Neue Studie zu Missbrauchsfällen in kirchlichen Einrichtungen

25. März 2014


Und eine kleine Bestandsaufnahme, wie selbstverständlich negative Deutungen von Sachverhalten zum Thema Katholische Kirche im Diskurs verhandelt werden.

Wie vor rund einem Jahr – nach dem Bruch des Auftraggebers Kirche mit dem Auftragnehmer Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen (Christian Pfeiffer) – bereits angekündigt, unternimmt die Katholische Kirche in Deutschland nun einen zweiten Versuch, eine die Missbrauchsfälle in kirchlichen Einrichtungen seit 1945 beleuchtende Studie durchführen zu lassen. Ein siebenköpfiges Professorengremium um den Neurowissenschaftler Harald Dreßing vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim soll in den kommenden 42 Monaten den Missbrauch in der katholischen Kirche „so transparent wie möglich“ aufarbeiten. Ich wünsche den beteiligten Forschern eine gute Arbeit und den Ergebnissen, dass sie solide belegt und nachvollziehbar dargestellt werden. Der Kirche kann eine solche Untersuchung nur gut tun – ganz gleich, was dabei herauskommt.

Was genau das sein wird, wissen die Tagesschau-Kommentatoren schon jetzt: Nichts. Oder nicht viel. Jedenfalls nichts, was die Kirche nicht zuvor manipuliert hat. Die Bestandsaufnahme: Von 22 Kommentaren sind zwei wohlwollend – einer lobt die Aufklärungsinitiative als solche und nimmt die Kirche gegen Pauschalanklagen („Täterorganisation“) in Schutz, ein anderer bestreitet den kurz zuvor behaupteten Zusammenhang zwischen Zölibat und Missbrauch –, 20 sind mehr oder minder deutlich gegen die Kirche gerichtet. Die nachfolgend zitierten Kommentare wurden behutsam an die Regeln der deutschen Sprache angepasst, ohne dabei inhaltliche Veränderungen vorzunehmen.

Anstatt anzuerkennen, dass die Kirche die einzige Institution in Deutschland ist, die eine solche Untersuchung vornehmen lässt, wird über mangelnde Neutralität der Wissenschaftler („Laut Wikipedia arbeitete das ‚Zentralinstitut für seelische Gesundheit‘, das jetzt als federführend beauftragt wurde, eng mit Caritas, Gemeindediakonie und dem Sozialdienst katholischer Frauen zusammen.“), vernichtete Akten („Die einzige Chance einer wirklich neutralen Recherche und Aufdeckung wäre die ohne jegliche Beteiligung der Kirche. Aber sicherlich ist bisher schon genug belastendes Material verschwunden, dass es ohnehin nicht mehr möglich ist.“) und die zu erwartenden Ergebnisse („Nach diesen 3 1/2 Jahren wird genauso wenig aufgedeckt sein wie bisher.“) geschrieben. Das alles in einer Irritationslosigkeit, die beachtlich ist. Widerspruch ist in einer solchen Debatte ja auch nicht zu erwarten – er wäre ohnehin zwecklos.

Denn: Wer in Sachen Missbrauch für die Kirche Partei ergreift – und sei es auch nur, dass er ihren Aufklärungswillen ernst nimmt – muss damit rechnen, aufs Übelste beschimpft und aufs Niederträchtigste in den Verdacht gestellt zu werden, wohl selbst „etwas zu verbergen“ zu haben. Es gibt kein Entkommen im Diskus, in dem alles zu finden ist, was es braucht, um ein schiefes Bild zu erzeugen bzw. zu verstetigen: Lügen, Halbwahrheiten, Auslassungen entscheidender Details, Verdrehungen, Verzerrungen, Übertreibungen. Und wenn das erst mal Wissensbestand geworden ist (so wie der Umstand, das „Zwangszölibat“ führe quasi sicher zur Missbrauchstat), dann geht der Rest auch noch durch. Ex falso quodlibet.

So schreibt einer: „Dass ausgerechnet in der katholischen Kirche besonders viele Täter anzutreffen sind, mag mehrere Gründe haben.“ Dass Frauen im Schnitt weniger intelligent sind als Männer, mag mehrere Gründe haben. Dass Polen im Schnitt weniger leistungsfähig sind als Deutsche, mag mehrere Gründe haben. Merken Sie was? Auf die Gründe selbst kommt es dann nicht mehr an. Hauptsache, es sind mehrere.

Ein anderer schreibt: „Tja, dann gebt ihnen nicht nur Zeit, den Wissenschaftlern, sondern endlich auch vollumfänglich Zugang zu den Archiven. Ansonsten bleibt der Eindruck, den man seit Jahren hat: dass es der RKK mehr darum geht, das Image aufzupolieren, statt vergangenes Unrecht und den Umgang damit aufzuklären.“ Diesen Eindruck kann man freilich nur dann haben, wenn man nicht weiß, dass die Kirche bereits beim ersten Anlauf alle relevanten Akten zur Verfügung gestellt hat, dass es also schlicht unsinnig ist zu fordern, die Kirche möge „endlich auch vollumfänglich Zugang zu den Archiven“ gewähren, eben darum, weil sie es längst tut. Die Kirche hatte für die Studie beispielsweise Personalakten von Geistlichen aus den 27 deutschen Bistümern zur Verfügung gestellt, die Vorgänge aus den Jahren 2000 bis 2010 enthalten. Das sei Teil des „unbedingten Willens zur Aufklärung im Sinne der Opfer“, so die Kirche damals, denn eine Rechtspflicht zur Offenlegung der Daten besteht nicht.

