Einheit in Vielfalt

24. Oktober 2011


Ethische Universalität auf der Basis der Goldenen Regel. Ein Beitrag zum interkulturellen Dialog anlässlich des Friedensgebets der Religionen der Welt in Assisi am 27. Oktober 2011.

Vorwort

„In diesem Jahr 2011 jährt sich zum 25. Mal das Friedensgebet, zu dem Johannes Paul II. 1986 nach Assisi eingeladen hatte. Darum werde ich im kommenden Oktober in die Stadt des heiligen Franziskus pilgern, um an diese historische Geste meines Vorgängers zu erinnern und feierlich den Einsatz der Gläubigen aller Religionen zu bekräftigen, den eigenen Glauben als Dienst am Frieden zu leben. Ich lade alle christlichen Brüder der verschiedenen Konfessionen, die Vertreter der religiösen Traditionen der Welt und ideell alle Menschen guten Willens dazu ein, sich diesem Weg anzuschließen.“ So Papst Benedikt XVI. im Januar. Nun ist es soweit: Am 27. Oktober findet das Friedensgebet in Assisi statt. Die Frage, die sich angesichts dieses Treffens der Religionen und Kulturen stellt, ist eine bekannte, ja bedrückende: Wie kann Verständigung gelingen, damit am Ende tatsächlich der Friede möglich wird. Kann in der Vielheit eine Einheit gefunden werden, eine Basis des Zusammenlebens? Ich will mich der Frage theoretisch nähern, wohl wissend, dass nur die Praxis des gelebten Dialogs eine Antwort geben kann.

1. Über diesen Text

In dem vorliegenden Essay werde ich die Universalität grundlegender ethischer Positionen argumentativ gegen relativistische Tendenzen verteidigen. Ich werde mich dazu auf die Goldene Regel als geeignetes Metaprinzip zur Annäherung an gemeinsam geteilte Werte und Normen beziehen, diese vorstellen und zeigen, dass sie sich nicht nur aufgrund ihrer weiten Verbreitung, sondern vor allem wegen des implizierten zivilisatorischen Fortschritts vom Vergeltungsprinzip zum Grundsatz des Wünschenswerten eignet, in sehr einfacher, wirkungsvoller Weise interkulturelle Verständigung zu ermöglichen.

Jenseits der praktischen Funktion als Eisbrecher im Dialog spielen die aus der Goldenen Regel ableitbaren ethischen Prinzipien Toleranz und Wertschätzung eine Schlüsselrolle, wenn im Spannungsfeld dessen, was die Goldene Regel in ihrer positiven bzw. negativen Formulierung gebietet, nämlich Wohlwollen und Gerechtigkeit, zu entscheiden ist, wie weit im Dialog die Toleranz gehen und wie sich Wertschätzung im Rahmen der Globalisierung äußern sollte. Auch das möchte ich zeigen.

Schließlich möchte ich zeigen, dass die gegen die Goldene Regel vorgetragenen Einwände ihre Kraft als metaethisches Prinzip nicht schmälern, die vor allem in ihrer praktischen Bedeutung besteht, weil sich in der Goldenen Regel religiös und weltanschaulich bedingte Spannungen aufheben lassen und die Kluft zwischen Genesis und Geltung überwunden werden kann, die oft den ethischen Letztbegründungsdiskurs auf theoretischer Ebene hemmt und damit zu oft verhindert, in der Anwendung den Mut zum Universalismus aufzubringen.

2. Begriffsbestimmungen

Mit Universalität meine ich die Annahme unbegrenzter, überzeitlicher, unveränderlicher Gültigkeit einer Norm aufgrund eines allgemeinen Begründungstatbestands, dem jeder vernünftige Mensch zustimmen muss. Bei der Universalität geht es also um eine ethische Letztbegründung, die eine Norm universalisierbar macht. Universalisierbarkeit bedeutet entsprechend die allgemeine Anerkennung einer Norm und die Beachtung derselben aufgrund der Möglichkeit der Einsicht in den Begründungszusammenhang dieser Norm. Als Aufgabe würde die Universalisierung die faktische Umsetzung von als allgemeingültig anerkannten Normen vornehmen. Davon abzugrenzen ist eine Uniformierung, die auf die Durchsetzung bestimmter Werte Normen weltweit setzt, wobei es aber an der Fundierung mittels des universalen Begründungszusammenhangs mangelt.

Analog dazu ist der ethische Relativismus vom kulturellen Pluralismus zu unterscheiden. Geht es bei letzterem um die empirisch gesicherte Tatsache, dass es Unterschiede zwischen den Kulturen hinsichtlich moralischer Werte und Normen gibt, so behauptet der Relativist, das dieser Unterschied unumgänglich sei, dass es mithin keine Möglichkeit gibt, Werte und Normen im Sinne einer ethischen Wahrheit als richtig oder falsch zu bezeichnen, dass man Handlungen moralisch immer nur im Kontext der gesellschaftlichen Situation oder des Standpunktes einer Gruppe beurteilen kann.

