dem Berliner Publizisten Ingo Langner abgedruckt ist. Vernünftig glauben – geht das? Ist nicht die Vernunft jene Fähigkeit des Menschen, die ihm ermöglicht, zu denken und zu wissen, während der religiöse Glaube ins Reich irrationaler Beliebigkeit gehört, also alles ist, nur nicht „vernünftig“? Das behaupten zumindest einige besonders forsche Vertreter der Religionskritik, mit deren Thesen daher eine Auseinandersetzung nicht erspart bleibt, wenn man über die Vernunft des Glaubens sprechen will, weshalb es im Untertitel des Buches heißt: „Ein Gespräch über Atheismus“.

Es ist in der Tat mehr ein Gespräch denn ein Interview, trotz der Konstellation Journalist (Langner) und Experte (Brandmüller). Zwar kommen die Leitfragen von Langner, auf die Brandmüller ausführlich und kompetent, ruhig und verständlich antwortet und dabei zu den Kernkonzepten des Christentums (Gott, Auferstehung, Kirche etc.) kurze, griffige Beschreibungen anbietet, doch der Publizist Langner trägt auch einige Gedanken bei, die theologisch so wertvoll sind, dass der Kardinal und Kirchenhistoriker sie nur abzunicken braucht.

Dieses Gespräch geht beileibe nicht nur „über Atheismus“, sondern vor allem über Glaube und Kirche sowie deren inhärente Rationalität. Entlang des Glaubensbekenntnisses erläutert der Dialog das christliche Gottes- und Menschenbild, die Rolle der Kirche, die Antworten der biblischen Offenbarung auf letzte Fragen, die jeden Menschen – religiös oder nicht – umtreiben: Ursprung und Schöpfung, Schuld und Sühne, Sünde und Vergebung, Sterben und Tod. Und die Frage, ob damit „alles“ aus ist – oder nicht. Walter Kardinal Brandmüller und Ingo Langner führen eine intensive Diskussion, in der über weite Strecken konzentriert an der Sache verhandelt und nachvollziehbar argumentiert, aber auch mal gescherzt wird. Was für Lesefluss und Unterhaltungswert ein nicht zu leugnender Vorteil ist – die Dialogform des Textes –, schmälert den wissenschaftlichen Wert der Darstellung etwas: sie könnte stringenter, strukturierter und umfassender sein. So werden die Argumente oft nur angerissen, statt sie auszuführen und sie im Diskurs einer intensiven Beurteilung zu unterziehen. Viel Neues steckt damit für jemanden, der sich schon eingehend mit dem Thema befasst hat, nicht zwischen den rot-schwarzen Buchdeckeln. Das war auch nicht zu erwarten, denn für sie ist das Buch nicht gemacht. Es dient vielmehr dem gläubigen Katholiken als erste Orientierung in einem Minenfeld. Zugleich liefert es eine gute und unterhaltsame Zusammenfassung wichtiger Diskussionsmotive. Die Lektüre lohnt sich also in jedem Fall.

2. In der Einleitung von Richard Wagner („Über die Partei der Atheisten“) wird über den „Mythos Aufklärung“ aufgeklärt. Der „Aufgeklärte“ wähnt sich ethisch und epistemisch überlegen, weil er meint, „als Inhaber der Vernunft“ a) tolerant und b) wissend zu sein. Die Aufklärung wird zum „Instrument der Selbstüberhebung“, welche die „Aufgeklärten“ zwar „nicht zu Herren der Welt“ macht, aber doch zu „Inhabern der Beschlussfassung über diese“. Die Deutungshoheit ist weithin akzeptiert. In manchem Diskurs schlägt „Ich bin aufgeklärt!“ jedes Sachargument. Aufklärung ist für den Atheismus der Gründungsmythos, eine Erzählung von Vernunft und Fortschritt. Dabei wird die Ambivalenz der Aufklärung übersehen, die man nur erkennt, wenn man über die Aufklärung aufgeklärt ist (diese Aufklärung zweiter Ordnung bieten Soziologen wie Horkheimer und Theologen wie Ratzinger). Wagners Ruf nach mehr Bescheidenheit, zumindest aber nach mehr Reflexion auf die Bedingungen der eigenen Position, ist vor diesem Hintergrund sicherlich angezeigt. Dass dabei „das päpstliche Gleichgewicht von Glauben und Vernunft“ eine Schlüsselrolle spielt, davon soll das Gespräch eine Ahnung geben.