Aber richtig ist natürlich, dass sich so der Eindruck weiter verfestigt, die Kirche habe etwas zu verbergen und außerdem unlautere Motive – zumal man Motive beliebig unterstellen kann, weil sich die Unterstellung innerer Bewusstseinszustände (Wünsche, Absichten, Motive) nicht dadurch widerlegen lässt, dass man sie in einer Äußerung abstreitet. Das kann ja gelogen sein. Dass dieser Taktik eine Umkehr der Beweislast im Rücken liegt, ist in den Fällen kein Problem, wenn man davon ausgehen kann, dass diese Umkehr im Diskurs vollzogen wurde. Wenn diese Taktik also immer öfter Verwendung findet (und bei den 20 Kommentaren tritt sie einige Male in Erscheinung), so zeigt das nur, dass die Beweislastumkehr im Fall der Kirche längst allgemein anerkannt ist, man also erst mal alles Schlechte unterstellen darf und die Kirche dann sehen muss, wie sie da heraus kommt – freilich nur, um sich den Vorwurf einzuhandeln, es gehe ihr um „Aufpolierung“ ihres diskursiv ramponierten Images. Merken sie was? Richtig: Da kommt sie nicht raus, die Kirche.

Formvollendet perfide ist die Sache allerdings erst dann, wenn, wie ein weiterer Kommentator es tut, selbst die Kooperation der Kirche noch in ein schlechtes Licht gerückt wird: „Wie soll Unabhängigkeit gewahrt werden, wenn die Kirche bei der gesamten Untersuchung nicht komplett außen vor ist?“ Ja, wie? Da gerät ein Beirat, in dem auch Vertreter der Kirche sitzen, schnell unter den Verdacht, die ganze Studie torpedieren zu können. Das offenbart nicht nur gravierende Unkenntnis über den Ablauf von Forschungsprojekten, sondern hegt ein so tiefes Misstrauen gegen die Kirche, dass – egal, wie sie sich konkret verhält – kein gutes Haar an ihr gelassen werden kann. Die einzige Handlung, die noch als möglich akzeptiert wird, ist die Selbstauflösung. Wenn sie dazu nicht bereit ist, gilt: „Eine unabhängige Untersuchung reicht wohl nicht aus. Ich halte es für absolut notwendig, die im Grundgesetz verankerte Sonderstellung von Glaubensgemeinschaften zu überdenken. Sie sind nicht mehr zeitgemäß.“ Punkt. Und was nicht mehr zeitgemäß ist, muss gar nicht erst untersucht werden. Auch nicht unabhängig. Selbst dieser Ausweg ist also verbaut.

Die Studie selbst kann schon deshalb nicht positiv verfangen, weil sie zu lange dauert („Klingt bei diesem Thema doch schon mal ganz gut. Wenn da nicht die dreieinhalb Jahre wären. Da kann doch wieder einmal mehr viel Dreck unter dem katholischen Teppich verschwinden.“) und zu spät kommt: „Diese Aufarbeitung hätte die kath. Kirche auch schon früher haben/machen/müssen können, wenn sie nicht Herrn Pfeiffer – Spezialist für diese Fälle – den Auftrag entzogen hätten. Der Kirche passte wohl seine Nase nicht, oder gab es vielleicht andere Gründe???“ Wer so fragt, will zwar keine Antwort, aber diese lautet nun mal: Ja, gab es. Herr Pfeiffer – „Spezialist für diese Fälle“ – hatte sich schlicht und ergreifend nicht an Absprachen gehalten, sein „Kommunikationsverhalten“ habe „einer weiteren konstruktiven Zusammenarbeit jede Vertrauensgrundlage entzogen“ (Bischof Ackermann). Nun ist es ja so: Ackermann ist katholisch. Übungsaufgabe: Was ist von der Aussage Ackermanns vor dem Hintergrund seiner Religionszugehörigkeit zu halten? Benutzen Sie nur Argumente aus der laufenden Debatte! Sie haben 60 Minuten.

Der Kirche ist ohnehin nicht mehr zu helfen, denn: „Heute weiß man, wie Missbrauch jeder Art […] verhindert werden kann.“* Nur die Kirche weiß es nicht. Sie will es nicht wissen. Sie fährt mutwillig fort, die Kinder dieser Welt zu missbrauchen. Wegen Zölibat. Im Klartext: „Für die RKK ist der massenhafte Missbrauch aber nicht wirklich ein Thema.“ Und weiter: „Die RKK will nicht wirklich und grundlegend nachforschen, denn das sähe dann ganz anders aus!“ Eben. Und Papst Franziskus muss aufpassen, dass die Kurie ihn nicht – Sie wissen schon. Denn: „Kein toter Papst darf seziert werden, also gibt es ’nachher‘ keine Beweise“. Noch nicht mal, wenn man ein anerkanntes Forschungsinstitut beauftragt. Oder Herrn Pfeiffer. Als Spezialist für diese Fälle.

* Anmerkung: Das Zitat lautet im Ganzen: „Heute weiß man, wie Missbrauch jeder Art (der Missbrauch kleiner Knaben ist nichts anderes) verhindert werden kann.“ Ich weiß, dass das jetzt nicht mehr Informationen enthält als die gekürzte Fassung. Aber ich musste das einfach zweimal schreiben. Nein, dreimal: „Heute weiß man, wie Missbrauch jeder Art (der Missbrauch kleiner Knaben ist nichts anderes) verhindert werden kann.“ Es wäre schön, man wüsste, wer „man“ ist, der heute weiß.

(Josef Bordat)

Kommentare sind geschlossen.