4 Millionen für 5 Tage

1. August 2013


Oder: Was kostet der Mensch?

Der Tagesschau entnehme ich, dass ein Student in den USA, der fünf Tage lang ohne Essen und Wasser im Gefängnis saß, weil er dort schlicht vergessen wurde, 4,1 Millionen US-Dollar Schadenersatz zugesprochen bekam. Mein erster Gedanke: Jetzt hat er ausgesorgt! Mein zweiter: Sein Leben ist zerstört!

Beides ist wohl nicht von der Hand zu weisen: Finanziell sollten sich seine Sorgen in Zukunft auf die Wahl der richtigen Anlageform beschränken. Denn schon eine 2-Prozent-Verzinsung sicherte ihm ein Jahreseinkommen von 82.000 US-Dollar – ohne das Kapital anzurühren. Psychologisch wird er noch lange auf Hilfe angewiesen sein – ob er jemals zu einer „normalen“ Lebensführung wird zurückkehren können, ist fraglich. Zum Leben gehört ein grundsätzliches Vertrauen in den Mitmenschen. Dieses dürfte nachhaltig erschüttert sein.

Man kann die Sache also von zwei Seiten sehen. Welche wird dem Menschen gerecht? Oder zumindest: gerechter? Ist es überhaupt möglich, ein Menschenleben mit Geld aufzuwiegen, also die verlorengegangene Lebensqualität zu „entschädigen“? Nun, es wird – wie dieses und andere Urteile zeigen – tatsächlich getan. Auch Versicherungen und der behördliche Katastrophenschutz müssen mit Personenschäden kalkulieren. Was aber kostet der Mensch?

Wenn der „Preis“ des Menschen bestimmen wird, reden wir nie über einen konkreten Menschen mit Gesicht und Biographie. Wir sprechen vom „Wert eines statistischen Lebens“ (WSL). Wir rechnen also nicht – um mit Kant zu sprechen – den homo phaenomenon oder den homo noumenon ab, sondern bilden einen „homo statisticon“, der abstrakt genug ist, um die Pietät zu wahren, der jedoch konkret genug ist, um mit ihm kalkulieren zu können, etwa die Maximalkosten einer Schutzmaßnahme.

Die Preise für den WSL sind sowohl hinsichtlich des jeweils angewandten Verfahrens als auch in Bezug auf die Untersuchungsregion und die sozialen Merkmale der zugrundeliegenden konkreten Menschenleben höchst unterschiedlich. Hannes Spengler nennt in seiner Studie Kompensatorische Lohndifferentiale und der Wert eines statistischen Lebens in Deutschland einen WSL-Mittelwert von 4,5 Millionen Euro für Deutschland und für die USA von 7 Millionen Euro. Zugleich berechnet er selbst einen Mittelwert von 1,65 Millionen Euro für einen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und weist auf einen Unterschied bezüglich des Geschlechts hin: bei einem Mann beträgt der WSL 1,72 Millionen Euro, für eine Frau von 1,43 Millionen Euro – sowohl die Einkommensdifferenzen als auch die höhere Risikoaversion weiblicher Arbeitnehmer wirkt sich hier auf den je unterschiedlichen WSL aus. Auch die Hautfarbe kann zu Unterschieden führen, wie eine US-Studie mit dem Titel Racial Differences in Labor Market. Values of a Statistical Life (2003) offenbart, die das Leben eines weißen Arbeitnehmers doppelt so hoch bewertet wie das eines schwarzen Arbeitnehmers. Noch größere Differenzen zeigen sich in Umfragen, die auf die Zahlungsbereitschaft von Menschen abheben, tödliche Risiken von der Gemeinschaft abzuwenden, von denen sie nur mit einer bestimmten, sehr geringen Wahrscheinlichkeit selbst betroffen wären, oder die ganz konkret danach fragen, wie viel einem Menschen die Aufopferung eines Lebensjahres wert wäre bzw. umgekehrt, wie viel Lebenszeit sie für 1 Million Euro hergeben würden. Andrea M. Leiter, Magdalena Thöni und Hannes Winner analysieren in Der „Wert“ des Menschen. Eine ökonomische Betrachtung (2010) fünf verschiedene WSL-Studien aus dem Zeitraum von 1986 bis 2007 und ermitteln so Werte zwischen 1,7 und 7,4 Millionen Euro; sie selbst kommen auf der Basis von Schmerzensgeldzahlungen auf durchschnittlich 1,7 Millionen Euro, bei einem Minimum von 0,6 und einem Maximum von 5,3 Millionen Euro. Sie summieren dabei die zugesprochenen Entschädigungen für den Verlust von Gliedmaßen und Organen auf, bis hin zu einem funktionsfähigen Körper. Noch einen Schritt weiter in Richtung einer rein materialistischen Bewertung geht eine Analyse der Einzelpreise menschlicher Körpersubstanzen auf der molekularen Ebene. Der Biochemiker Harold J. Morowitz berechnet für den durchschnittlichen Menschen von 75 Kilo und knapp 25 Kilo Trockenmasse einschließlich wertvoller Enzyme und Peptide einen Katalogpreis von 6 Millionen Dollar. Was kostet der Mensch? Die Antworten fallen unterschiedlich aus.