3. Zunächst wird in diesem der Atheismus inhaltlich und stilistisch seziert und auf seine inhärenten Widersprüche zurückgeführt: Er ist alt, obwohl er sich neu nennt, missionarisch, obwohl er areligiös sein will, aggressiv und dogmatisch, obwohl er meint, im Geist der Toleranz zu stehen, unhistorisch, wenn man von der eigenen Verortung als Phänomen der Aufklärung absieht, oberflächlich, obwohl er sich „wissenschaftlich“ gibt, ein randständiges Phänomen, obwohl er sich als einzig gültiges, alles umgreifendes Deutungsmuster geriert. Alles in allem: gestrig, naiv, vulgär, albern, enttäuschend und langweilig. Eigentlich kaum der Rede wert. Wenn die billige Phrasendrescherei beim „modernen Menschen“ nicht so reibungslos eingehen würde.

Hier trägt sicher das Missverhältnis bei der Themenwahl in den Medien dazu bei, den Glauben zu marginalisieren und am säkularistischen Programm der Verdrängung von Religion ins Private mitzuwirken, vor allem auch die Praxis der recht einseitigen Behandlung kirchlicher und religiöser Themen, die zumeist – wenn sie nicht gleich offen negativ dargestellt werden – als exotisch-bizarre Retrophänomene vorkommen. Doch auch die Kirche hat in ihrer Verkündigung nicht immer den besten Weg beschritten. So kommt das Buch eigentlich fast zu spät. (Die Frage muss übrigens erlaubt sein: Wieso muss ein Gespräch, das im Frühjahr 2007 geführt wurde, fast vier Jahre auf seine Veröffentlichung warten? Wieso erscheint es zuerst auf italienisch, wo es doch auf deutsch geführt und protokolliert wurde?)

4. Walter Kardinal Brandmüller legt Wert darauf, wichtige Differenzierungen nicht zu übersehen: Wort und Begriff, Bild und Bedeutung, Sage und Sache. Die „Analogie“ wird zum Schlüsselkonzept, die Ähnlichkeit, die keine Gleichheit ist. Analog, so pflegen Philosophen zu scherzen, bedeutet „genauso, bloß anders“. Das gilt es ernst zu nehmen.

Von Gott reden heißt: Das Unsagbare sagen. Das Sprechen von Glaubensinhalten kann nur eine Näherung bedeuten, nicht aber eine abgeschlossene Definition von Realia bieten. Dazu sind wir Menschen nicht in der Lage. Diese Hypothek der begrenzten menschlichen Vernunft schleppt die Religion in das Gespräch mit den Naturwissenschaften. Nur, wenn sie dort auf Vertreter der Zunft trifft, die auch für sich – bei allem Fortschritt – eine bescheidene Grenze ziehen, kann sie hoffen, dass ihre Analogien als solche ernst genommen werden und nicht – wie leider oft zu beobachten – schon als Analogie nicht akzeptiert, oder aber als Definition missverstanden und dann auch so behandelt wird. Das Sprechen über Gott ist immer ein Sprechen von Gott mit den Mitteln des Menschen.

Das Problem der exegetischen Hermeneutik liegt auf der Hand: Wann historisch, wann zeitlos, wann „wörtlich“ (besser: textnah), wann metaphorisch? Dass man sich den Zugang zur Bibel nicht beliebig zurecht legen kann, wie von religionskritischer Seite oft behauptet, um die Absurdität des Festhaltens an der ganzen Botschaft „nachzuweisen“, dafür stehen die literatur- und die geschichtswissenschaftliche Forschung mit ihren Methoden ein: Die Differenzierung von Textgattungen (je nach Adressat und Aussageabsicht lassen sich mit wenig Mühe etwa deskriptive und appellative Texte unterscheiden) und die Betrachtung des historischen Umfelds sowie die begleitenden Arbeiten der Papyrologen und Archäologen wehrt Deutungen, die allzu sehr daneben liegen. Das ist das Kleine Einmaleins der Exegese, an das leider immer wieder erinnert werden muss.