3. Universalitätsskepsis. Das Problem der Moderne

Diese Position entfaltet sich, mit Vorläufern in der Antike (Protagoras: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge.“), in der Reaktion auf die religiös grundierten Herrschaftssysteme des europäischen Mittelalters, die in der Frühen Neuzeit dazu übergingen, ihren jeweiligen Universalitätsanspruch auch gewaltsam umzusetzen, um zu einer kulturellen Uniformierung zu gelangen. Die Auseinandersetzungen zwischen christlichem Kaiserreich und dem muslimischen Reich der Osmanen zu Beginn des 16. und zum Ende des 17. Jahrhunderts, die als Konfessions- und Konstitutionskriege in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu Tage tretenden Spannungen zwischen den Nationen Europas, aber auch die Kolonisation Afrikas und Amerikas durch die Europäer ab dem 15. Jahrhundert hatten gezeigt, wie problematisch die Verbindung einer Religion mit universalistischem Anspruch auf Wahrheit mit einem infolgedessen absolut verstandenen Regime ist, das daraus weltliche Ansprüche ableitet. Die auf weltliche Vollzüge gewendete Gnade Gottes erstreckte sich auf Politik und Wirtschaft, Kunst und Kultur. Sie sorgte damit für eine Klammer, die die Gesellschaft zusammenhielt, die aber zunehmend als einengend empfunden wurde.

Die Moderne ist entsprechend skeptisch gegenüber Universalität. Diese Universalitätsskepsis kommt daher, dass Begriffe wie Absolutheit, Objektivität und Wahrheit mit ihr verbunden werden, Begriffe der christlichen Religion, die Europas Politik und Kultur geprägt hatte, gegen die sich nun aber das Programm der Aufklärung zunehmend wandte, die eigene Geschichte vergessend, denn die Wurzel der Aufklärung ist das christliche Menschenbild, die daraus erwachsene Befähigung zu vernünftigem, gewissenhaftem Denken und Handeln in Freiheit. Das musste zu Beginn der Aufklärung als wahr angenommen werden, sonst hätte es die Aufklärung nie gegeben. Am Anfang steht damit die Annahme, dass es Wahrheit geben können muss und dass sie in Gott gegründet ist. An Anfang der Aufklärung steht also eben jene Absolutheit, Objektivität und Wahrheit, gegen die man skeptisch geworden war.

Die sich durch die Aufklärung rasant entwickelnde Naturwissenschaft versucht, diese Kinderkrankheiten los zu werden. Sie versucht sie abzuschütteln, um metaphysikfrei und neutral forschen zu können und damit ganz ohne auszukommen, ohne Gott und ohne Wahrheit. Wahrheit ist und bleibt aber unbedingt gebunden an Gott. „Wer die Wahrheit sucht, sucht Gott.“, meint Edith Stein und Robert Spaemann sagt mit Blick auf die aufgeklärte Moderne: „Wenn es Gott nicht gibt, sagte Nietzsche, dann gibt es keine Wahrheit, dann gibt es nur die individuellen Perspektiven jedes Menschen auf die Welt, und die Frage nach einer wahren Perspektive stellt sich nicht, denn das wäre die Perspektive Gottes.“ So spricht die wissenschaftlich-technische Moderne von Relativität, Beobachterperspektive, Intersubjektivität und Bestätigungsfähigkeit, aber nicht von Wahrheit. Weil sie nicht mehr von Gott spricht. Konsequent, aber tragisch, weil damit das Fundament der Gesellschaft verloren geht.

Das merken auch die Naturwissenschaftler und versuchen, aus ihren disziplinären Erkenntnissen heraus ein neues Fundament zu legen. Die Wissenschaft sieht gerade in ihrer Methode den Grundstein einer (überlegenen) Universalität, bei gleichzeitiger Eingrenzung des Gegenstands auf die sinnlich erfahrbare Welt, zu der wichtige Institutionen unserer Kultur (wie Religion, Kunst, Recht und Moral) nicht zu zählen sind. Werte lassen sich nicht naturwissenschaftlich begründen. Gerade dies wird aber zunehmend in Frage gestellt. In unserer dem empiristischen Paradigma verpflichteten Gesellschaft, in der alles nicht-sinnliche zum verschrobenen Hobby degradiert wird, geschieht derzeit einer Ausweitung der naturalistischen Methode auf das, was es zu wissen gibt (epistemologischer Naturalismus) oder gar auf all das, was als seiend anzunehmen ist (ontologischer Naturalismus). Klar ist: Eine über die ontologische Selbstbeschränkung hinausweisende Erzählung, etwa die von der „neutralen wissenschaftlichen Weltanschauung“ (Szientismus) schwenkt wieder auf den Weg des Glaubenssystems bzw. der Ideologie ein, denn Kern ihres Narrativs ist nicht die Wissenschaft, sondern der Glaube daran, dass es außerhalb des wissenschaftlich Zugänglichen nichts (zumindest nichts wert- und sinnvolles) zu entdecken gibt, eine „Wissenschaftsgläubigkeit“ (Huber), die man als „Wissenschaftsaberglauben“ (Jaspers) bezeichnen kann.

