Gewalt aus Notwehr und die Problematik ihrer diskursiven Rechtfertigung

22. September 2014


Oder: Der Christ – ein neues Stück in der Feindbilderausstellung.

„Der hat so komisch geguckt, da musste ich ihm eine rein hauen.“ Auf diese Weise soll mal ein jugendlicher Gewalttäter einen Übergriff auf eine Person begründet haben. Das Motiv der Gewalttat lag im Dunkeln, weil es offensichtlich keinerlei Beziehung zwischen Täter und Opfer gab. Nun stellt sich also heraus: „Der hat so komisch geguckt.“ Voilà. Da haben wir das Motiv. Und ein geschickter Anwalt kann hier sogar über „war psychischem Stress ausgesetzt“ und „hat sich bedroht gefühlt“ eine Brücke zur Rechtsfigur der Notwehr bauen. Er wird damit wohl nicht durchkommen (schon wegen der Unverhältnismäßigkeit des Mittels, die Gefahrensituation des „Komisch Guckens“ durch massive körperliche Gewalt abzuwenden), aber versuchen kann man es.

Wenn in der NS-Zeit jemand oder etwas als „verjudet“ galt, war das ebenfalls ein hinreichendes Motiv für Sanktionen. Die katholische Kirche etwa sei (vor allem durch das Wirken der Jesuiten) komplett „verjudet“ (so Alfred Rosenberg) und könne daher kein Partner der Nationalsozialisten sein (was im Ergebnis zwar stimmt, aber in der Begründung eben nicht). Noch heute sind für einige Menschen Personen oder Organisationen, die mit „Jude“ apostrophiert werden (so unsinnig das im Einzelfall schon der Sachlage nach ist), eine Art legitimes Opfer. Der FC Bayern – so heißt es dann – sei ein „Juden-Club“. Und wer Viert- oder Fünftligaspiele in Berlin verfolgt (ich spreche vom Fußball), hört es bei (angeblichen) Fehlentscheidungen des Schiedsrichters von der Tribüne: „Jude! Jude! Jude!“ – Und nicht: „Shintoist! Shintoist! Shintoist!“

Umgekehrt ist der oder das, wen oder was man als „Nazi“ bezeichnet, ein legitimes Ziel von Gewalt. Wie dehnbar die Nazi-Zuschreibung ist, erlebe ich an meiner eigenen Person. Ich gelte nicht wenigen Menschen als „Nazi“, zum Beispiel aufgrund der Tatsache, dass ich an Veranstaltungen teilnehme, an der Personen teilnehmen, die jemanden kennen, den man für einen „Nazi“ hält. Eigentlich habe ich aufgehört, mich darüber zu wundern, seit ich die Einrichtung kennenlernte, die man landläufig als „Internet“ bezeichnet, aber dennoch: Komisch ist es schon, so ganz – nach eigenem Empfinden – ohne eigenes Zutun als „Nazi“ zu gelten. Oder: als „Faschist“. Das ist offenbar die Variante für Akademiker.

Mit dem diesjährigen Marsch für das Leben scheint ein neues Notwehr-Tatmotiv hinzuzukommen: Christ sein. Wer Christ ist, gilt als vogelfrei. „Christlicher Fundamentalismus“ ist ein allgemein anerkannter „Vorwurf“ (Wikipedia), den man einem Menschen machen kann, verknüpft mit dem Anspruch, in gerechtfertigter Weise zu meinen, dieser Mensch sei so, wie er ist, nicht zu sein berechtigt. Dabei wird der Unterschied zwischen radikal und extrem, den Hannah Arendt macht, ebenso unterschlagen, wie eine bewusste Nähe zu gewaltsamen Fundamentalismen erzeugt wird. Man kann zwar empirisch zeigen, dass von einem „Fundamentalisten“ anderer ideologischer Färbung weit größere Gefahr ausgeht als von einem Christen mit Fundament, aber das wäre ja kontraindikativ.

Da es nun zu den Wesensmerkmalen des Christen gehört, ein Fundament zu haben, das sich von Ziel, Zweck und Sinn der deutschen Mehrheitsgesellschaft unterscheidet, sind – seien wir mal ehrlich – alle Christen irgendwie „Fundamentalisten“. Dann aber kann das „fundamentalistisch“ auch gleich wegfallen: Gegner ist der Christ an sich, insoweit er eben Christ ist. Der Kollege King Bear hat das herausgearbeitet, indem er zeigt, wie sich die Gegendemonstranten in ihren Verlautbarungen gezielt gegen Christen und Christsein richteten – völlig abgelöst vom Thema Lebensschutz.

In der Jungen Welt wird in einem Bericht über den Marsch für das Leben den „fanatischen Jesusanhängern“ – da „Fan sein“ und „Anhänger sein“ so ziemlich das Gleiche ist, bleibt vom „fanatischen Jesusanhänger“ der „Jesusanhänger“, eine fast schon schleiermacherische Definition des Christen – u. a. vorgeworfen, sie hätten die „zahlreich mitgeführten weißen Kreuze für Drohgebärden“ genutzt. Das Kreuz als Waffe. Nur so wird es dann folgerichtig zum Problem, dass es, das Kreuz, „zahlreich mitgeführt“ wurde. Es wurde also nicht nur „mitgeführt“, so wie man Drogen oder Waffen „mitführt“, sondern auch – strafverschärfend – „zahlreich“. Dann ist das Kreuz „weiß“ – und was das bedeutet, ist klar: der Rassismusvorwurf gegen die, die es „mitführen“, das „weiße Kreuz“, passt wie die Faust aufs…

Noch nicht ganz! Erst noch die „Drohgebärden“. Mit „weißen Kreuzen“ bedrohlich umgehen, ist eine neue Form des unbestimmten Tatbestandes, der „Gegengewalt“ als legitim ausweisen soll. Die Bedrohungslage ist zwar subjektiv, das heißt, ob man sich von „weißen Kreuzen“ bedroht fühlt, liegt an einem selbst (man könnte ja auch davon sprechen, dass sie, die „Jesusanhänger“, die „zahlreich mitgeführten weißen Kreuze für Segensgebärden“ nutzten, wenn sie diese „weißen Kreuze“ etwa hochhielten oder sich Personen damit näherten). Ob vom Kreuz Bedrohung oder Segen ausgeht, liegt im Auge dessen, der auf das Kreuz blickt. Die Bedrohung, die von einem Kreuz für den Einzelnen ausgeht, ist jedenfalls weit weniger objektiv nachvollziehbar als die Bedrohung durch Krankheitserreger oder Krieg. Das Problem mit der gerechtfertigten Gewaltanwendung aus Notwehr (so etwas in der Art nehmen die Gegendemonstranten ja dann für sich in Anspruch) liegt also in der Bedrohungslage, die beliebig konstruierbar ist. Mir wurde letztens in einem Forum subtil mit Gewalt gedroht, weil… Ja, wenn ich das wüsste! Irgendeine Rechtfertigung wird es schon geben. Immerhin schreibe ich bedrohlich. Und da muss man sich eben wehren. Irgendwo muss der Überschuss an Vernunft ja hin.

Also, liebe Christinnen und Christen auf deutschem Boden: Bedrohen Sie bitte Niemanden mit einem Kreuz. Seien Sie nicht zahlreich. Und gucken Sie nicht so komisch.

(Josef Bordat)

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