Faustrecht 2.0?

21. Juni 2012


Internet und Demokratie – Stephan Eisel klärt darüber auf, dass diese von jenem nicht ohne weiteres hervorgebracht wird.

1. Die Sache scheint klar: Das Internet stärkt die Demokratie. Das Internet, in dem jeder über alles reden kann, bedeutet Beteiligung aller und Offenheit – nach allen Seiten. „Transparenz“ ist das Zauberwort. Was kann der Demokratie Besseres passieren? Doch auf dem zweiten Blick zeigt sich: Demokratie ist mehr als „Transparenz“. Der „gläserne Politiker“ garantiert noch keine guten Entscheidungen, so wenig wie der „offene Diskurs“. Im Gegenteil: Es kann durchaus sein, dass wir durch die schrankenlose Beteiligung und schamlose Offenheit immer mehr den Blick für das Wesentliche verlieren und die kritische Ausdeutung dessen, was wir im Netz finden, hinter die Aktualität der nächsten Enthüllung zurücktritt.

Wenn alles um uns herum immer offener und durchsichtiger wird, sich unterschiedslos anbietet, fällt zum einen die Auswahl schwerer, zum anderen braucht es Rechtfertigungen für den geeigneten Umgang mit den zu Tage tretenden Fakten. Diese müssen in Dispositionen gründen, die ihrerseits nicht zum vermittelbaren Datum eingestampft werden können, auch wenn die Verlockung besteht. Gerade im Internet setzt man auf die Gleichförmigkeit der Daten, die zur Gleichwertigkeit der Informationsangebote wird. Wenn Geschichte, Reputation und Kontext aber keine Rolle mehr spielen, werden Daten undeutbar. Daten sind nur der notwendige, keineswegs der hinreichende Schritt auf dem Weg, etwas über eine Sache zu erfahren, Information muss interpretiert werden, um Wissen zu bilden. Der Weg beginnt mit dem Fund des Datums, er endet nicht dort. Heute ist das anders: Das Datum ist das, was gewusst werden kann. Das große epistemologische Problem besteht also darin, dass gar nicht mehr zwischen Information und Wissen (als interpretierte Information) bzw. zwischen Wissen und Wahrheit (die mehr ist als der Wissensbestand) unterschieden wird. Das Interpretament gilt als nicht mehr interpretationsbedürftig. „Es steht bei Wikipedia!“ Mehr geht nicht.

Die unterschiedlichen Modi menschlicher Orientierung in Welt und Wirklichkeit werden im Konzept des Datums zusammengezurrt. Daten speichern, was es zu wissen gibt und was wahr ist – extra datum nulla veritas. Sie und nur sie sind Träger dessen, was ist. Was sich nicht als Datum ausdrücken lässt, etwa religiöse Erfahrung, kann in diesem Denken nicht nur unmöglich in mehr als rein subjektivem Sinne „wahr“ sein, es kann überhaupt nicht sein. Die Neuen Medien perpetuieren damit einen naturalistischen Zugang zur Welt, der Wahrheit an sinnliche Erfahrbarkeit bindet und die Sinnfrage – wenn sie denn schon gestellt werden muss – im Rahmen dieser Wahrheit beantwortet.

Besonders deutlich zeigt sich die Mogelpackung „Freiheitszuwachs“. Das Internet (etwa „Wikipedia“) ist insoweit demokratischer als die Print-Medien (etwa der „Brockhaus“), als im Netz jeder zu allem eine Meinung äußern darf und diese dann sehr leicht publizieren kann, es weist aber ähnliche expertokratische Strukturen auf wie die „reale Welt“, ohne dass dabei jedoch klar wäre, worauf sich das Expertentum stützt. Bei Wikipedia ist es die Masse. Das ist aber ein sehr problematisches Kriterium. Das Prinzip „Irgendjemand wird etwaige Fehler schon korrigieren.“ funktioniert nur, wenn man Werturteilsfreiheit unterstellt (also im Paradigma des Naturalismus denkt) und „Interessen“ (Habermas) weitgehend ausschließt. Bei vielen Themen gibt es jedoch diese „Neutralität“ nicht (es gibt Wissenschaftsphilosophen bzw. –soziologen, die sogar meinen, diese Neutralität gäbe es nie). Dort muss man unterschiedliche Meinungen sorgfältig zusammentragen und bewerten und dabei eigene „Interessen“ deutlich machen. Das ist möglich, wenn ein Klima des Dialogs herrscht. Das herrscht jedoch im Internet nur selten. Wie auch, wenn Anonymität und Transparenzwahn jedes Vertrauen zerstören? (vgl. dazu Transparenzgesellschaft)