Damit stehen wir vor dem gleichen Problem. Im „Wissenschaftsglauben“ wird die Begründung religiöser Universalität, also „God’s view“ (Putnam), durch den „view from nowhere“ (Nagel) ausgetauscht. Epistemologisch ist damit aber nichts gewonnen: Beides ist Ausdruck eines Glaubens – an Gott oder eben an die Möglichkeit einer wertneutralen Perspektive. Die kann es aber nicht geben, denn Wissenschaft selbst bleibt eingebettet in die sie hervorbringende und umgebende Kultur und Gesellschaft, in der sich der kollektive Blick ändert, gelenkt zwar auch durch die Wissenschaft und ihre Erkenntnisse, vielmehr aber durch den Alltag und die ihn bestimmenden medialen, politischen und ökonomischen Einflüsse. Es ist kein Ausweg in Sicht. Im Gegenteil: Der epistemologische Relativismus, der aus dem gescheiterten szientistischen Projekt einer wissenschaftlichen Weltsicht folgt, stößt die Tür zum ethischen Relativismus weit auf, weiter als je zuvor, weil die Moderne Werte an Argumente und Wissen und nicht an Autorität und Tradition bindet, also ganz auf eine erkenntnistheoretische Einigung angewiesen ist, nachdem sie eine kulturell-historische Bezugnahme auf eine Wert- und Normbasis im Christentum selbst unter der Bedingung abgelehnt hat, dass diese als rein funktionalistische Klammer erscheint. Die angestrebte Einigung über die „Einheitswissenschaft“ (Carnap) ist in weiter Ferne, die tradierte Klammer nicht mehr verfügbar – man hatte sie in einem unhinterfragten Fortschrittsoptimismus über Bord geworfen, ohne sich im Klaren darüber zu sein, dass man keinen adäquaten Ersatz parat hat.

Was bleibt ist eine neuerliche Enttäuschung des Universalitätsstrebens und eine Verfestigung des ethischen Relativismus aus dem Geist einer sich selbst missverstehenden Wissenschaft, die den epistemologischen und ontologischen Gehalt ihrer Aussagen überschätzt und ihren Wirkungsbereich weit überdehnt. Der ethische Relativismus gerät so von der Alternative, von der bloßen Option zum Zwang, zur „Diktatur“ (Ratzinger), deren totalitäre Züge im Diskurs deutlich aufzuweisen sind. Sie äußern sich in gefährlichen „Schweigespiralen“ (Noelle-Neumann), die als bequeme normative Orientierungslinien Ersatzkriterien für den Verlust aufrichtiger Wahrheitssuche liefern und an deren Ende die Frage „Was soll ich denken?“ die Frage „Was denke ich?“ verdrängt hat sowie in einer zum „Neusprech“ hochstilisierten „political correctness“, deren Sprache die Bedeutung von Begriffen unterläuft, um selbst dort noch Spielräume zu schaffen, damit gar nicht erst die Idee der Wahrheit zurückkehrt. Dazu noch einmal Spaemann: „Gerade wenn es keine gemeinsame Wahrheit, keine Einsicht in die Natur des Menschen mehr gibt, dann ist der Streit der Meinungen ein politischer Streit, der nicht mehr darauf zielt, den anderen zu überzeugen, sondern ihn mundtot zu machen. Denn den anderen überzeugen zu können, daran glaubt man gar nicht. Das setzt ja voraus, dass es so etwas wie Wahrheit gibt.“ Zugespitzt: So wie wir in der Epistemologie „Bestätigungsfähigkeit“ für „Wahrheit“ eingesetzt haben, setzen wir in der Ethik „Mehrheit“ für „Wahrheit“ ein. Das ist unbefriedigend und zudem konfliktträchtig, denn unter der Oberfläche des Anything goes brodelt es weiter.

Wir brauchen also die Möglichkeit einer gemeinsam geteilten Rückbindungspraxis an elementare Metaprinzipien, allgemein anerkannte Grundsätze darüber, wie man zu moralischem Verhalten kommen kann.

4. Genesis und Geltung

Hier tritt uns das Problem der Genesis moralischer Normen entgegen. Auch wenn ihre Geltung nicht bestritten wird, sucht doch jeder Splitter des zerbrochenen Kristalls „Gemeinschaft“ für Werte und Normen nach einer Anbindung in der eigenen Tradition. Wird diese nicht gefunden, bleibt der fragliche Wert suspekt.