Abgesehen davon: Ist das, was da verpreist wird, tatsächlich der Mensch, und sei es auch nur der „statistische Mensch“ (falls dieser Ansatz denn überzeugt)? Können, ja, dürfen wir überhaupt so rechnen, den „Wert“ eines Menschen beziffern? Gilt nicht: Jeder Mensch ist unendlich wertvoll? Nun, mit „unendlich“ lässt sich schlecht kalkulieren und in Zeiten knapper Ressourcen müssen Entscheidungen getroffen werden: Baut man den Lawinenschutz eher in Dorf A, wo 30 Menschen leben und eine barocke Kirche steht, oder in Dorf B, wo 33 Menschen leben und eine Waschbetonturnhalle aus den 1970er Jahren? Dennoch: Der Mensch – jeder der drei „zusätzlichen“ Menschen – hat einen Wert, der in Geld nicht ausgedrückt werden kann, eigentlich.

Das meint zumindest Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Er spricht dem Menschen „einen innern Wert, d. i. Würde“ zu, was zugleich seine Verpreisung ausschließt, denn: „Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“ So wie der Mensch. Denn: Welches Äquivalent gäbe es wohl für einen Menschen? Unser deutsches Grundgesetz nimmt den Würdebegriff an prominenter Stelle auf (gleich zu Beginn nämlich) und deutet ihn im Anschluss an Kants Humanitas-Formel des Kategorischen Imperativ („Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“): Die Würde des Menschen ist demnach verletzt, „wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird“ (Dürigsche Objektformel). Und ist nicht „3 Millionen Euro“ (um mal einen Preis zu nennen) gerade eine solche „vertretbare Größe“?

Andererseits: Was nützte es dem bedauernswerten jungen Mann, wenn ihm gesagt würde: „Wir können Ihnen nichts zahlen, denn mit Geld lässt sich Ihr Leid ohnehin nicht aufwiegen! Machen Sie sich nichts daraus und denken Sie daran: Sie sind unendlich wertvoll!“ Wäre das wirklich ein Trost, der dem Menschen gerechter würde? Ich denke nicht. Wir sollten aber immer bedenken, dass wir mit noch so genauen und gut gemeinten Bewertungsverfahren nie wirklich den Menschen in seinem Wesen treffen können. Ich möchte es schließlich mit einer Anekdote um den Wiener Kabarettisten Georg Franz Kreisler sagen, der sich in den 1950er Jahren vom Institut für Gerichtsmedizin in Wien errechnen ließ, wie hoch der Materialwert eines Menschen sei. Das Institut kam damals auf eine Summe von 40 Schilling, schloss aber seine Antwort mit folgender Bemerkung: „In diesen Zahlenangaben sind die Herstellungskosten des Menschen nicht enthalten.“

(Josef Bordat)

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