2. Stephan Eisel, ehemaliges Mitglied des Deutschen Bundestages, nähert sich in seiner Studie Internet und Demokratie, erschienen bei Herder und herausgegeben im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung, in fünf großen Schritten einer Antwort auf die Frage, wie sich das Internet zur Demokratie verhält. Der Verfasser hat mit dem Thema ganz eigene Erfahrungen gemacht: Seine Website wurde von anonymen Hackern manipuliert, nachdem sie sich Zugang zu dieser verschafft hatten – Beteiligung: ja, Offenheit: ja, doch: Demokratie? Drei Fragezeichen.

Zum Text. Zunächst beschreibt Eisel im ersten Kapitel die Begriffe, die er aufeinander beziehen will, sehr sorgfältig und faktenbasiert. Auch wenn Zahlen zum Thema „Internet“ schneller veralten als Druckerschwärze trocknet, bekommt man einen Eindruck von der Bedeutung dieses neuen Mediums. Das Konzept „Demokratie“ erschließt er ganz klassisch, ausgehend vom „Wertefundament“ dieser Staatsform. Es gehe, kurz gesagt, bei der freiheitlich-demokratischen Grundordnung um den offenen Prozess des Suchens und Findens eines „Minimalkonsens“, bei besonderer Achtung der „Menschenwürde“. Demokratie sei dabei keine Mehrheitsdiktatur – „Handlungen der Mehrheit müssen für die Minderheit zumutbar bleiben.“, schon deshalb, weil Mehrheiten zeit- und raumindiziert sind, also regelmäßig wechseln.

Ist das Internet in diesem Sinne demokratisch? Dieser Frage geht Eisen in den folgenden vier Kapiteln nach. Sie lässt sich gemäß der eingangs vorgenommenen Konzeptualisierung weiter ausdifferenzieren: Fördert das Internet die Freiheit des Einzelnen, seine Autonomie, oder schränkt sie diese eher ein? Verstoßen die besonders relevanten Formen des Internet (allen voran die sozialen Kommunitäten, etwa Facebook) gegen die Menschenwürde oder können sie umgekehrt die Menschenrechte als politische Ausdrucksformen dieser Würde stärken? Läuft die Meinungsbildung im Internet als offener Prozess unter Beteilung aller, die sich beteiligen mögen? Was trägt das Internet für die Entscheidungsprozesse aus – führt es tatsächlich zu mehr Transparenz und Effizienz? Ist das Internet also am Ende wirklich näher am Bürger und kann – ganz konkret – das Wahlkreisbüro ersetzen?

Es gibt selten ein klares Ja oder Nein, ein deutliches Pro oder Contra, doch Eisel macht deutlich, dass das Bild vom Internet als „per se demokratisch[es]“ Medium falsch und eine gesunde Skepsis angebracht ist, wenn es aufgrund von Politskandalen und Parteienverdrossenheit in die Rolle eines „Retters“ der modernen Demokratie hochgejubelt wird. Der Verfasser spricht dabei als Politologe und Politiker, als Demokratietheoretiker und Parteipraktiker. Das macht die Antworten besonders glaubhaft.

Grundsätzlich stellt Eisel mit Claus Leggewie fest, dass es darauf ankomme, eine „Grundentscheidung für den ,Vorrang der wirklichen Demokratie vor der virtuellen Technologie’“ zu treffen, eben weil das Internet nicht zwangsläufig die demokratischen Prinzipien aus sich selbst heraus erhält. Das bedeute jedoch auch nicht, das Internet sei „per se anti-demokratisch“. Es muss schlicht „in den Dienst der Demokratie gestellt werden“, weil es sich nicht von selbst in diesen Dienst stellt. Ergo müssen „auch im Internet demokratische Spielregeln immer von neuem durchgesetzt werden“.