Wer den Universalismus, der den Menschenrechten eignet, nur negativ belegt, weil er mit dem Christentum und der westlichen Lebensform in Verbindung zu bringen ist, muss sich nach Alternativen fragen lassen. Anything goes, ist eine sehr schlechte. Wer andererseits, wie Bundeskanzlerin Merkel zuletzt in einem Interview, behauptet: „Es ist keine kulturelle, westliche, europäische, christliche Anmaßung, dass wir unsere Werte und Freiheitsrechte für universal gültig halten.“, muss das genauer begründen. Wenn wir wieder nach Wahrheit fragen wollen, auch im Kontext ethischer und rechtlicher Debatten, dann muss die Argumentation auf mehr verweisen als auf Macht und Mehrheit. Das führt uns zu Überlegungen transzendentaler bzw. transzendenter Art und bringt uns auf die Absolutheit und Ewigkeit von Werten, die jedoch ihrerseits gerade bestritten werden. Kontext- und situationssensitiv werden alle diese Werte mit kulturellen Indizes oder gar mit Anführungszeichen versehen, um zu bedeuten, dass es eigentlich gar nicht um die Werte an sich gehen kann, um Freiheit etwa, oder um Gerechtigkeit, so wie es schon lange nicht mehr um Wahrheit geht. Den Wert an sich brauchen wir aber, wenn wir über zeitlich befristete, als menschliche Konventionen jederzeit kündbare Gesellschaftsverträge hinaus eine Basis für das Zusammenleben schaffen wollen, die das Böckenförde-Dilemma vom modernen Staat, der seine Grundlagen selbst nicht schaffen kann, auch angesichts einer pluralen Gesellschaft löst, die in ethischer Hinsicht stark fragmentiert ist.

Es braucht also eine Basis, die universalistische Prinzipien, wie sie im Begriff der Menschwürde und im Gedanken der Menschenrechte grundlegend sind, inhaltlich zu bestärken hilft, die ethisch gut begründet ist, also keine inneren Widersprüche aufweist, die hinsichtlich der Genesis eine breite Grundlage hat, die einfach in der Praxis bekannt zu machen und umzusetzen ist und die sich in den alltäglichen Handlungsvollzügen wirklich bewährt. Eine solche Basis sehe ich in der Goldenen Regel.

5. Goldene Regel

Die Goldene Regel ist unabhängig an mehreren Orten, in verschiedenen Kulturen und auf der Basis unterschiedlicher Religionen entstanden, was sie zu einer moralischen Grundformel der Menschheit macht, zu einem zwingend und zeitlos gültigen Ethos. Schon daraus ergibt sich die Eignung der Goldenen Regel als metaethisches Prinzip zur Stützung des Universalitätspostulats.

Beispiele aus dem 6. bis 4. Jahrhundert vor Christus sind im Konfuzianismus die Regel „Was ihr nicht wollt, daß man euch zufügt, fügt es anderen nicht zu.“, im Buddhismus „Füge anderen nicht Leid durch Taten zu, die dir selber Leid zufügen.“ und im Parsismus, der persischen Philosophie, die auf Zarathustra zurückgeht, heißt es: „Fügt andern nichts zu, was nicht gut für euch selbst .ist.“ Auch die griechische Philosophie kennt um diese Zeit bereits die Goldene Regel. Der Vorsokratiker Thales von Milet sagt: „Wie können wir das beste und rechtschaffenste Leben führen? Dadurch, daß wir das, was wir bei anderen tadeln, nicht selber tun.“ und Platon fragt rhetorisch: „Soll ich mich anderen gegenüber nicht so verhalten, wie ich möchte, daß sie sich mir gegenüber verhielten?“

Etwas jünger sind die entsprechenden Goldene-Regel-Varianten des Judentums und des Christentums, die abschließend genannt sein sollen. Im Buch Tobit, das aus dem 2. Jahrhundert vor Christus stammt, steht die Regel „Was dir selbst verhaßt ist, das mute auch einem anderen nicht zu.“ (Tob 4, 15) und bekannt ist dann vor allem auch die Goldene Regel des Matthäus-Evangeliums. Jesus Christus selbst gibt uns auf den Weg: „Alles, was ihr wollt, daß euch die Menschen tun, also tuet auch ihr ihnen.“ (Mt 7, 12).

Die Goldene Regel ist aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte und ihres Auftretens in verschiedenen Kulturen und Religionen ein Beispiel für ethische Universalität, und zwar nicht bloß als Möglichkeit oder Absicht, sondern als tatsächliche, wirksame Option. Die Universalität der Goldenen Regel ist nicht allein proklamatorisch, sondern faktisch.

Neben der Universalität, die die Goldene Regel auszeichnet, ist die Reziprozität das Wesensmerkmal dieser ethischen Norm. Es geht um Gegenseitigkeit, um eine Beziehung, die wahrgenommen und geachtet werden soll, es geht um ein Sich-Hineinversetzen in den Anderen, also es geht um Empathie.

Andererseits vermag die Goldene Regel mit ihren positiven und negativen Formulierungen zwei Grundaspekte jeder Ethik zu erfassen: Wird in der positiven Form der Goldenen Regel („Verhalte dich dem Anderen gegenüber so, wie du willst, dass er sich dir gegenüber verhält.“) kontextualistisches Wohlwollen gefordert, verweist die gerechtigkeitsorientierte negative Fassung („Was Du nicht willst, dass man dir tu’, das füg auch keinem andern zu.“) auf die kontraktualistisch zu definierenden Grenzen der Eingriffsmöglichkeit in die Sphäre des autonomen Anderen.

