Sex im Alten Rom

17. Dezember 2013


Oder: Wie man trotzdem gegen Christen hetzt

Vor kurzem noch zog ich die Klassifizierung katholischer Sexualmoral als „altertümlich“ terminologisch in Zweifel. Nun liefert ein kurzer Artikel in der Online-Ausgabe der Gratis-Zeitung „20 Minuten“, die es in vielen deutschsprachigen Großstädten an Nahverkehrsbahnhöfen für die Fahrt zur Arbeit gibt, dafür den Beleg. Und noch einiges mehr.

Der Text berichtet über eine interessante Neuerscheinung: From Shame to Sin. The Christian Transformation of Sexual Morality in Late Antiquity des Historikers Kyle Harper (University of Oklahoma), der insbesondere durch Studien zur Sklaverei in der Antike auf sich aufmerksam gemacht hat. In seinem neuen Buch verdeutlicht er offenbar vor allem die enge Verbindung von Sex und Sklaverei – ein Thema, das auch heute nicht vom Tisch ist, wie die Debatte um (Zwangs-)Prostitution zeigt.

Nachdem nun das ganze Drama des Umgangs mit dem Körper der Anderen in der Antike geschildert wurde, führt der Artikel den Topos ein, der im Alten Rom die Wende brachte: das Christentum. Zunächst einmal wurde das Christentum mit dem Toleranzedikt von Mailand nach drei Jahrhunderten blutiger Verfolgung eher geduldet („tolerare“) als „gefördert“, aber lassen wir die Spitzfindigkeiten. Betrachten wir stattdessen die Fakten – und was man in „20 Minuten“ daraus machen kann.

Mit dem Christentum war es vorbei mit dem schönen Leben der antiken Ein-Prozent-Oberschicht. Die Versklavung von Frauen und Männern zum Zweck des geschlechtlichen Zeitvertreibs wurde den Herrschaften nicht mehr unhinterfragt zugestanden. Das Christentum vermaß mit dem Sakrament der Ehe den Raum menschlicher Sexualität neu. Für Sex außerhalb dieser auf Dauer und auf das Leben ausgerichteten Liebesbeziehung war kein Platz und für Sexsklavinnen und -sklaven kein Bedarf mehr. So war das damals – und sollte eigentlich als bekannt vorauszusetzen sein.

Das diskurstheoretisch interessante Moment liegt nun darin, wie diese Befreiung in den „20 Minuten“ ausgedeutet wird. Da „stülpten“ nun „die Christen“, als sie „an die Macht kamen“, sogleich „ihre Vorstellung dem ganzen Reich über“. „Hassprediger“ – das steht da wirklich – „prügelten den Leuten die neuen Regeln ein“ und zwar wiederum „im ganzen Reich“. Ich habe das Harper-Buch nicht gelesen, insoweit weiß ich nicht, auf wessen Mist diese Einschätzung gewachsen ist, jedenfalls liegt sie dem zuvor geschilderten Szenario dramatisch quer. Es fragt sich ja doch wie das zusammenpasst: Das Ende der durchsexualisierten Ausbeutergesellschaft, in denen Menschen verdinglicht und gebraucht wurden – und die „Macht“, der „Hass“, die „Prügel“ derer, die für eben dieses Ende sorgten.

Dass man „die Christen“ heute routinemäßig in ein möglichst schlechtes Licht stellt, ist das eine. Dass man es aber nicht einmal mehr für nötig hält, den Kontext der Hetze so zu gestalten, dass sie, die Hetze, irgendwie nachvollziehbar wird, zeigt, wie sehr man heute sicher sein kann, die Leserschaft auf seiner Seite zu haben, so man denn nur gegen „die Christen“ schreibt. Die Befreiung der Mehrheit von einer brutalen und dekadenten Minderheit, die sich allein bemächtigt, den Begriff „Spaß“ zu definieren, als gewaltsame Demonstration von „Hass“ und „Macht“ zu beschreiben – das führt nur dann nicht zum kollektiven Hirninfarkt, wenn es bei den Menschen, die so gewaltsam und mächtig hassen, um „die Christen“ geht. Denn die kennt man schon.

Übrigens – das fehlt im Artikel, ob auch bei Harper, weiß ich nicht – besaßen „die Christen“ zudem noch die Frechheit, der spätantiken Welt (also: vor allem den freien, reichen Männern in dieser Welt) eine ganz besondere „Spielart der Sexualität“ zu verleiden: die „Knabenliebe“, die heute in Deutschland als Sexueller Kindesmissbrauch strafbar ist, auch deshalb, weil „die Christen“ mit ihrer Haltung für das dazu notwendige „Unverständnis“ sorgten: „Es ist zu vermuten, dass die heftige Ablehnung der Knabenliebe durch die Kirchenväter das bis zum heutigen Tage anhaltende Unverständnis für diese griechische Spielart der Sexualität bestimmt hat und dadurch auch die rechtsethische Verurteilung bewirkte“ (B. Kanitscheider, Die Materie und ihre Schatten, Aschaffenburg 2007, S. 239; vgl. hier).

Die Frage ist unterdessen interessant: Wieso setzten sich die christlichen Ideen zur Sexualmoral durch? Warum hielten sie sich? Warum sind sie heute nicht schon längst abgeschafft, zugunsten von Sexsklavinnen, Knabenliebe und all den anderen schönen Dingen? Könnte es – nur mal angenommen – sein, dass das Christentum mit seiner Sexualmoral die Natur des Menschen eher trifft als die Sexualamoral der Antike? Und dass sie sich deshalb durchsetzte? Oder ist es tatsächlich der Kirchendreiklang aus „Macht“, „Hass“ und „Gewalt“, der die Massen heute noch gängelt und mit dem der moderne Mensch die Melodie der Weltgeschichte anstimmt?

Damit wir uns nicht falsch verstehen und so manche E-Mail ungeschrieben bleiben kann: Ja, auch Gemeindereferenten gehen ins Bordell, ja, auch Priester haben Kinder sexuell missbraucht. Dass es diese Fälle auch innerhalb der Christenheit gibt, ist schlimm. Dass sie aber überhaupt als schlimm angesehen werden, ist das kulturgeschichtliche Verdienst des Christentums.

Das Verdienst des „20 Minuten“-Artikels ist es indes, gezeigt zu haben, wohin es mit dem Journalismus geht. Der Beitrag in der Rubrik „Wissen“[sic!] liefert zu dem tendenziösen Text nicht nur eine Bildergalerie mit pornographischen Darstellungen aus Pompeji, sondern unter „Themenverwandte Videos“[sic!] auch noch den schlagenden Beweis, dass es mitten in Europa doch noch Flecken gibt, die von der Prüderie des Paulus und der Prügel seiner Nachfolger verschont geblieben sind: „Schweizer reden eher über Sex als über Lohn“. Na, dann.

(Josef Bordat)

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