Quotengarant Beschneidung

9. Oktober 2013


Wer von der extrem raren Ressource Aufmerksamkeit besonders viel haben will, sollte nicht über Abtreibung, Christenverfolgung oder Klimawandel schreiben, sondern über Tebartz-van Elst. Dachte ich. Stimmt aber nicht. Noch besser geht: Beschneidung. Denn: „Nichts, kein Terroranschlag, kein Euro, kein Hunger und kein Krieg, erregt die Deutschen so sehr wie die Vorhaut.“ (Harald Martenstein, Tagesspiegel). Ich gebe zu: Ich will Aufmerksamkeit. Nicht um jeden Preis, sonst würde ich mir die Haare färben, also blau oder so, aber doch um den Preis, über Dinge zu schreiben, die eigentlich nicht im Zentrum meines Interesses stehen. Also: Beschneidung.

Und tatsächlich: Nach fünftausend Artikeln über eher randständige Themen wie Gott, Religion, Kirche, Menschen, Krieg, Humanitäre Interventionen, Lebensschutz, Ethik, Vietnam, Bibel, Menschenrechte, Fußball, Politik, Bücher, Kultur, Kunst, Syrien, Leben und Tod und Nahtod – alle mit mehr oder weniger mäßigem Zuspruch – gab es nun erstmals eine Flut an Rückmeldungen via E-Mail und über Facebook, die ich in dieser Fließgeschwindigkeit frühestens zu meiner Pensionierung erwartet hätte.

Auf der Facebook-Seite von Jobo72 startete beispielsweise eine Debatte, als ginge es mindestens um den Fortbestand des Abendlandes. Oder um die Frage, auf welcher Position Philipp Lahm spielen sollte. Das ganze unter Beteiligung einer zweistelligen Personenzahl und mit annähend siebzig Kommentaren und Kommentar-Antworten in wenigen Stunden nach Erscheinen des Artikels. So etwas habe ich noch nie erlebt. Bisher dachte ich: „Ich schreib mal einen Essay oder fünfzig Blog-Beiträge zum Thema und dann hat sich die Sache irgendwann.“

Aber: Nein. Die Sache läuft und läuft und läuft. Sie ist praktisch ein Selbstläufer. Mit Talkshows zum Thema „Beschneidung“ könnte man angeschlagene Fernsehsender retten. Mein nächstes Buch wird nicht Das Gewissen heißen, sondern irgendwas mit Beschneidung – auch wenn es um die Geschichte des 1. FC Köln geht! Oder um Gott, Religion, Kirche, Menschen, Krieg, Humanitäre Interventionen, Lebensschutz, Ethik, Vietnam, Bibel, Menschenrechte, Fußball, Politik, Bücher, Kultur, Kunst, Syrien, Leben und Tod. Und Nahtod. Alles marketingstrategischer Windhauch! „Beschneidung“ – das ist der Harry Potter des Feuilletonjournalismus.

Die Beschneidungsdebatte ruft – ich sag jetzt mal – „Emotionen“ hervor, die ich bisher mit jungen Männern auf baufälligen brandenburgischen Sportplatztribünen assoziiert hatte und sie führt zu der einigermaßen bizarren Situation, dass ich mich gleichermaßen gegenüber sehr, sehr traditionellen Katholiken und sehr, sehr ambitionierten Kindeswohlanwälten dafür zu rechtfertigen habe, dass ich Juden die Ausübung ihrer Religion nicht verbieten will. Der Schulterschluss von Piusbrüdern und Kampfatheisten in der Beschneidungsfrage ist wirklich bemerkenswert.

Aber am bemerkenswertesten ist das Engagement, mit dem Menschen zu Werke gehen, für die die Beschneidung nicht nur das Hauptproblem unserer Zeit dazustellen scheint, sondern das einzige. Sie stellen sich rund um die Uhr als Kommentatoren zur Verfügung und bringen den Klout-Index auf Rekordhöhen. Ihr Engagement lässt in der Regel keine besonders intensive Auseinandersetzung mit dem kommentierten Text erkennen, ist daher nicht immer ohne weiteres nachvollziehbar oder gar irgendwie darauf angelegt, zu einem halbwegs sachlichen Gespräch zwischen zivilisierten, kultursensitiven Menschen zu gelangen – aber wen interessiert’s?! Ich meine, wen interessiert es dann noch, wenn Facebook am Abend statt von den üblichen 2 von 407 Interaktionen berichtet und wenn selbst WordPress gratuliert („Your stats are booming! Looks like ,Jobo72’s Weblogʼ is getting lots of traffic!“). Yes – „Beschneidung“, you know! Da verblassen dann auch ambitionierte Droh-E-Mails mit lustigen Tiernamen.

Fazit: Ich sollte dieses ganze Philosophiezeugs lassen und nur noch über die Beschneidung schreiben. Sollen sich doch Andere um Gott, Religion, Kirche, Menschen, Krieg, Humanitäre Interventionen, Lebensschutz, Ethik, Vietnam, Bibel, Menschenrechte, Fußball, Politik, Bücher, Kultur, Kunst, Syrien, Leben und Tod kümmern! Und um Nahtod auch.

(Josef Bordat)

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