Zu diesen gravierenden Argumenten tritt ferner hinzu, dass der Impetus der Goldenen Regel den entscheidenden zivilisatorischen Fortschritt vom Vergeltungsprinzip zum Grundsatz des Wünschenswerten manifestiert. Nicht mehr Gleiches mit Gleichem zu beantworten (nach dem alttestamentlichen ius talionis, also „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“, Dtn 19, 21), sondern zu erkennen, dass die Fortschreibung von moralisch falschem Verhalten nur in der empathischen Haltung dem anderen gegenüber durchbrochen und nur in der Bezugnahme auf das Erwünschte überwunden werden kann, stellt eine neue Form des Umgangs miteinander dar, die alle Möglichkeiten friedlich-kooperativen Zusammenlebens eröffnet. Dabei ist auf die Deutung der Goldenen Regel im Sinne des Wünschenswerten zu achten, also darauf, dass man fragt: „Wie hätte der andere gerne, dass ich ihn behandele?“ und nicht „Wie würde der andere mich wohl behandeln?“, denn mit dieser Frage sind wir wieder sehr nahe am Vergeltungsprinzip. Hans-Ulrich Hoche schlägt deswegen folgende Formulierung der Goldenen Regel vor: „Behandele jedermann so, wie du selbst an seiner Stelle wünschtest behandelt zu werden.“ (Die Goldene Regel. Neue Aspekte eines alten Moralprinzips, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 32, 1978, S. 358).

6. Zwischenfazit

Bei der Toleranz geht es darum, nicht nur Wohlwollen, sondern auch Gerechtigkeit walten zu lassen, was Intoleranz gegenüber Intoleranten ausdrücklich möglich und nötig macht, innerstaatlich, aber auch international. Christliche Feindesliebe kann in dem Zusammenhang nur als praeperatio cordis (Augustinus) gedeutet werden, nicht als realpolitische Prämisse. Die Fairness des im Ethos der Goldenen Regel geführten Dialogs um die weltweite Etablierung der Würde und Rechte des Menschen darf nicht missbraucht werden. Dies ist der Fall, wenn das Dialogangebot genutzt wird, um unter dem Schutz der Toleranz eben jene Würde und Rechte zu verletzen.

Bei der Wertschätzung geht es umgekehrt nicht nur um Gerechtigkeit, sondern auch um Wohlwollen. Das bedeutet, dass die Forderung nach Autonomie und Freiheit des Subjekts verknüpft werden muss mit der kulturellen Integrität der Kommunitäten, die in ihren kulturellen Eigenheiten ernst genommen werden müssen.

Wenn es gelingt, die Toleranz und die Wertschätzung, welche die Goldene Regel beinhaltet, in diesem erweiterten Verständnis (Gerechtigkeit und Wohlwollen) zu betrachten und umzusetzen, dann könnte aus der Universalität der ethischen Normen auch deren praktische Universalisierung folgen. Das ist das Ziel.

7. Probleme mit der Goldenen Regel

An der Goldenen Regel kommt man im Grunde nicht vorbei, wenn man sich mit Ethik beschäftigt und einige Größen der Philosophiegeschichte haben sich mit der Goldenen Regel auseinander gesetzt, doch sonst wird die Goldene Regel von der Philosophie verschmäht und in den Bereich der Theologie verbannt – als christliche Moral. Seit den 1960er Jahren nimmt das Interesse an und die Beschäftigung mit der Goldenen Regel wieder zu, für die angelsächsische Philosophie seien Marcus G. Singer und Richard M. Hare erwähnt, für die deutsche Philosophie sind v. a. Hans Reiner, Heinz-Horst Schrey und Hoche zu nennen. In den philosophischen Analysen steht die Goldene Regel jedoch hauptsächlich in der Kritik.

Immanuel Kant, der die Goldene Regel für „trivial“ hielt, behauptet in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, mit der Goldenen Regel könne ein Verbrecher „gegen seinen Richter argumentieren“, da dieser ja an seiner statt auch nicht gerne verurteilt werden würde. Er schlägt ja dann mit dem Kategorischen Imperativ eine vernunftbasierte und pflichtorientierte Regel autonomer Ethik vor, die im übrigen begründungstheoretisch so weit von der Goldenen Regel gar nicht entfernt ist, weil sie ebenfalls auf Verallgemeinerbarkeit als Kriterium moralischen Verhaltens hindeutet. Hoche zeigt, dass die Goldene Regel über Kants Vorwurf, sie enthalte „nicht den Grund der Pflicht gegen sich selbst“, erhaben ist, da sie – wenn man nur eine geeignete Formulierung wählt – lediglich ein Verhalten an sich beurteilt, gleichgültig, gegenüber wem es stattfindet.

Dieses Richter-Beispiel übersieht ferner zweierlei. Erstens geht es darum, in solchen Entscheidungssituationen nicht nur den direkt Betroffenen, sondern auch die „relevanten Umstände“ einzubeziehen, also im Falle des Richters, der einen Angeklagten zu verurteilen hat, die Gesellschaft, insbesondere das oder die Opfer und die Angehörigen. Man gelangt so von einer bilateralen Betrachtung der Situation zur multilateralen Analyse. Zweitens – und das ist entscheidend – geht es ja nicht darum, im vorliegenden Fall der konkreten Situation das Wünschenswerte zu beachten, sondern für einen hypothetischen Fall.

