Der Diskurs über den Missbrauch

12. Januar 2013


Vorab: Es geht mir nicht darum, den Finger auf Schulleiter, Moderatoren, Filmregisseure und Schauspieler zu richten und zu sagen: Aha, es gibt auch Missbrauchstäter außerhalb der Kirche! Das sollte ohnehin klar sein. Es geht mir auch nicht darum, durch das Betrachten anderer Fälle die „eigene“ Schuld zu relativieren. Nein, darum geht es mir nicht.

Was mich interessiert, ist der Diskurs. Zum Beispiel folgende Frage: Wie wird eine Meldung rezipiert, in der über einen Mann berichtet wird, der in mutmaßlich 214 Fällen zum Missbrauchstäter wurde? Die Rede ist von BBC- Moderator Jimmy Savile, über dessen Fall Tagesschau.de berichtet.

Zunächst: Die Meldung wird wesentlich weniger oft kommentiert als eine vergleichbare Meldung, in der es um Priester als Missbrauchstäter geht. Während bei Meldungen zu letzteren auch ohne großen Neuigkeitsgehalt regelmäßig mehr als 100 Kommentare eingehen, muss die Redaktion hier nach 20 Kommentaren die Arena schließen. Das ist durchaus typisch: Meldung über (durchaus ganz konkrete) Missbrauchsfälle in nicht-kirchlichem Kontext zeitigen nur einen Bruchteil der Rückmeldungen im Vergleich zu Meldungen über „irgendwas mit Missbrauch“, wenn es zugleich „irgendwas mit Kirche“ ist.

Das Schema der Diskussion ist folgendes: Zunächst wird Savile als Person in Schutz genommen. Der erste Kommentar äußert die Vermutung, hier werde „versucht mit der methode kinder missbrauch einen jornalisten fertig zu machen“, denn die Tatsache, dass er, Savile, sich „wirklich so lange verstecken“ konnte (gemeint ist, dass seine Taten unentdeckt blieben bzw. nicht angezeigt wurden), mit Vertuschung zu erklären, dafür reicht entweder die Phantasie nicht aus oder die Dogmatik spricht dagegen: „War ,Vertuschung‘ nicht irgendwas mit Kirche?“ Eben. Und zwar: nur mit Kirche! Außerhalb derer gibt es Einzeltäter, die in den transparenten Organisationen der säkularen Moderne gleich am Morgen nach der Tat gestellt, verhaftet und verurteilt werden. Also – Logikfans aufgepasst – kann Savile keine Kinder missbraucht haben, denn sonst wäre es längst angezeigt worden. Schließlich ist Savile kein katholischer Priester.*

Als dann im zweiten Kommentar die offen zu Tage tretende Doppelmoral angesprochen wird, hagelt es heftige Gegenreden, die diesen Denkanstoß als unangemessen, die Tatsachen verdrehend und (ein bisschen Moralin hilft immer) „geschmacklos“ brandmarken. Wer wird nun noch wagen, etwas Negatives über die BBC oder etwas Positives über die Kirche zu schreiben?! Der Diskursrahmen ist gezogen, die Sagbarkeitsregeln aufgestellt. Man verbittet sich jede „Apologetik für die Kirche“. Punkt. Schließlich läge der Fall dort ganz anders: es sei vertuscht worden (bei der BBC nicht), es werde nicht aufgeklärt (bei der BBC wohl) und es seien mehrere Täter (Savile hingegen Einzeltäter). Nebeneffekt: Von nun an kann wieder über Missbrauch in der Kirche gesprochen werden (was dann auch geschieht), das Reframing des Diskurses ist gelungen. Gerade noch mal gut gegangen. Puh.

Das alles ist diskurstheoretisch schon interessant genug – und eigentlich könnte ich jetzt ins Wochenende gehen. Doch lassen Sie mich noch ein, zwei Sätze zur Sache sagen.

Man muss kein Archivar sein, um auf Tagesschau.de mühelos eine „Chronik des BBC-Skandals“ zu recherchieren (der Link steht unter dem Ausgangsartikel), in der man folgendes lesen kann:

„29. Oktober 2011: Der langjährige Moderator im BBC-Kinderprogramm, Jimmy Savile, stirbt im Alter von 84 Jahren.

Dezember 2011: Die BBC zieht eine Sendung des investigativen Magazins ,Newsnight‘ noch vor der Ausstrahlung zurück, die aufgedeckt hätte, dass Savile sich des Kindesmissbrauchs schuldig gemacht hat. Stattdessen wird Savile im BBC-Programm als Wohltäter gefeiert.“

Keine Vertuschung? Unbändiger Wille zur Aufklärung?

