Unübliche Vorstellungen

4. März 2014


Kardinal Woelki hat der FAZ ein Interview über die katholische Sexualmoral gegeben. Seine Einlassungen sind lesens- und beachtenswert. Dass sie von den meisten Kommentatoren offenbar falsch verstanden werden und dass nach drei Minuten wieder von Hexen die Rede ist, kann nicht Kardinal Woelki angelastet werden. Und auch nicht der katholischen Sexualmoral.

Kardinal Woelki liefert jedoch selbst eine Formel für den Umgang mit der katholische Sexualmoral, zugleich mit der katholischen Morallehre überhaupt, die das Missverständnis der säkularen Welt einpreist: „Wir können Normen natürlich nicht einfach der Lebenswirklichkeit anpassen. Wenn wir in der Vergangenheit von etwas überzeugt waren, wird es jetzt nicht automatisch falsch. Wir müssen uns allerdings fragen, was wir falsch gemacht haben, wenn andere es nicht erkennen können.“ Es geht also um die Klärung der Voraussetzungen und der Inhalte moralischer Normen der Kirche, nicht nur, aber auch im Bereich der Sexualität.

Ein Grundproblem ist dabei, dass häufig nicht zwischen Sexualität und Sex unterschieden wird. Die Sexualität der menschlichen Person ist heute nur mehr der Vollzug des Geschlechtsverkehrs. Sexualität geht nach kirchlicher Auffassung allerdings weit darüber hinaus. Auch Enthaltsamkeit ist daher Teil der Sexualität. Wenn sie frei gewählt wird, ist sie ebenso selbstbestimmte Sexualität wie eine frei gewählte Partnerschaft.

Die damit verbundene Vorhaltung, die Kirche möge sich mangels Erfahrung aus Fragen der Sexualität heraushalten, ist daher schon konzeptionell falsch. Doch auch, wenn Sexualität nichts anderes mehr sein soll als Sex, kann der Enthaltsame eine Position entwickeln. Wenn nur der zu einer moralischen Beurteilung kommen sollen dürfte, der vom fraglichen Sachverhalt selbst betroffen oder daran regelmäßig beteiligt ist, könnte wohl kaum jemand in Europa Krieg, Hunger und Zwangsprostitution glaubwürdig kritisieren. Man kann allerdings auch zu einem moralischen Urteil durch äußere Anschauung gelangen. Gerade kirchenferne Kirchenkritiker sollten das eingestehen.

Ein anderes Grundproblem ist, dass nicht zwischen Faktizität und Normativität unterschieden wird. Das Sein bestimmt offenbar nicht nur das Bewusstsein, sondern auch das Gewissen. Die Vorstellung, dass es über die zur Norm verklärten Triebe noch Ideale geben könnte, wird zurückgewiesen – eben weil und soweit es sich um Ideale handelt. Die Sphäre des Idealen wird in ihrer Relevanz für die Realität komplett ausgeblendet. Vielleicht aus Scham, das Ideal selbst so deutlich verfehlt und dann keinen Weg der Versöhnung mit sich selbst gefunden zu haben, vielleicht also als Möglichkeit, mit sich im Reinen zu bleiben – ich weiß es nicht. Es wäre allerdings sehr schade, senkte der Mensch die moralischen Standards auf ein Niveau, das er problemlos halten kann.

Seltsam ist in diesem Zusammenhang auch, dass Vergehen gegen die Norm die Norm selbst entwerten sollen. Je mehr gegen eine Norm verstoßen wird, desto sinnloser erscheint sie den Menschen. Könnte es nicht aus sein, dass sie gerade dadurch ihren Sinn erhält, dass sie die Differenz zwischen Ist und Soll anzeigt? Wäre sie also nicht nötiger denn je, wenn munter gegen sie verstoßen wird? Ist der Hinweis auf die überzeitliche Geltung der Norm nicht eine Alternative zur ethischen Kapitulation des „Machen aber alle so!“? Und wenn alle wieder „Heil!“ rufen?

Um es noch mehr zuzuspitzen: Ist die Verfehlung eines Menschen, der vorgibt, einem Ideal zu folgen, dabei aber offensichtlich gescheitert ist, ein Grund, das Ideal aufzugeben? Oder ist es vielmehr ein Grund, auf die Bedeutung des Ideals hinzuweisen? Ein Beispiel: Politiker sollen nicht korrupt sein, Das ist das Ideal. Wenn nun 93 Prozent aller deutschen Politiker korrupt wären, wäre das ein Grund, die Vorstellung des nicht-korrupten Politikers, so unüblich sie sein mag, aufzugeben? Oder wäre es nicht vielmehr ein Grund, darauf hinzuweisen, wie schädlich Korruption für das Gelingen einer guten Politik ist?

Das Übliche kann kein Kriterium für eine brauchbare Ethik sein. Denn dann bräuchten wir gar keine Ethik – ganz gleich, in welcher Weise diese religiös, konfessionell und weltanschaulich grundiert ist. Dann bräuchten wir nur auf das Tun der Menschen zu schauen und daraus Verhaltensregeln abzuleiten. Dass dieser Schluss vom Sein auf das Sollen ein großer moraltheoretischer Fehler ist, gerät mehr und mehr in Vergessenheit.

Heute scheint es nur noch eine Norm zu geben: Gut ist, was man tun kann, ohne anderen einen Schaden zuzufügen – zumindest keinen, den man selbst unmittelbar erkennt. Und was man tun kann, das tut man – und bestätigt so die Regel. Dass es Handlungsfolgen gibt, die wir grundsätzlich nicht erkennen können, gerät dabei ebenso aus dem Blick wie unbequeme ethische Überlegungen zur absoluten Geltung moralischer Wahrheiten. Es könnte sein, dass uns diese erst wieder bewusst werden, wenn es zu spät ist.

(Josef Bordat)

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