5. Das besonders Reiz- und Wertvolle an Kardinal Brandmüllers Stellungnahmen ist in der Tat die gelungene Verbindung von philosophischen Argumenten mit theologischen Erkenntnissen und Belegen aus der Geschichtswissenschaft bzw. den historischen Hilfswissenschaften. Daraus entwickelt der Dialog eine dezidierte philologische Kritik am Brachial-Atheismus und gibt Hinweise auf die geeignete Theologie, die das katholische Glaubensbekenntnis im Lichte der Historizität des Christentums deutet. Paradoxer Befund des Langner-Brandmüller-Gesprächs: Historiker zeigen, dass der historische Christus dem biblischen entspricht, weil sich Geschichte hinter den Geschichten auftut, während es ausgerechnet Vertreter der Theologie sind, die einen Keil zwischen „Geschichte“ und „Erzählung“ treiben.

Zur Beurteilung der intellektuellen Redlichkeit einer prinzipiellen Ablehnung des biblischen Zeugnisses über Jesus Christus als präjudiziert, zieht Kardinal Brandmüller einen interessanter Vergleich zwischen Sokrates und Jesus. Wir wissen über Sokrates nur aus zwei Quellen: von seinen Schülern Platon und Xenophon. Platon und Xenophon sind in Sachen Sokrates mindestens so parteiisch wie die Evangelisten in der Sache Jesu. Die Schüler des Philosophen verehren ihren Lehrer so sehr, dass sie – im Falle Platons ist das greifbar – ihm bzw. seinen Ideen ihr Leben widmen. Die Parallelen zur „Generation Jesu“ sind augenfällig. Warum aber – so die verblüffende rhetorische Frage Brandmüllers – stelle man diese unter den Verdacht der Verblendung, während man Xenophons und Platons Angaben zu Sokrates als gesichertes ideengeschichtliches Wissen verbucht? Vielleicht hat Platon bei den Dialogen nicht richtig zugehört, vielleicht sind sie auch frei erfunden. Vielleicht hat es Sokrates am Ende gar nicht gegeben. Absurd? Sicher! Doch wenn wir eben dies über den anhand der Quellenlage viel besser belegten Jesus von Nazareth sagten, bekämen wir vom Zeitgeist zehn IQ-Punkte gratis.

Doch es geht viel weniger um den historischen Jesus als Wanderprediger (über 90 Prozent der Menschen in Deutschland gehen davon aus, dass dieser Jesus gelebt hat), sondern um den auferstandenen Jesus als Sohn Gottes. Hier gibt es zum einen unterschiedliche Konzepte von „Auferstehung“ und hier trennt sich auch die Spreu vom Weizen des Glaubens. Warum an der leiblichen Auferstehung Jesu (an die nur knapp 30 Prozent der Menschen in Deutschland glauben) festzuhalten ist, zeigen Langner und Kardinal Brandmüller aus dem Arsenal der gleichen guten Gründe, aus denen an der Historizität Jesu festzuhalten ist: die Historizität der Evangelien. Es gibt von der kritischen Geschichtswissenschaft (wohl aber von der liberalen Theologie) keine Einwände gegen die Glaubwürdigkeit von Passions- und Auferstehungserzählung, die damit keine Geschichte ist, sondern Geschichte beschreibt – und Geschichte schreibt.

6. Die Wunderberichte der Bibel und der Kirchengeschichte sind ebenfalls ein beständiger Stein des Anstoßes. Wunder müsse man, so Kardinal Brandmüller, unter einer anderen Prämisse betrachten. Heute fragten wir: „Ist es möglich?“ Doch die richtige Frage laute schlicht: „Ist es passiert?“ Der Nachweis der Gültigkeit einer Kombination aus beiden Fragen („Es kann nicht passiert sein, weil es nicht  möglich  ist!“) obliegt dem, der sie vornimmt. Keine wissenschaftliche Erklärung zu haben ist zwar nicht hinreichend dafür, von einem Wunder zu sprechen, aber eben auch nicht dafür, die Möglichkeit von Wundern auszuschließen. Im Gespräch wird ein beeindruckender Fall geschildert: das Wunder von Calanda. Kurzfassung: Einem Unterschenkelamputierten wächst auf die Fürsprache Mariens in der Nacht vom 29. auf den 30. März 1640 ein neues, gesundes Bein. Ein Wunder! Oder was? Eine Ungeheuerlichkeit! Fand man damals auch: „Der Vorgang war so unerhört, dass sofort eine medizinische, juristische und theologische Untersuchung erfolgte, deren Dokumentation lückenlos vorhanden ist und jeder historisch-kritischen Prüfung standhält. Die Zahl und Kompetenz der befragten Zeugen gestatten keinen vernünftigen Zweifel an dem Ereignis.“ Mittlerweile ist das Wunder von Calanda in über 100 meist kritischen Publikationen eingehend untersucht und geprüft worden.*