Im Spiegel (nicht unbedingt ein Blatt, dass in Verdacht steht, nur um der „Apologetik für die Kirche“ willen zu existieren), kann man am 24. Oktober 2012 folgendes lesen: „Sie [die Briten, J.B.] sind erschüttert, weil es Gerüchte gab, die niemand versuchte zu erhärten. Es blieb bei einem Raunen. In Artikeln, die lange vor Saviles Tod erschienen sind, finden sich Andeutungen, Wortspiele. Fragen werden aufgeworfen, doch ganz offenbar hat sie niemand beantwortet. […] Mindestens genauso erschreckend wie die Tatsache, dass es den Missbrauch durch Savile in offenbar großem Umfang gegeben hat, ist für die Briten die Tatsache, dass ausgerechnet die BBC es war, die Wards Worte ein Jahr lang unter Verschluss hielt [Hervorhebung von mir. – Karin Ward ist eines der Opfer; sie sprach gegenüber ,Newsnight‘ über den Missbrauch, der ihr als damals 14jährige widerfuhr, J.B.] . Der im November 2011 gedrehte Beitrag wurde erst jetzt ausgestrahlt – nachdem der private Sender ITV am 3. Oktober ein Stück über den Pädophilen Savile gesendet hatte. In einem Beitrag arbeitete in dieser Woche nun das BBC-Format ,Panorama‘ die Versäumnisse innerhalb des Senders auf – und zeigte das bislang zurückgehaltene Material aus dem November 2011. Es ist, als habe die BBC, indem sie den eigenen Beitrag stoppte, Savile postum ein weiteres Mal gewähren lassen. Als habe sie ein weiteres Mal weggeschaut, belastende Informationen gar zurückgehalten, um sich nicht der eigenen Geschichte zu stellen.“

Auch zu diesem Artikel liegen interessanterweise nur 20 Kommentare vor – ginge es nicht um die BBC, die „ein weiteres Mal weggeschaut, belastende Informationen gar zurückgehalten“ habe, um sich „nicht der eigenen Geschichte zu stellen“, sondern um eine Klosterschule der Benediktiner, wären es leicht und locker 200 geworden. Und auch hier findet man Beiträge, die das in Worten nicht zu beschreibende Verhalten Saviles mit einem Seitenblick auf „die Zeit, die Umstände und allgemein die Haltung der Gesellschaft“ erklären. Und, hey: „[I]n dieser Szene [war] der Sex mit Groupies völlig normal“. So, what?! Motto: Bloß keine Aufregung – Savile ist kein Priester!*

Weiter in der Chronologie:

„23. Oktober 2012: [BBC-Chef, J.B.] Entwistle muss die Situation vor britischen Abgeordneten erklären und gibt ein ,Problem der internen Kultur des BBC‘ zu, das Saviles Verhalten ermöglicht habe. Der BBC teilt mit, Vorwürfe gegen neun weitere Mitarbeiter wegen sexueller Belästigung und Missbrauchs zu untersuchen.“

Nur ein Einzeltäter? Keine systematische Mitwirkung?

„25. Oktober 2012: Die Londoner Polizei spricht von 300 möglichen Opfern, die Savile und Verbündete zu verantworten hätten.“ (Hervorhebung durch J.B.)

„Und Verbündete“.

Um wen könnte es sich gehandelt haben? Um die, die wegschauten, schwiegen, Berichte unterdrückten? Um andere Missbrauchstäter? Wir ziehen einen ntv-Bericht vom 15. November 2012 hinzu, in dem es über die „BBC-Missbrauchsaffäre“ heißt: „Die Taten sollen zum Teil auf dem Sendergelände der britischen BBC geschehen sein. Scotland Yard teilte zudem mit, man habe einen weiteren Verdächtigen im Missbrauchsskandal festgenommen. Es handle sich dabei um einen Mann um die 60. Es ist die vierte Festnahme in dem Fall. Zuvor waren bereits der 69 Jahre alte TV-Comedian Freddie Starr, der 68-jährigeRocker Gary Glitter sowie ein weiterer Mann festgenommen und von der Polizei befragt worden.“

Fünf? Gar neun? Neun „Einzeltäter“?

Zum Schluss noch dies:

„11. November 2012: Der Vorsitzende des obersten Aufsichtsgremiums des Senders, Lord Chris Patten, kündigte eine ,gründliche, radikale und strukturelle Reform‘ der BBC an.“

Gut so! Doch wäre eine „gründliche, radikale und strukturelle Reform“ der BBC im Kontext von Missbrauchsfällen nötig, wenn die Täter tatsächlich „Einzeltäter“ gewesen wären und die BBC keinerlei Schuld träfe, im Hinblick auf Vertuschung und so? Hm?

Das alles bekommt man in zehn Minuten recherchiert. Die Frage ist: Warum tut man es nicht? Warum scheint es gar nicht lohnenswert, nähere Informationen einzuholen? Haben sich die Stereotype schon so verfestigt, dass es ganz egal ist, was in Wirklichkeit der Fall ist? Dass die Wahrheit hinter die Stimmung zurückweicht? Dass der Papst an allem Schuld ist und man selbst nur gucken muss, wie man Steuern spart?

Beängstigend.

(Josef Bordat)

* Hier stand zuvor, dass Savile „nicht katholisch“ gewesen ist. Ein aufmerksamer Leser wies mich darauf hin, dass Savile doch katholisch war. Aber Priester war er wohl nicht – just for the state of the argument!

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