Hare macht deutlich, dass die entscheidende Frage nicht etwa lautet: „Was würdest du sagen, wenn du er wärest?“, sondern immer „Was sagst du über einen hypothetischen Fall, in dem du in der Lage des Betroffenen bist?“ (Freiheit und Vernunft, Frankfurt a.M. 1963, S. 127). Der Richter wird einsehen, dass er, wenn er einst selbst einer Straftat angeklagt werden würde (hypothetischer Fall), ebenso verurteilt werden müsste (wenn er denn die Tat begangen hat) wie der Angeklagte, der im konkret vorliegenden Fall von ihm, dem Richter, verurteilt wird.

Als weiterer Einwand sei die angebliche Wettbewerbsfeindlichkeit der Goldenen Regel genannt, die jede kompetitive Situation (z.B. bei der Ausschreibung einer Stelle, beim sportlichen Wettbewerb etc.) ethisch unmöglich macht, wenn man die Goldene Regel als Prinzip zugrunde legt, denn wenn man nicht besiegt werden möchte – ist es dann moralisch zulässig, andere besiegen zu wollen und u. U. tatsächlich zu besiegen?

Die Lösung dieses Problems liegt in der sprachanalytischen Unterscheidung zwischen Handlungsbegriffen und Erfolgsbegriffen. Dabei stellt sich heraus, dass siegen ein Erfolgsbegriff ist, man also ethisch nicht falsch handelt, wenn man – wie alle anderen auch – sein Bestes gibt und dadurch im Ergebnis den Sieg davonträgt. Man muss im Sinne der Goldenen Regel nur hoffen, dass alle Beteiligten auch wirklich ihr Bestes gegeben haben, also dem Handlungsbegriff zu siegen versuchen Rechnung trugen. Die Goldene Regel als ethisches Prinzip ist nur anwendbar auf Handlungsbegriffe, nicht auf Erfolgsbegriffe.

Ein weiteres Problem ergibt sich scheinbar, wenn die Goldenen Regel im singulären Fall in einer bilateralen Situation mit fehlender Gleichförmigkeit der Handelnden zur Anwendung kommen soll. Unterschiedliche Interessen und Wünsche scheinen die Anwendbarkeit der Goldenen Regel einzuschränken (M. G. Singers „Masochist“: „Wörtlich genommen, fordert die Regel einen Masochisten auf, ein Sadist zu werden: jemandem, der gerne von anderen gequält werden möchte, wird befohlen, andere zu quälen.“, Verallgemeinerung in der Ethik, Frankfurt a.M. 1975, S. 37). Dies führt uns in besonders eindrücklicher Weise das Fuchs-Storch-Beispiel vor Augen. In der berühmten Fabel Lafontaines lädt der Fuchs den Storch zur Suppe ein und serviert diese auf einem flachen Teller, so dass nur er an die Suppe gelangen kann; der Storch hingegen mit seinem langen Schnabel „kein Bißchen in den Magen bekam“. Hierin kann man einen möglichen Einwand gegen die Goldene Regel sehen, da sich der Fuchs ja durchaus wünschen kann, für den Fall einer Einladung durch den Storch auch von diesem die Suppe auf einem flachen Teller serviert zu bekommen.

So ist die Goldene Regel jedoch nicht gemeint, denn es geht in der Fabel ja darum, dass der Fuchs dem Storch die Suppe in einer für diesen ungeeigneten Weise serviert und der Fuchs von daher damit rechnen muss, vom Storch das Essen in einer für ihn – den Fuchs – analog ungeeigneten Weise vorgesetzt zu bekommen, wie dies bei der Gegeneinladung ja auch geschieht, als der Storch seinem Gast Fleischstücke „in Krügen eingepreßt“ serviert, in „langhalsigen und engen“.

Nach Hoche darf man bei der Anwendung der Goldenen Regel nicht die Frage stellen: „Wie würde ich, mit all meinen Eigenschaften, an seiner Stelle behandelt werden wollen?“, sondern man muss sich fragen: „Wie würde ich, mit all seinen Eigenschaften, an seiner Stelle behandelt werden wollen?“ (Die Goldene Regel. Neue Aspekte eines alten Moralprinzips, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 32, 1978, S. 361). Man muss mithin eingedenk dieser Eigenschaften und ausgehend vom konkreten Sachverhalt auf allgemeine Eignungsbedingungen abstrahieren.

Es kommt dabei darauf an, sich in den Anderen hineinzuversetzen und sich vorzustellen, wie es wäre, bestimmte Eigenschaften des Anderen zu haben oder eigene Eigenschaften nicht zu haben und wie dann zu handeln wäre. Der Fuchs müsste sich im Rahmen eines solchen Einfühlungsaktes also vorstellen, wie er die Suppe gerne vorgesetzt bekäme, wenn er – wie der Storch – einen langen Schnabel hätte, der Storch, wie er – als schnabelloser Fuchs – gerne seinen Braten serviert bekäme. Somit ist eine Gleichförmigkeit der menschlichen Natur nicht Voraussetzung für die Goldene Regel. Das Faktum des Kulturpluralismus hemmt mithin nicht ihre Anwendbarkeit, wenn man bereit ist, einen solchen Einfühlungsakt zu vollziehen.

