Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit

4. April 2013


Artikel 4 unseres Grundgesetzes führt Gewissen, Glauben und Religion zusammen. Absatz 1 lautet: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“ Und Absatz 2 ergänzt: „Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“ Neben diesem äußeren Zusammenhang, den das Recht herstellt, gibt es einen inneren Zusammenhang: Das Gewissen ist einerseits die Instanz, vor der sich der religiöse Glaube zu rechtfertigen hat, vor der seine Werte und Normen geprüft werden, andererseits haben diese wiederum eine große Bedeutung für die Begründung und Bildung des Gewissens, zumal aus Sicht des christlichen Glaubens katholischer Prägung.

Dass Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit eine untrennbare Einheit bilden, ist jedoch keineswegs unumstritten. Der Jurist und Philosoph Paul Tiedemann formuliert in seinem Buch Was ist Menschenwürde? Eine Einführung (2006) eine „Identitätstheorie der Menschenwürde“, die den Begriff der Würde über die personale Integrität definiert. Geachtet wird die Würde des Menschen dann, wenn Eingriffe unterbleiben, welche die „Authentizität und Identität [der Person, J.B.] gefährden, einschränken oder vernichten“ (S. 119). Das sei etwa dann der Fall, wenn der Mensch „in einen Zustand des Gewissenskonflikts“ (S. 134) versetzt wird. Dies dürfe nicht geschehen, „weder durch die Aussicht auf Wohltaten noch durch die Androhung von Übeln“ (S. 135). Positiv gesprochen: Die Gewissensfreiheit muss gewahrt sein, so die Menschenwürde geachtet werden soll.

Religionsfreiheit, soweit sie sich auf Rituale bezieht, welche als spezifisch religiöse Handlungen nicht durch die allgemeine Kommunikations- bzw. die Gewissensfreiheit geschützt sind, könne hingegen nur dann zum Bereich der Menschenwürde gerechnet werden, wenn nachgewiesen werde, dass durch nicht ausgeübte religiöse Praxis die „Bildung und Aufrechterhaltung einer personalen Authentizität und Identität“ gefährdet sei (S. 137). Weil ein Vorliegen dieser Gefährdung zwischen religiösen und nicht-religiösen Menschen freilich umstritten bleibt und der Nachweis, dass „religiöse Amusikalität notwendigerweise oder zumindest hinreichend wahrscheinlich zu persönlichkeitsdeformierenden Verdrängungsreaktionen etwa auf die Angst vor dem Tode oder zu pathologischen Reaktionen auf die Katastrophen des Lebens führt“, nach Meinung des Verfassers kaum gelingen kann (wenn er von diesem überhaupt ernst gemeint ist), führt das den Verfasser schließlich zu der Schlussfolgerung, dass Religionsfreiheit „kein Achtungsbereich der Menschenwürde“ (S. 137) sei.

Dieser Schluss impliziert für den religiösen Menschen aber gerade das, was Tiedemann zuvor im Hinblick auf das Gewissen als Würdeverletzung ausgeschlossen hatte: der Mensch, dem die Religion wichtig ist, wird „in einen Zustand des Gewissenskonflikts“ versetzt, wenn er sie nicht ausüben kann. Auch dann, wenn man der Religion keine allgemeine Bedeutung beimisst, weil diese nicht nachzuweisen ist, bedeutet das nicht, dass man sie aus dem Kanon jener Aspekte ausschließen kann, die die Würde des Menschen konkretisieren. Die Pressefreiheit verliert ja auch nicht dadurch an Wert, dass es Menschen gibt, die keine Zeitung lesen und sich trotzdem glücklich schätzen. Selbst, wer für die religiöse Praxis nur Spott übrig hat, muss die Ernsthaftigkeit anerkennen, die damit verbunden ist. Dass religiöse Menschen leiden, wenn sie ihre Religion nicht mehr praktizieren dürfen, und zwar so sehr, dass sie sich nicht mehr als sie selbst fühlen, mag in den Ohren eines Menschen, für dessen Identität und Integrität Religion keine Bedeutung hat, unverständlich klingen, es bleibt aber eine Tatsache.

Religion ist für die Mehrheit / für mich / für XY nicht wichtig, also hat es gefälligst auch für dich nicht wichtig zu sein! – Diese Haltung begegnet einem immer öfter. Sie geht weit hinter das zurück, was die Toleranz gebietet. Sie wird möglich, indem man das Junktim von Gewissen, Glauben und Religion (einschließlich ihrer Ausübung) aufknüpft. Damit wird – unter scheinbarer Wahrung von Artikel 4 Absatz 1 Grundgesetz – Absatz 2 des Artikel 4 infrage gestellt. Die „ungestörte Religionsausübung“, die bislang als ein möglicher und insoweit achtbarer Ausdruck der „Freiheit des Glaubens, des Gewissens und […] des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses“ gelten konnte, muss gar nicht mehr „gewährleistet“ sein, um den Glauben, das Gewissen, das Bekenntnis im Status „unverletzlich“ zu halten. „Räsoniert, soviel ihr wollt, aber gehorcht!“, war einst das Motto des „aufgeklärten Monarchen“. „Glaubt, was ihr wollt, aber zeigt es nicht!“, scheint das Motto der „aufgeklärten Demokraten“. Denn genau das steckt in letzter Konsequenz hinter Religion ist Privatsache.

(Josef Bordat)

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