Es kann „keinen vernünftigen Zweifel“ geben, das heißt: Selbstverständlich bleibt unvernünftiger Zweifel zulässig. Und selbstverständlich muss man nicht an die kausale Wirkung des Fürbittgebets glauben (der Betroffene humpelte zuvor „mehr als 2 Jahre immer wieder mit seinen Schmerzen zu dem Marienheiligtum Santa Maria del Pilar zu Saragossa“). Dass über Nacht ein Bein wächst, könnte sonst welche Gründe haben. Aber der Unglaube rechtfertigt nicht, die kausale Wirkung als „unmöglich“ zu verneinen. Zu sagen „Wir haben ja auch keine Erklärung. Aber auf keinen Fall war es Gott!“, das ist – unvernünftig. – „Und? Glaubst Du das?“ Ganz ehrlich: Es fällt mir schwer. Doch ich sehe bei der vorliegenden Aktenlage keinen Grund, nicht daran zu glauben, dass geschehen ist, was beschrieben wird. Und ich sehe mich nicht in der Lage, eine kausale Wirkung des Gebets auszuschließen. Ich sage stattdessen: „Sein Glaube hat ihm geholfen!“ Andererseits spielt es für meinen Glauben keine tragende Rolle, was wirklich geschah, wie es geschah und wodurch es geschah. Ich glaube nicht an Gott, weil er Beine wachsen lässt, sondern Hoffnung und Liebe.

7. In diesem Glauben liefern die Gesprächspartner entlang des Apostolischen Glaubensbekenntnisses viele knackige Beschreibungen (die – siehe oben – immer nur den Status der Näherung haben können, nicht der Definition) zu zentralen Topoi des Katholizismus wie der Göttlichkeit Christi, der Jungfräulichkeit Mariens,  der Heiligkeit der Kirche, der Vergebung der Sünden, der Auferstehung der Toten und der „Hölle“, denn: „Die Möglichkeit, dass ein Mensch für ewig scheitert, besteht ganz real. Jesus selbst und die Apostel sprechen davon in drastischen Bildern! Das kann und darf man nicht unterschlagen!“ Ebenso wenig wie die Tatsache, dass „mit der Botschaft von der Sünde und ihren Folgen“ – also des Rede vom „Scheitern“ – „auch die Botschaft von der Vergebung verkündet“ wird. „Wozu also die Aufregung?“ fragt Kardinal Brandmüller. Gute Frage!

Getragen von dem Gedanken, dass dieses Bekenntnis metaphysische Tiefe ausspricht, betonen Langner und Kardinal Brandmüller die enge Verbindung von Glauben und Vernunft im Christentum. Brandmüller sagt: „Glaube ohne Vernunft ist genauso vernunftwidrig wie Vernunft ohne Glauben.“ – Langner ergänzt (im Rekurs auf die Botschaft Papst Benedikts XVI. in der zum Zeitpunkt des Gesprächs vieldiskutierten „Regensburger Rede“ aus dem Herbst 2006): „Den die Vernunft wird ohne den Glauben nicht heil, und der Glaube wird ohne Vernunft nicht menschlich.“ Doch Vernunft hin und Vernunft her. Letztlich gilt, was „schon Thomas von Aquin wusste“ und was Kardinal Brandmüller zitiert: „,Homo credere non potest nisi volens.‘ – Der Mensch kann nur glauben, wenn er es will.“

Man ist des öfteren geneigt, „Amen“ zu sagen.

(Josef Bordat)

Bibliographische Daten:
Walter Kardinal Brandmüller / Ingo Langner: Vernünftig glauben. Ein Gespräch über Atheismus
Fe Medienverlag Kißlegg (2010)
224 Seiten, € 6,95
ISBN 978-3-86357-000-2

*Bei Interesse: Die Akten sind 2006 in einer kritischen Edition erschienen (Tomás Domingo Pérez: El milagro de Calanda y sus fuentes históricas, Zaragoza: CAI).

Kommentare sind geschlossen.