Ein letzter Einwand führt uns die Probleme der Goldenen Regel im Dialog um Werte und Normen vor Augen: Wenn es so ist, dass ein imaginärer Rollentausch und die Frage „Was sagst du hier und jetzt über einen hypothetischen Fall, in dem du in der Lage des Betroffenen bist?“ als ein Testverfahren – der so genannte „Goldene-Regel-Test“ nach Hare – dienen kann, welches ein moralisches Prinzip auf „Goldene-Regel-Tauglichkeit“ zu überprüfen imstande ist, dann ergebe sich, so Hare, ein Problem mit dem Fanatiker. Hare benutzt das Beispiel des Nazis, dessen Hass auf Juden so groß ist, dass er für den Fall, dass er Jude wäre, seine Ermordung fordern würde (Freiheit und Vernunft. Frankfurt a.M. 1963, S. 192). Damit erfülle der Nazi die Testbedingung, seine Haltung kann aber keineswegs als vernünftiges moralisches Prinzip gelten. Dem Problem des Fanatismus’ sei nur durch eine Erweiterung des Konzepts der Goldenen Regel beizukommen, der Gestalt, dass ethische Entscheidungen auf Grund der Goldenen Regel so zu treffen sind, dass sie im Allgemeinen die besten Ergebnisse zeitigen (Hares universalistischer Konsequentialismus).

8. Lösungen und Perspektiven

Gegen das Fanatismus-Problem lässt sich jedoch einwenden, dass der Fanatiker die Goldene Regel tatsächlich gar nicht anwendet, weil er bereits beim Einfühlungsakt scheitern muss, da er sich den Anderen nicht mit dessen existierenden Eigenschaften, sondern mit den von ihm, dem Fanatiker, projizierten Eigenschaften vorstellt. Zwar versetzen wir uns immer aus unserer Perspektive in den Anderen hinein (wie es im epistemischen Diskurs keinen „view from nowhere“ gibt, so gibt es ihn eben auch nicht im ethischen Diskurs), so dass empathische Identifikation nie vollkommen gelingen kann. Doch beim Fanatiker misslingt sie quasi a priori und systematisch. Das Fanatismus-Problem ist vor diesem Hintergrund in bezug auf die Goldene Regel ein Scheinproblem.

Das entscheidende Moment der Goldenen Regel ist ihre Praktikabilität. Dass sie in der Praxis funktioniert, zeigt schon ihre Überlegenheit gegenüber filigraneren, aber letztlich theoretisch bleibenden Konzeptionen der Ethik, die versuchen, jeder soziopathischen Ausnahme entgegenzutreten. Das halte ich für den falschen Weg.

Helmut F. Kaplan führt zu der spitzfindigen Kritik gegen die Goldene Regel aus: „Das heißt selbstverständlich nicht, daß sich bei der Anwendung der Goldenen Regel keine Probleme ergeben können. Natürlich kann es auch hier, wie dies beim moralisch motivierten Handeln oft der Fall ist, zu lebhaften Diskussionen, unterschiedlichen Interpretationen und schmerzlichen Konflikten kommen. Aber: 1) Dies gilt für alle moralischen Prinzipien, die hinreichend einfach sind, um praktikabel zu sein. 2) Dies ändert nichts daran, daß die Goldene Regel in den meisten real vorkommenden Situationen ganz ausgezeichnet funktioniert. 3) Eine einfache Regel, die in der Praxis meistens funktioniert, ist unendlich wertvoller als eine Ethik, die vielleicht theoretisch immer funktioniert (das heißt alle denkbaren Fälle abdeckt), die aber dafür so kompliziert und unverständlich ist, daß sie von niemandem verstanden und daher auch von niemandem praktiziert wird. 4) Die meisten Probleme bei der Anwendung der Goldenen Regel treten – wie bei anderen moralischen Prinzipien auch – dann auf, wenn sich die Betroffenen absichtlich dumm stellen, daß heißt, wenn sie sie mißverstehen wollen. 5) Ich selbst habe im konkreten zwischenmenschlichen Umgang noch niemals erlebt, daß die ehrliche und ernsthafte Anwendung der Goldenen Regel nicht möglich gewesen wäre oder zu einem Ergebnis geführt hätte, das ihrem Geist widersprochen hätte.“ Im Ergebnis bedeutet dies nach Kaplan: „Wenn alle Menschen die Goldene Regel konsequent anwenden würden, wären mit einem Schlag 99 Prozent aller Übel, die sich durch moralisches Handeln beseitigen lassen, beseitigt.“ (Gibt es eine ethische Weltformel?, in: Aufklärung & Kritik 2, 2004, S. 226). Und 99 Prozent – das wäre doch schon was.

Universalistisch verstanden und mit Klugheit und gutem Willen angewendet ist die Goldene Regel also ein geeignetes ethisches Prinzip, die globale Geltung grundlegender Werte zu erweisen und deren faktische Verbreitung zu befördern. Die Goldene Regel kann im 21. Jahrhundert Spielregel eines interkulturellen Dialogs sein, der zu einem prinzipiellen Konsens im Streit um Werte und Normen führt. Von besonderer Bedeutung ist dies im Zusammenhang mit dem Diskurs um die Würde und Rechte des Menschen.