Skepsis sei bereits angebracht, wenn es um die angeblichen Segnungen der virtuellen Welt geht, um die Kernkompetenzen des Internet, zum Beispiel um die grenzenlose Beteiligungsmöglichkeit. Zwar sind die Informationswege für alle User gleich kurz und gleich schnell, doch herrsche, so Eisel, im Netz eine Elite, die eine ähnliche Türsteherfunktion erfülle wie Eliten in der realen Welt. Auch um die vielgepriesene Offenheit, soweit sie inhaltlich gemeint ist, stehe es bei aller Gier nach Transparenz sehr schlecht: Eisel macht im Internet zwischen dem unerschöpflichen Angebot an Ansichten und dem „Tunnelblick“ der Nutzer, die nur das „Vertraute und Bestätigende“ wahrnehmen, einen „seltsamen Widerspruch“ aus. „Offenheit für neue Argumente und Sichtweisen“: Fehlanzeige. Es drohe eine „Echogesellschaft der Gleichgesinnten, die sich Neuem und Anderem verschließt“ und deren Exponenten sich in der Fehlannahme, man vertrete „das Volk“, bequemerweise gleich selbst zu höchst undemokratischem Verhalten wie der Bloßstellung von Menschen und der Manipulation von Internetseiten legitimiert.

3. Das Internet ist weder notwendig noch hinreichend für die moderne Demokratie. Es muss, um dieser dienlich zu sein, als Instrument der Informationsbeschaffung und Bürgerbeteiligung in die demokratische Ordnung eingepasst werden. Um das Netz für Politik und Gesellschaft fruchtbar werden zu lassen, formuliert Eisel schließlich zwanzig richtungsweisende Thesen, in denen er Freiheit an Verantwortung knüpft. Das Internet habe, so die Ausgangsthese, keinen Zweck an sich, sondern sei ein Mittel, dessen Wert sich „nach dem Zweck [bestimmt], für den es eingesetzt wird“ (die Thesen als Leseprobe [pdf]).

Das Internet ist als Medium ambivalent. Diese Ambivalenz durchzieht alle angesprochenen Bereiche, gehe es die Menschenwürde, die Demokratie, die Wirtschaft, die Sicherheit oder die Debattenkultur. Immer stünden den Vorzügen erhebliche Nachteile gegenüber. Für Eisel ist daher „die Durchsetzung demokratischer Grundwerte“ im Internet eine „unverzichtbare Pflicht“, wenn das Netz „von seiner Ambivalenz befreit werden soll“.

Wie Recht der Verfasser damit hat, zeigt auch seine eigene Geschichte bzw. die seiner Internetseite. Auch, wenn es im Netz nur selten so eindeutig undemokratisch zugeht wie in diesem Fall, gilt es doch, die Augen offen zu halten und dem aus Anonymität, Elitebewusstsein und Autolegitimation geborenen Faustrecht 2.0 entgegenzutreten (vgl. dazu Hört auf? Fangt an!). Stephan Eisel will sich davon jedenfalls nicht „mundtot“ machen lassen, wie er immer wieder betont. Auf diese Weise trägt der Autor höchstpersönlich zur Stärkung der Demokratie im Internet bei.

Bibliographische Angaben:

Stephan Eisel: Internet und Demokratie. Herausgegeben im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung
Freiburg i. Br.: Herder (2011)
358 Seiten, 15 Euro
ISBN 978-3-451-30351-7

Weitere Angaben zum Buch auf der Seite der Konrad-Adenauer-Stiftung und beim Herder-Verlag

Stephan Eisel betreibt ein Weblog zum Thema Internet und Demokratie, auf dem die Thesen des Buches weiter ausgeführt und diskutiert werden.

(Josef Bordat)

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