9. Selbstverständlichkeit und Motivation

Die Goldene Regel verweist jenseits des scharfen akademisch-theoretischen Letzbegründungsdiskurses mit einer gewissen Selbstverständlichkeit auf etwas, das tief ins uns liegt. Sie ist eine Erinnerung an ein in unserer Natur verankertes moralisches Prinzip, dessen phänomenologischer und ontologischer Ausdruck in unterschiedlichen weltanschaulichen Traditionen unterschiedlich benannt wird. Hinsichtlich Ursache (Gott oder Gen), Phänomen (Neigung oder Trieb) und Instanz (Gewissen als Stimme Gottes, als Nachhall der Schöpfung, oder als biologisches Programm, als Ergebnis der Evolution) des inhärenten moralischen Impetus mag es Unterschiede geben, doch spielen diese für die Praxis der Verständigung keine Rolle. Ob wir mit der Goldenen Regel eine Neigung aus göttlicher Gnade oder eine sozialer Instinkt als biologischer Trieb auf Basis unserer kooperativen Gene aktualisieren, ist letztlich egal – fest steht: unsere Natur enthält etwas, aus dem sich die Goldene Regel direkt ableiten lässt. Ob menschliche Natur dabei die natura humana Thomas von Aquins meint, in die Gott das Prinzip der Moral eingestiftet hat, oder die Kausalitäten der Molekularbiologie unseres Körpers, die in den „evolutionären“ Ansätzen zentriert wird, ist zweitrangig. Zwar werden die Differenzen in der Debatte um die anthropologischen Voraussetzungen nicht behoben (Menschenwürde setzt ein Verständnis von „Würde“ voraus, aber eben auch ein Verständnis vom „Menschen“), doch trotzdem kann in vielen Anwendungsfragen der Graben von Genesis und Geltung überwunden werden, nicht nur durch die universale Genesis der Goldenen Regel, die eine universale Geltung nahe legt, sondern auch durch die Universalität der menschlichen Natur, auf die die Goldene Regel implizit verweist.

Damit ist auch geklärt, warum man sich an die Goldene Regel halten sollte. Das Problem der Motivation, das Schopenhauer gegen Kants Kategorischen Imperativ, der in seiner universalistischen Ausrichtung ähnlich liegt wie die Goldene Regel, löst sich insoweit, als das, worauf die Motivation zielt, nämlich die Einhaltung der Goldenen Regel, so eng mit uns als Personen verbunden ist, die mit dem im Einklang sein möchten, was sie im Innersten als wahr und gut erkannt haben. Auch, wenn „wahr“ und „gut“ keine allgemein anerkannten Begriffe des expliziten Redens über Moral mehr sind, bleibt es bei der starken Intuition, die grundlegend ist für das Gefühl von Integrität. Wenn also die Goldene Regel uns „ins Herz geschrieben“ (Luther) ist, können wir dann anders, als sie befolgen wollen? Fallen dann nicht das Streben nach Glück und die Neigung zum Gute in eins? Liegt in diesem Moment der Goldenen Regel als Hinweis auf uns selbst nicht zugleich die Bestandsgarantie unserer selbst? Ginge nicht in uns etwas zu Bruch, verstießen wir gegen sie? Sind Schamgefühl und das sprichwörtliche „schlechte Gewissen“ nicht deutliche Indizien dafür, dass wir eigentlich nicht gegen die Goldene Regel verstoßen können, wenn wir glücklich sein wollen? Wir damit nicht gerade das begründet, was in der griechischen Philosophie der Antike selbstverständlich war und uns mit Kant verloren ging: die Einheit von Güte und Glück? „Gutsein“ und „Glücklichsein“ – in der griechischen Antike war die Unterscheidung der beiden Begriffe überhaupt kein Gegenstand. „Gutsein“ als Gesamtheit tugendhafter Lebensvollzüge und „Glücklichsein“ als Gefühlskomponente fielen zusammen. Auf die Frage „Geht es Dir gut?“ antwortete man „Ja, ich handle gut.“ Es geht mir gut, wenn ich gut handle! Mit anderen Worten erwächst aus gutem Handeln Glück. Es gilt: Ich bin glücklich, wenn ich gut bin. Daran erinnert die Goldene Regel.

10. Aufruf – statt eines Fazits

Am Ende bleibt die Frage, ob wir es wagen wollen, was uns die Goldene Regel gebietet: „Behandele jedermann so, wie du selbst an seiner Stelle wünschtest behandelt zu werden.“ Denn trotz aller Vorzüge, trotz der Motive, trotz allem – wir können uns auch dagegen entscheiden. Unsere Freiheit lässt uns diese Möglichkeit. Das theoretische Zerreden von an und für sich selbstverständlichen Dingen gehört mit dazu. Mit der Erinnerung an die Kraft der Goldene Regel möchte ich dafür plädieren, ernst zu machen mit ihrer Anwendung – im Alltag, im Diskurs. Universalität ist möglich, eine Universalität, die nicht in Gleichmacherei mündet, sondern zur Einheit führt – zur Einheit in Vielfalt.

(Josef Bordat)

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